Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Staatsrecht, Allgemeines und Besonderes Verwaltungsrecht (Bau-, Kommunal-, Polizei- und Sicherheitsrecht, BImSchG etc.)

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Honigkuchenpferd
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Honigkuchenpferd »

Das überzeugt mich auf verschiedenen Ebenen nicht so ganz. Ein "Konflikt" ist es doch auch, wenn Gerichte Gewährleistungen zu bestimmten Gegenpositionen ganz unterschiedlich ins Verhältnis setzen; man ringt dann eben um die Frage, wie diese Gewichtung aussehen sollte. Bei diesen Gegenpositionen kann, muss es sich aber nicht um andere Grund- und Menschenrechte handeln. Man kann allerdings auch durchaus sagen, dass § 58a AufenthG dazu dient, Schutzpflichten zu verwirklichen (und insofern mag es, je nach Fall, sogar einfachrechtlich zu einer Ermessensreduzierung auf Null kommen). Es gibt nun einmal zentrale staatliche Interessen, Personen, die sich als Gefährder erwiesen haben, abzuschieben. Und es ist auch fraglich, was man sonst mit ihnen machen sollte, um die eigenen Schutzpflichten effektiv zu erfüllen. Das ist ein Punkt, an dem man dem EGMR immer wieder eine gewisse Blindheit vorwerfen kann.

Darüber hinaus war beim Beitritt zur EMRK nie beabsichtigt, dass der EGMR in die Rolle einer weiteren Instanz rücken würde, die gewissermaßen über dem BVerfG steht und selbst in Fällen wie diesen Eilrechtsschutz gewährt. Mit seiner ausufernden Rechtsprechung zu Migrationsfragen hat ohnehin kein Mensch rechnen können. Insofern kommt es eben darauf an, dass Gerichte wie der EGMR sich in angemessenem Umfang selbst zügeln - gerade bei Staaten, die ohnehin bereits ein hohes Schutzniveau gewährleisten. Das schließt auch die Frage ein, in welchen Fällen vorläufige Maßnahmen getroffen werden und in welchen man es - auch im Lichte der eingehenden Prüfung durch die nationalen Gerichte - auf sich beruhen lassen sollte. Dass eine Befugnis zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes besteht (die sich hier auch erst in den Untiefen der VerfO findet), heißt ja nicht, dass man beliebig von ihr Gebrauch machen sollte.
Flanke hat geschrieben:Ich sehe in all dem kein Problem, sondern gerade ein Kennzeichen des heute erreichten grundrechtlichen Schutzniveaus in Deutschland und Europa.
Die Frage ist vor allem, wen man da schützt - und wen, oftmals im Gegenzug, nicht. Meiner Meinung nach kann man nur hoffen, dass der EGMR hinreichend berücksichtigen wird, welche zentrale Interessen hier betroffen sind - auch von anderen Bürgern.
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Flanke »

OK, das ist jetzt primär eine Argumentationslinie, die wir in Deutschland (anders als etwa in UK) normalerweise nicht vom Umgang mit dem EGMR, sondern mit dem BVerfG kennen. Ein prominentes Beispiel ist das Sondervotum der damaligen Richterin Haas im Rasterfahndungsbeschluss (BVerfGE 115, 320).

Ehrlich gesagt ist das, soweit es nicht um dogmatische Einzelfragen, sondern um übergreifende Argumentationsansätze geht, aus meiner Sicht ausdiskutiert und für die Einzelfragen nicht fruchtbar. Aus meiner Sicht hilft insbesondere die Forderung nach richterlicher Zurückhaltung kaum weiter. Die wird typischerweise erhoben, wenn einem das konkrete Ergebnis nicht passt, und gerne fallengelassen, wenn es um ein anderes Thema geht. Zum Beispiel habe ich Deine Position in anderen Threads so verstanden, dass Dir eine richterliche Zurückhaltung bei der Frage, ob die Bundesrepublik aufgrund gegenläufiger Belange von den Dublin-Regeln abweichen durfte, weniger passen würde. Die Argumentationsstruktur wäre aber dieselbe.

