Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Staatsrecht, Allgemeines und Besonderes Verwaltungsrecht (Bau-, Kommunal-, Polizei- und Sicherheitsrecht, BImSchG etc.)

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Tibor
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Tibor »

Du meinst, früher war man schlauer?
BVerfGE 36, 1, 14f. hat geschrieben:Der Grundsatz des judical self-restraint, den sich das Bundesverfassungsgericht auferlegt, bedeutet nicht eine Verkürzung oder Abschwächung seiner eben dargelegten Kompetenz, sondern den Verzicht "Politik zu treiben", d.h. in den von der Verfassung geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen. Er zielt also darauf ab, den von der Verfassung für die anderen Verfassungsorgane garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten.
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Urs Blank
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Urs Blank »

Tibor hat geschrieben:Du meinst, früher war man schlauer?
BVerfGE 36, 1, 14f. hat geschrieben:Der Grundsatz des judical self-restraint, den sich das Bundesverfassungsgericht auferlegt, bedeutet nicht eine Verkürzung oder Abschwächung seiner eben dargelegten Kompetenz, sondern den Verzicht "Politik zu treiben", d.h. in den von der Verfassung geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen. Er zielt also darauf ab, den von der Verfassung für die anderen Verfassungsorgane garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten.
Dieser Grundsatz scheint keine Gültigkeit (mehr?) zu haben. Jedenfalls: Es kann doch nicht sein (hier schreibt der Vorstadt-Anwalt ;) ), dass acht Personen (ich formuliere es mal geschlechtsneutral) sich rote Roben anziehen und zwischen Kaffeepause und Mittagstisch ein drittes Geschlecht etablieren. Ein rechtliches Novum, auch im weltweiten Maßstab bislang wohl die absolute Ausnahme (man beachte die internationalen Reaktionen). Da müsste in einer Demokratie zumindest mal diskutiert werden. Und zwar nicht nur in interessierten Kreisen.

Ein drittes Geschlecht mag wünschenswert sein - in diesem Punkt will ich mir gar kein Urteil erlauben. Aber diesen Beschluss empfinde ich als ziemliche Anmaßung des Bundesverfassungsgerichts. Wenn man dann auch noch bedenkt, dass er mit 7:1 Stimmen ergangen ist: In einer solch kontroversen Frage sind die Richter/innen (fast) alle einer Meinung?
Zuletzt geändert von Urs Blank am Mittwoch 8. November 2017, 19:52, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Honigkuchenpferd »

Urs Blank hat geschrieben:dass acht Personen (ich formuliere es mal geschlechtsneutral) sich rote Roben anziehen und zwischen Kaffeepause und Mittagstisch ein drittes Geschlecht etablieren.
Eine Person war offenbar dagegen, hat aber leider kein Sondervotum beigefügt:

Diese Entscheidung ist mit 7:1 Stimmen ergangen.
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Urs Blank
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Urs Blank »

Honigkuchenpferd hat geschrieben:
Urs Blank hat geschrieben:dass acht Personen (ich formuliere es mal geschlechtsneutral) sich rote Roben anziehen und zwischen Kaffeepause und Mittagstisch ein drittes Geschlecht etablieren.
Eine Person war offenbar dagegen, hat aber leider kein Sondervotum beigefügt:

Diese Entscheidung ist mit 7:1 Stimmen ergangen.
Hatte es korrigiert, bevor ich deinen Post gesehen habe...
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Tibor
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Tibor »

Könnte mir gut vorstellen, dass das Schluckebier nicht mehr schlucken äh mittragen wollte.
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Honigkuchenpferd »

Schon komisch, dass man nicht einmal erfährt, wer es denn war...
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Tobias__21 »

Honigkuchenpferd hat geschrieben:Schon komisch, dass man nicht einmal erfährt, wer es denn war...
Wenn man will, kann man ja mal anfragen. IFG und so :)
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Vorkriegsjugend
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Vorkriegsjugend »

