Tibor hat geschrieben:Die Erfassung eines psychischen Geschlechts (bevorstehende operative Geschlechtsumwandlung) wird zwar für konsequent gehalten (Maunz/Dürig/Langenfeld, Art. 3 Abs. 2 Rn. 24 <-- darauf wird in Art. 3 Abs. 3 Rn. 42 verwiesen). Dies dürfte aber nicht überwiegende oder gar einhellige Auffassung sein. Leibholz/Rinck/Hesselberger, Art. 3 Rn. 3053 spricht eindeutig vom biologischen Geschlechtsunterschied. Wenn Sachs/Osterloh/Nußberger, Art. 3 Rn. 242 vom relativ eindeutigen und universellen Unterscheidungsmerkmal des Geschlechts sprechen, haben sie ersichtlich auch das biologische Geschlecht im Sinn. In deren weiterer Kommentierung (Rn. 272 ff) kann ich jedenfalls nicht erkennen, dass nicht das biologische Geschlecht gemeint sei, denn dort wird mehrfall der biologische Unterschied zwischen Mann und Frau als untaugliches Unterscheidungsmerkmal bemüht.
Die Kommentierungen zu Art. 3 Abs. 3 GG sind leider überwiegend ziemlich mäßig und erkennbar darauf angelegt, diese rechtlich revolutionäre Norm möglichst eng zu führen. Hat die Vorschrift doch das Potential, alle (vermeintlich berechtigten) traditionellen Gruppenprivilegien und -diskriminierungen in Frage zu stellen und damit die Rechte des Indivuums gegen Vereinnahmung zu schützen. Von Art. 3 Abs. 3 GG geschützt wird insbesondere auch das Recht "anders" zu sein als die Mehrheit der Angehörigen einer Merkmalskategorie. Das passt nicht gut ins Bild der traditionell eher kollektivistisch orientierten deutschen Staatsrechtslehre. Daher ging eigentlich jede erweiternde Auslegung der Vorschrift letztlich vom BVerfG aus. Das BVerfG ist nicht der herrschenden Lehre gefolgt, sondern das BVerfG ist vorangegangenen und die Kommentatoren folgten dem mehr oder weniger unwillig. Meine Ausführungen bezogen sich daher auf das BVerfG und die konstruktivistische Rechtstheorie.
Auch eine einfache historische Auslegung dürfte deiner Einschätzung widersprechen. Die angeführten Merkmale als unzulässige Anknüpfungspunkte stehen wohl in Verfassungstraditionen; jedenfalls dürfte 1949 ein klares Weltbild dazu bestanden haben, was Rasse, Herkunft oder Geschlecht bedeutet.
Natürlich hat das seinerzeit bestanden - und es besteht wohl auch heute noch mehrheitlich in der Bevölkerung. Aber genau daraus gewinnt Art. 3 Abs. 3 GG einen Großteil seiner Bedeutung. Von Art. 3 Abs. 3 GG geschützt wird insbesondere auch das Recht "anders" zu sein als es die Mehrheit der Bevölkerung es gerne hätte oder gerne glauben möchte. Ja,
"die Vulnerabilität von Menschen, deren geschlechtliche Identität weder Frau noch Mann ist, ist in einer überwiegend nach binärem Geschlechtsmuster agierenden Gesellschaft sogar besonders hoch", wie das BVerfG in der aktuellen Entscheidung zutreffend ausführt.
Im Übrigen hat das BVerfG bereits in der Soraya-Entscheidung alles Entscheidende zu einem zeitgemäßen Normenverständnis gesagt:
"Die Auslegung einer Gesetzesnorm kann nicht immer auf die Dauer bei dem ihr zu ihrer Entstehungszeit beigelegten Sinn stehenbleiben. Es ist zu berücksichtigen, welche vernünftige Funktion sie im Zeitpunkt der Anwendung haben kann. Die Norm steht ständig im Kontext der sozialen Verhältnisse und der gesellschaftlich-politischen Anschauungen, auf die sie wirken soll; ihr Inhalt kann und muß sich unter Umständen mit ihnen wandeln. Das gilt besonders, wenn sich zwischen Entstehung und Anwendung eines Gesetzes die Lebensverhältnisse und Rechtsanschauungen so tiefgreifend geändert haben wie in diesem Jahrhundert."
Heute wissen wir über GeschlechterIdentitäten und ihre Entwicklung unendlich viel mehr als in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts. Dem wurde vom Bundesverfassungsgericht Rechnung getragen.