Ähnlich ist es mit dem "so haben wir uns das nicht vorgestellt"-Argument gegen eine extensive Rechtsprechung des EGMR. Wurde gegen das BVerfG genauso vorgebracht. Man kann natürlich prima Grundsatzfragen der Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit diskutieren, die Diskussion würde ich aber dann nicht auf einen einzelnen Themenkreis begrenzen, sonst wirkt sie auf mich, ehrlich gesagt, wie eine Verschleierungstaktik.

Was schließlich die Forderung nach einer besonderen Zurückhaltung des EGMR gegenüber hochentwickelten Rechtsstaaten angeht, würde ich darauf hinweisen wollen, dass Deutschland wegen seines hochentwickelten Rechtsstaats ja auch nur selten verurteilt wird. Die Verurteilungen, die es gegeben hat, hatten dann aber in der Regel auch gute Gründe für sich. Wer ansonsten ernsthaft eine Extrawurst für Westeuropa fordert, kann gleich verlangen, dass der Laden dicht gemacht wird, denn natürlich wollen dann auch Russland und die Türkei die Extrawurst haben, und man wird sie ihnen kaum versagen können.

Hinsichtlich der Fragen, um die es hier konkret geht, bleibt dann, wenn ich es richtig sehe, das Schutzpflichtenargument übrig. Was man davon allgemein hält, würde ich mal dahinstehen lassen, ich habe mit einer Schutzpflichtperspektive auf Maßnahmen wie die hier in Rede stehende schon im Ausgangspunkt erhebliche Probleme. In jedem Fall wäre aber zu begründen, warum grundrechtliche Schutzpflichten konkret gebieten sollen, dass es § 58a AufenthG gibt und diese Norm in der Weise angewandt wird, wie es die jüngere Verwaltungspraxis mit Billigung der deutschen Rechtsprechung tut. Dass es viele andere rechtliche und faktische Möglichkeiten gibt, mit ausländischen "Gefährdern" im Inland umzugehen, zeigen zwei Blicke auf das reich bestückte Arsenal von Eingriffsmaßnahmen in jedem deutschen Polizeigesetz und auf das Terrorismusstrafrecht des StGB. Wenn man davon ausgeht, dass § 58a AufenthG keine Standardmaßnahme zum Umgang mit irgendwie Verdächtigen sein soll, sondern eine Ultima Ratio für die Schlimmsten der Schlimmen, sehe ich auch keine unüberwindbaren faktischen Schwierigkeiten, diesen Personen gegenüber zumindest bis zu einer Klärung der Rechtslage mit anderen Mitteln zu begegnen.

Schließlich kann es natürlich auch andere Gründe als grundrechtliche Schutzpflichten geben, um Grundrechte einzuschränken. Um von einem Konflikt zwischen EGMR und BVerfG zu sprechen, von dem weiter oben die Rede war, muss es sich dann aber um Gründe von Verfassungsrang und um zwingende Gebote handeln. Das wurde im Zusammenhang mit dreipoligen Grundrechtsverhältnissen (etwa im Presserecht) gleichfalls schon extensiv diskutiert. Solche Gründe sehe ich jenseits der Schutzpflichtargumentation nicht. Welche verfassungsrechtliche Norm jenseits von Art. 19 GG soll gebieten, "Gefährder" abzuschieben?
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Honigkuchenpferd »

Das Problem an der Rechtsprechung des EGMR ist m.E. allgemein - d.h. nicht nur auf diesem Gebiet -, dass sie in weitem und inzwischen auch problematischen Umfang demokratische Handlungsspielräume verkürzt und teilweise sogar in Situationen einmündet, bei denen die Politik gar keine Möglichkeit mehr hat, angemessen zu reagieren - teilweise auch im Hinblick auf bestehende grundrechtliche Schutzpflichten.