Urs Blank hat geschrieben:
Tibor hat geschrieben:Du meinst, früher war man schlauer?
BVerfGE 36, 1, 14f. hat geschrieben:Der Grundsatz des judical self-restraint, den sich das Bundesverfassungsgericht auferlegt, bedeutet nicht eine Verkürzung oder Abschwächung seiner eben dargelegten Kompetenz, sondern den Verzicht "Politik zu treiben", d.h. in den von der Verfassung geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen. Er zielt also darauf ab, den von der Verfassung für die anderen Verfassungsorgane garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten.
Dieser Grundsatz scheint keine Gültigkeit (mehr?) zu haben. Jedenfalls: Es kann doch nicht sein (hier schreibt der Vorstadt-Anwalt ;) ), dass acht Personen (ich formuliere es mal geschlechtsneutral) sich rote Roben anziehen und zwischen Kaffeepause und Mittagstisch ein drittes Geschlecht etablieren. Ein rechtliches Novum, auch im weltweiten Maßstab bislang wohl die absolute Ausnahme (man beachte die internationalen Reaktionen). Da müsste in einer Demokratie zumindest mal diskutiert werden. Und zwar nicht nur in interessierten Kreisen.

Ein drittes Geschlecht mag wünschenswert sein - in diesem Punkt will ich mir gar kein Urteil erlauben. Aber diesen Beschluss empfinde ich als ziemliche Anmaßung des Bundesverfassungsgerichts. Wenn man dann auch noch bedenkt, dass er mit 7:1 Stimmen ergangen ist: In einer solch kontroversen Frage sind die Richter/innen (fast) alle einer Meinung?
Ein gesellschaftlicher Kurs mag bei Themen angebracht sein, die in einem Umbruch der Empfindungen liegen, hier sprechen aber nunmal die biologischen Fakten eine eindeutige Sprache. Es gibt in seltenen Fällen Menschen, die biologisch weder Mann noch Frau sind. Was soll das BVerfG denn zu dem Kläger sagen, der eindeutig keinem der bestehenden Geschlechterkategorien im Personstandswesen angehört? Dass er/sie sich halt eins aussuchen soll? Finde das Urteil sehr nachvollziehbar; gerne könnte man aber auch ganz auf die Geschlechterangabe verzichten, ich sehe darin keinen Wert an sich.
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Tobias__21 »

Vorkriegsjugend hat geschrieben:
Urs Blank hat geschrieben:
Tibor hat geschrieben:Du meinst, früher war man schlauer?
BVerfGE 36, 1, 14f. hat geschrieben:Der Grundsatz des judical self-restraint, den sich das Bundesverfassungsgericht auferlegt, bedeutet nicht eine Verkürzung oder Abschwächung seiner eben dargelegten Kompetenz, sondern den Verzicht "Politik zu treiben", d.h. in den von der Verfassung geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen. Er zielt also darauf ab, den von der Verfassung für die anderen Verfassungsorgane garantierten Raum freier politischer Gestaltung offenzuhalten.
Dieser Grundsatz scheint keine Gültigkeit (mehr?) zu haben. Jedenfalls: Es kann doch nicht sein (hier schreibt der Vorstadt-Anwalt ;) ), dass acht Personen (ich formuliere es mal geschlechtsneutral) sich rote Roben anziehen und zwischen Kaffeepause und Mittagstisch ein drittes Geschlecht etablieren. Ein rechtliches Novum, auch im weltweiten Maßstab bislang wohl die absolute Ausnahme (man beachte die internationalen Reaktionen). Da müsste in einer Demokratie zumindest mal diskutiert werden. Und zwar nicht nur in interessierten Kreisen.

Ein drittes Geschlecht mag wünschenswert sein - in diesem Punkt will ich mir gar kein Urteil erlauben. Aber diesen Beschluss empfinde ich als ziemliche Anmaßung des Bundesverfassungsgerichts. Wenn man dann auch noch bedenkt, dass er mit 7:1 Stimmen ergangen ist: In einer solch kontroversen Frage sind die Richter/innen (fast) alle einer Meinung?
Ein gesellschaftlicher Kurs mag bei Themen angebracht sein, die in einem Umbruch der Empfindungen liegen, hier sprechen aber nunmal die biologischen Fakten eine eindeutige Sprache. Es gibt in seltenen Fällen Menschen, die biologisch weder Mann noch Frau sind. Was soll das BVerfG denn zu dem Kläger sagen, der eindeutig keinem der bestehenden Geschlechterkategorien im Personstandswesen angehört? Dass er/sie sich halt eins aussuchen soll? Finde das Urteil sehr nachvollziehbar; gerne könnte man aber auch ganz auf die Geschlechterangabe verzichten, ich sehe darin keinen Wert an sich.
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Urs Blank
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Urs Blank »

