Das Problem an der Rechtsprechung des EGMR ist m.E. allgemein - d.h. nicht nur auf diesem Gebiet -, dass sie in weitem und inzwischen auch problematischen Umfang demokratische Handlungsspielräume verkürzt und teilweise sogar in Situationen einmündet, bei denen die Politik gar keine Möglichkeit mehr hat, angemessen zu reagieren - teilweise auch im Hinblick auf bestehende grundrechtliche Schutzpflichten.
Wir diskutierten hier auch über einen solchen problematischen Bereich. Du sprichst von einem "reich bestückten Arsenal an Eingriffsmaßnahmen" und das (ebenfalls ausufernde und teilweise kaum mehr handhabbare...) Terrorismusstrafrecht des StGB. Tatsächlich haben wir
aber dennoch bereits heute ein großes Problem, wie man Gefährder effektiv daran hindern kann, entsprechende Straftaten zu begehen. Die stetig wachsende Zahl an Gefährdern - auch über anhaltende Migrationsbewegungen - verschärft dieses Problem. Es ist doch in der Praxis recht einfach: Wenn man diese Personen nicht abschieben und auch nicht präventiv in Gewahrsam nehmen kann (mit Blick auf beides präsentiert sich der EGMR als entscheidende "Hürde"), sind sie eben in der Regel frei; als einzige "Gegenmaßnahme" bleibt, in rechtsstaatlich m.E. sogar noch bedenklicherer Weise die Strafbarkeit immer weiter auszudehnen. Eine Dauerobservation aller betroffenen Personen ist schon heute weder personell zu leisten, noch ist sie geeignet, Straftaten zuverlässig zu verhüten. Das hat gerade die Sicherungsverwahrungskontroverse unter Beweis gestellt.
Der EGMR sollte sich m.E. deshalb hier, aber auch sonst darauf beschränken, in wirklich krassen Fällen einzugreifen, bei denen es nach jedem vernünftigen Verständnis um eine Missachtung von Menschenrechten geht, was auch das ursprüngliche Anliegen der EMRK war, die Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg vor Augen hatte. Das ist nicht nur historisch, sondern auch aufgrund seiner Stellung außerhalb des nationalen Instanzenzuges und der Distanz zum Geschehen geboten. Erst recht gilt das für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes.
Irgendwann stellt sich sonst nämlich auch jenseits konkreter grundrechtlicher Schutzpflichten die Frage, wie weit man die Beschränkung staatlicher (demokratischer) Souveränität im Lichte des Demokratieprinzips akzeptieren kann.
Du hast aber recht, dass es ein wenig glücklicher Weg wäre, die (an sich ebenfalls demokratisch legitimierte) Unterwerfung unter völkerrechtliche Verträge und unter die Rechtsprechung der darin vorgesehenen Gerichte einfach wieder unter Berufung auf Grundrechte oder Art. 20 I, II GG "zurückzunehmen". Insofern hielte ich den Fall tatsächlich auch für wenig geeignet, dem EGMR vonseiten der Gerichte oder Behörden die Gefolgschaft schlicht aufzukündigen. Der Vorbehalt des BVerfG ist m.E. ohnehin - selbst in den klassischen multipolaren Rechtsverhältnissen - eigentlich nicht handhabbar.
Dieser Ball läge dann aber, wie gesagt, insbesondere über Art. 22 EMRK im Feld der Politik. Was Gerichte produzieren, sind keine unveränderlichen, göttlichen Wahrheiten.
Rein praktisch: In Zukunft wird eben jeder Gefährder, der auf der Grundlage von § 58a AufenthG abgeschoben werden soll, auch noch vor den EGMR ziehen und seine aufwendige Abschiebehaft damit
mindestens noch einmal um ein paar Monate verlängern. Und man kann nur hoffen, dass die Norm durch allzu hohe Hürden des EGMR nicht ganz obsolet wird.
Zum Beispiel habe ich Deine Position in anderen Threads so verstanden, dass Dir eine richterliche Zurückhaltung bei der Frage, ob die Bundesrepublik aufgrund gegenläufiger Belange von den Dublin-Regeln abweichen durfte, weniger passen würde. Die Argumentationsstruktur wäre aber dieselbe.
Das halte ich nicht für vergleichbar. Es gab für den Fall - demokratisch gesetzte - Regeln, die eben nicht angewendet wurden. Art. 17 I Dublin III-VO als Ausnahmevorschrift war dafür nicht gedacht (und in Wahrheit wurde davon in der Regel auch gar nicht Gebrauch gemacht). Es hätte aber prinzipiell die Möglichkeit gegeben, die gesetzlichen Grundlagen in den vorgesehenen Verfahrenswegen zu ändern.
Ich bin generell dafür, dem Gesetzgeber einen angemessenen Spielraum zu belassen, unabhängig von meiner eigenen rechtspolitischen Position. Aber es muss dann eben auch der Gesetzgeber handeln - nicht Gerichte oder die Exekutive. Und darauf sollten Gerichte nun wiederum penibelst achten.