Wir diskutierten hier auch über einen solchen problematischen Bereich. Du sprichst von einem "reich bestückten Arsenal an Eingriffsmaßnahmen" und das (ebenfalls ausufernde und teilweise kaum mehr handhabbare...) Terrorismusstrafrecht des StGB. Tatsächlich haben wir aber dennoch bereits heute ein großes Problem, wie man Gefährder effektiv daran hindern kann, entsprechende Straftaten zu begehen. Die stetig wachsende Zahl an Gefährdern - auch über anhaltende Migrationsbewegungen - verschärft dieses Problem. Es ist doch in der Praxis recht einfach: Wenn man diese Personen nicht abschieben und auch nicht präventiv in Gewahrsam nehmen kann (mit Blick auf beides präsentiert sich der EGMR als entscheidende "Hürde"), sind sie eben in der Regel frei; als einzige "Gegenmaßnahme" bleibt, in rechtsstaatlich m.E. sogar noch bedenklicherer Weise die Strafbarkeit immer weiter auszudehnen. Eine Dauerobservation aller betroffenen Personen ist schon heute weder personell zu leisten, noch ist sie geeignet, Straftaten zuverlässig zu verhüten. Das hat gerade die Sicherungsverwahrungskontroverse unter Beweis gestellt.

Der EGMR sollte sich m.E. deshalb hier, aber auch sonst darauf beschränken, in wirklich krassen Fällen einzugreifen, bei denen es nach jedem vernünftigen Verständnis um eine Missachtung von Menschenrechten geht, was auch das ursprüngliche Anliegen der EMRK war, die Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg vor Augen hatte. Das ist nicht nur historisch, sondern auch aufgrund seiner Stellung außerhalb des nationalen Instanzenzuges und der Distanz zum Geschehen geboten. Erst recht gilt das für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes.

Irgendwann stellt sich sonst nämlich auch jenseits konkreter grundrechtlicher Schutzpflichten die Frage, wie weit man die Beschränkung staatlicher (demokratischer) Souveränität im Lichte des Demokratieprinzips akzeptieren kann.

Du hast aber recht, dass es ein wenig glücklicher Weg wäre, die (an sich ebenfalls demokratisch legitimierte) Unterwerfung unter völkerrechtliche Verträge und unter die Rechtsprechung der darin vorgesehenen Gerichte einfach wieder unter Berufung auf Grundrechte oder Art. 20 I, II GG "zurückzunehmen". Insofern hielte ich den Fall tatsächlich auch für wenig geeignet, dem EGMR vonseiten der Gerichte oder Behörden die Gefolgschaft schlicht aufzukündigen. Der Vorbehalt des BVerfG ist m.E. ohnehin - selbst in den klassischen multipolaren Rechtsverhältnissen - eigentlich nicht handhabbar.

Dieser Ball läge dann aber, wie gesagt, insbesondere über Art. 22 EMRK im Feld der Politik. Was Gerichte produzieren, sind keine unveränderlichen, göttlichen Wahrheiten.

Rein praktisch: In Zukunft wird eben jeder Gefährder, der auf der Grundlage von § 58a AufenthG abgeschoben werden soll, auch noch vor den EGMR ziehen und seine aufwendige Abschiebehaft damit mindestens noch einmal um ein paar Monate verlängern. Und man kann nur hoffen, dass die Norm durch allzu hohe Hürden des EGMR nicht ganz obsolet wird.
Zum Beispiel habe ich Deine Position in anderen Threads so verstanden, dass Dir eine richterliche Zurückhaltung bei der Frage, ob die Bundesrepublik aufgrund gegenläufiger Belange von den Dublin-Regeln abweichen durfte, weniger passen würde. Die Argumentationsstruktur wäre aber dieselbe.
Das halte ich nicht für vergleichbar. Es gab für den Fall - demokratisch gesetzte - Regeln, die eben nicht angewendet wurden. Art. 17 I Dublin III-VO als Ausnahmevorschrift war dafür nicht gedacht (und in Wahrheit wurde davon in der Regel auch gar nicht Gebrauch gemacht). Es hätte aber prinzipiell die Möglichkeit gegeben, die gesetzlichen Grundlagen in den vorgesehenen Verfahrenswegen zu ändern.