Vorkriegsjugend hat geschrieben:Was soll das BVerfG denn zu dem Kläger sagen, der eindeutig keinem der bestehenden Geschlechterkategorien im Personenstandswesen angehört? Dass er/sie sich halt eins aussuchen soll?
Dass der Gesetzgeber die Regelung zu treffen hat. - Da die Entscheidung aber auf so einhellige Begeisterung trifft, laut "tagesthemen" sogar von der Deutschen Bischofskonferenz und vom Vorsitzenden des Ethikrates begrüßt wird (wenn alle dafür sind - warum hat man das dann nicht längst so geregelt?), gebe ich mein Gemotze hiermit auf.
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Scaevola »

Kleiner Einwand zu einem Nebenpunkt:
1 BvR 2019/16 hat geschrieben:e) Im Koalitionsvertrag für die 18. Legislaturperiode vom 27. November 2013 verpflichteten sich die Koalitionsparteien zur Evaluierung und zum Ausbau der zwischenzeitlich erfolgten personenstandsrechtlichen Änderungen für intergeschlechtliche Menschen sowie dazu, „die besondere Situation von trans- und intersexuellen Menschen in den Fokus“ zu nehmen (vgl. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 18. Legislaturperiode, S. 105). Zu diesem Zweck wurde im September 2014 eine interministerielle Arbeitsgruppe „Intersexualität/Trans-sexualität“ gegründet, deren Abschlussbericht im ersten Halbjahr 2017 vorgelegt werden sollte. Das ist bislang nicht erfolgt (vgl. Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, BTDrucks 18/7310, S. 14).
Ich finde es einigermaßen absurd, dass ausgerechnet das Bundesverfassungsgericht hier von "Verpflichtung" spricht. Schon klar, allgemeiner Sprachgebrauch - aber was hat der bitte an dieser Stelle zu suchen? Zu was haben sich (und wen noch?) "die Koaltionsparteien" denn "verpflichtet"?
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Amtsschimmel »

Ich wollte in meinem ersten Beitrag es erst noch schreiben, habe es mir dann aber doch verkniffen, aber: Das ist für mich eine Kompetenzüberschreitung seitens des Gerichts und keine Rechtsprechung, sondern Gesellschaftspolitik. Bedauerlich, dass das wohl nur einem Richter aufgefallen zu sein scheint?
Vorkriegsjugend hat geschrieben: Ein gesellschaftlicher Kurs mag bei Themen angebracht sein, die in einem Umbruch der Empfindungen liegen, hier sprechen aber nunmal die biologischen Fakten eine eindeutige Sprache. Es gibt in seltenen Fällen Menschen, die biologisch weder Mann noch Frau sind. Was soll das BVerfG denn zu dem Kläger sagen, der eindeutig keinem der bestehenden Geschlechterkategorien im Personstandswesen angehört? Dass er/sie sich halt eins aussuchen soll? Finde das Urteil sehr nachvollziehbar; gerne könnte man aber auch ganz auf die Geschlechterangabe verzichten, ich sehe darin keinen Wert an sich.
Hast du dir die ganze Entscheidung durchgelesen? Mitnichten hat das BVerfG seine Entscheidung an die biologische Existenz eines Geschlechts geknüpft, das weder Mann noch Frau ist (was unzweifelhaft der Fall ist). Es ging dem BVerfG allein um die gefühle Identität, also das soziale Geschlecht, nicht das biologische. Naturwissenschaftliche Erwägungen waren außen vor. Je nachdem, was man dann als "Fakt" ansieht, kann man auch weitere Geschlechter hinzufügen. Zumindest in den Genderwissenschaften und Sozialwissenschaften ist die Ansicht sogar relativ weit verbreitet, dass es mehr soziale Geschlechter gäbe als Mann und Frau. Mit der Argumentation des BVerfG könnte man theoretisch auf die Spitze getrieben die Eintragung "Heute mehr männlich, morgen mehr weiblich" verlangen.

Zur Frage, was das BVerfG dem Kläger sagen soll, ist doch auch schon eine Regelung im Gesetz vorhanden, die aber dem BVerfG nicht ausgereicht hat. Das BVerfG hat zur bisher bestehenden Möglichkeit, "fehlende Angabe" eintragen zu lassen, gesagt: "Dass § 22 Abs. 3 PStG keine dritte Möglichkeit bietet, ein Geschlecht positiv in das Geburtenregister eintragen zu lassen, lässt sich nicht mit Belangen Dritter rechtfertigen." Und das ist gelinde gesagt das Einfallstor für die von mir eben erläuterte Argumentation. Abgesehen davon, dass eine positive Benennung seitens des Gesetzgebers zu genau denselben Konflikten bei der Person führen kann, mit denen das BVerfG die Unzulässigkeit der Negativformulierung begründet.
Scaevola hat geschrieben:Kleiner Einwand zu einem Nebenpunkt:
1 BvR 2019/16 hat geschrieben:e) Im Koalitionsvertrag für die 18. Legislaturperiode vom 27. November 2013 verpflichteten sich die Koalitionsparteien zur Evaluierung und zum Ausbau der zwischenzeitlich erfolgten personenstandsrechtlichen Änderungen für intergeschlechtliche Menschen sowie dazu, „die besondere Situation von trans- und intersexuellen Menschen in den Fokus“ zu nehmen (vgl. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 18. Legislaturperiode, S. 105). Zu diesem Zweck wurde im September 2014 eine interministerielle Arbeitsgruppe „Intersexualität/Trans-sexualität“ gegründet, deren Abschlussbericht im ersten Halbjahr 2017 vorgelegt werden sollte. Das ist bislang nicht erfolgt (vgl. Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, BTDrucks 18/7310, S. 14).
Ich finde es einigermaßen absurd, dass ausgerechnet das Bundesverfassungsgericht hier von "Verpflichtung" spricht. Schon klar, allgemeiner Sprachgebrauch - aber was hat der bitte an dieser Stelle zu suchen? Zu was haben sich (und wen noch?) "die Koaltionsparteien" denn "verpflichtet"?
Interessanter Punkt. Das ist ebenso wenig eine juristische Argumentation, sondern eine klar politische. Aus der Verfassung lässt sich ja keine Pflicht zur Einhaltung irgendwelcher Koalitionsverträge ableiten.

Insgesamt ist dieser Beschluss doch eher ein argumentativer Tiefpunkt. Darüber kann auch Applaus von Kirchen und ähnlichem nicht hinwegtäuschen - wobei ich davon ausgehe, dass das Ganze beim Durchschnittsbürger doch eher entweder Desinteresse oder Kopfschütteln bereitet.
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Tobias__21 »

Ich denke nicht, dass man da Probleme mit 20 verschiedenen gefühlten Geschlechtern bekommen wird und der Gesetzgeber zig neue Begrifflichkeiten schaffen muss. Man hat ja hier eindeutig einen medizinischen Anknüpfungspunkt. Es ist also eine Tatsache, dass Menschen mit diesem speziellen Chromosomensatz weder weiblich noch männlich sind. Und wenn ich das richtig sehe, sieht die Medizin das auch nicht als Krankheit an, bzw. es würde viel zu kurz greifen sich darauf zurückzuziehen, dass hier eine Abweichung von der Norm vorliegt. Diese Menschen werden sicherlich hormonell auch ganz anders eingestellt sein als der typische Mann, die typische Frau, was sich sicher auch auf die Persönlichkeit und biologische Konstitutionen auswirken wird. Ich finde die Entscheidung im Kern richtig. Dass das APR auch die geschlechtliche Identität schützt ist ja ein alter Hut. Und wenn es eben eine dritte Kategorie gibt, dann muss die eben benannt werden. Es muss ja auch eine "Dauerhaftigkeit" vorliegen, also nichts mit morgen so und übermorgen so :). Der Gesetzgeber muss sich jetzt halt einen passenden Begriff ausdenken. "Inter" passt ganz gut, wie ich finde. Mit "anderes" in Abgrenzung zu Mann und Frau wird es sicher nicht getan sein ;)
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Levi »

Amtsschimmel hat geschrieben:
Vorkriegsjugend hat geschrieben: Ein gesellschaftlicher Kurs mag bei Themen angebracht sein, die in einem Umbruch der Empfindungen liegen, hier sprechen aber nunmal die biologischen Fakten eine eindeutige Sprache. Es gibt in seltenen Fällen Menschen, die biologisch weder Mann noch Frau sind. Was soll das BVerfG denn zu dem Kläger sagen, der eindeutig keinem der bestehenden Geschlechterkategorien im Personstandswesen angehört? Dass er/sie sich halt eins aussuchen soll? Finde das Urteil sehr nachvollziehbar; gerne könnte man aber auch ganz auf die Geschlechterangabe verzichten, ich sehe darin keinen Wert an sich.
Hast du dir die ganze Entscheidung durchgelesen? Mitnichten hat das BVerfG seine Entscheidung an die biologische Existenz eines Geschlechts geknüpft, das weder Mann noch Frau ist (was unzweifelhaft der Fall ist). Es ging dem BVerfG allein um die gefühle Identität, also das soziale Geschlecht, nicht das biologische. Naturwissenschaftliche Erwägungen waren außen vor. Je nachdem, was man dann als "Fakt" ansieht, kann man auch weitere Geschlechter hinzufügen. Zumindest in den Genderwissenschaften und Sozialwissenschaften ist die Ansicht sogar relativ weit verbreitet, dass es mehr soziale Geschlechter gäbe als Mann und Frau. Mit der Argumentation des BVerfG könnte man theoretisch auf die Spitze getrieben die Eintragung "Heute mehr männlich, morgen mehr weiblich" verlangen.
Genau so ist es.  :D

Insofern ist auch das Schlagwort vom "Dritten Geschlecht" nicht passend und wird vom BVerfG auch nicht verwendet. Die Richter haben hier kein "drittes Geschlecht" etabliert, sondern lediglich die verfassungsrechtlich konsequenten Folgen daraus gezogen, dass - nach einhelliger Auffassung aller Fachleute - die Annahme, dass das Geschlecht eines Menschen ausschließlich männlich oder weiblich sein könne, weder psychologisch noch biologisch und sexualwissenschaftlich haltbar ist. "Geschlecht" ist vielmehr eine mehrdimensionale Konstruktion, dessen Entwicklung durch das komplexe Zusammenspiel verschiedener körperlicher, psychosozialer und psychosexueller Einflussfaktoren bedingt ist. Menschen "haben" kein Geschlecht, das von einem außenstehenden Dritten bestimmt werden könnte, sondern sie können sich nur selbst einem solchen zugehörig fühlen (oder eben auch nicht). Es gibt auch nicht nur drei Geschlechter (männlich, weiblich, inter), sondern unendlich viele. Namentlich benannt sind heute etwa 25 Geschlechtsidentitäten - aber natürlich gibt es noch viel mehr, die sich im Laufe des Lebens auch noch mehrfach wandeln oder ausschärfen können.

Für den Staat ist diese individuelle Geschlecht eigentlich auch bedeutungslos, da es ohnehin weder unmittelbar noch mittelbar  als Anknüpfungspunkt für DifferenzIerungen im Recht dienen darf. 

Die beste Lösung wäre daher - wie auch vom BVerfG vorgeschlagen - auf eine staatliche Geschlechtszuordnung und Registrierung ganz zu verzichten. Ansonsten müsste man wohl eine künstliche Sammelbezeichnung finden, z. B. "diverse", was die Sache aber auch nicht trifft. Denn der einzelne hat natürlich nicht "diverse" Geschlechteridentitäten, sondern jeweils nur eine. Allerdings kann sich diese im Laufe des Lebens wandeln.

Insgesamt bin ich - wie ich ja auch schon im Meldethread geschrieben habe -, mit dem Urteil sehr zufrieden. Das BVerfG hat - entgegen früheren Äußerungen - die Tatsache anerkannt, dass "Geschlecht" kein mit empirischen Mitteln (also von außen) bestimmbarer materieller Zustand ist, sondern eine ideelle Konstruktion. 
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Einwendungsduschgriff
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Einwendungsduschgriff »

Honigkuchenpferd hat geschrieben:Schon komisch, dass man nicht einmal erfährt, wer es denn war...
Erfährt man doch ohne Sondervotum nie?
Hier gibt's nichts zu lachen, erst recht nichts zu feiern.
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