Ich bin generell dafür, dem Gesetzgeber einen angemessenen Spielraum zu belassen, unabhängig von meiner eigenen rechtspolitischen Position. Aber es muss dann eben auch der Gesetzgeber handeln - nicht Gerichte oder die Exekutive. Und darauf sollten Gerichte nun wiederum penibelst achten.
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Flanke »

Das ist ein Problem von Verfassungsgerichtsbarkeit allgemein, ich bestreite, dass sich dieses Problem für den EGMR mit besonderer Schärfe stellt. Im Vergleich mit der Detailfreude, die das BVerfG in seiner Rechtsprechung zu manchen Regulierungsbereichen an den Tag legt, hält sich der EGMR aus meiner Sicht eher noch ziemlich zurück. Wie gesagt kann man das Grundsatzproblem, wozu Grundrechte eigentlich genau da sind und wie dicht sie auch den Gesetzgeber binden, natürlich unterschiedlich beurteilen. Meine Grundhaltung dazu ist dann vielleicht wirklich eine andere als Deine.

Mit Blick konkret auf § 58a AufenthG stellen sich aber doch noch eine Reihe von etwas punktuelleren Fragen, die man mit Großformeln nicht löst. Dazu ein paar Anmerkungen:

- Über das Terrorismusstrafrecht wird viel geklagt. Ich sehe das etwas anders. Wenn man überhaupt die Präventionsbedürfnisse anerkennt, die hinter dem Ausbau dieser Ordnung stehen, spricht alles dafür, sie im Strafrecht zu verorten. Dort gibt es ein - ab einem gewissen Zeitpunkt - für den Betroffenen transparentes Verfahren, ein leistungsfähiges institutionelles Arrangement mit Checks and Balances, eine faire Hauptverhandlung mit formalisierten Verteidigungsrechten und ein strenges Beweismaß. Präventive Ordnungen wie das Ausländerrecht oder das allgemeine Polizeirecht leisten nichts davon. Wenn man schlagkräftige Eingriffsinstrumente wie etwa eine - von Dir ins Spiel gebrachte - Präventivhaft dort verankert, dann werden schwerwiegende Eingriffe aufgrund mehr oder weniger vager Verdachtsmomente ermöglicht.

- Das leitet zum nächsten Punkt über: Bei präventiven Ermächtigungen generell und insbesondere bei § 58a AufenthG in der Handhabung, wie sie das BVerwG vorgezeichnet hat, geht es mitnichten um Personen, die sich als irgendetwas "erwiesen" haben, sondern um Personen, bei denen mehr oder weniger gute Anhaltspunkte dafür sprechen, dass sie einmal eine schwere Straftat begehen könnten. Wenn eine solche Prognosegrundlage für solche Eingriffe ausreicht, dann sagt mir der Satz von Bayes in Verbindung mit der niedrigen Basisrate an "tatsächlichen" Terroristen auch im politisch oder religiös auffälligen Milieu, dass die Betroffenen in der Mehrzahl ohne diesen Eingriff tatsächlich keine Straftaten begehen würden. Anders formuliert: Ich treffe überwiegend falsch Positive, um die richtig Positiven zu erwischen. Je niedriger ich die Eingriffsschwelle absenke, um bloß keine falsch Negativen zu erzeugen - Dein Anliegen, "Straftaten zuverlässig zu verhüten" -, desto höher wird der Anteil der falsch Positiven. Die fallen nur nicht so auf, denn sie sind ja weg oder in Haft. Das sind die Kosten der Prävention, die man in grundrechtliche Überlegungen einbeziehen muss. Ich halte es darum rechtsstaatlich nicht für vertretbar, Eingriffsmaßnahmen wie eine Abschiebung auch in Staaten mit problematischer Menschenrechtslage oder eine dauerhafte Inhaftierung auf einer solchen Grundlage zuzulassen.

- Wenn Du § 58a AufenthG als probates Mittel für den Umgang mit einer größeren Zahl von Menschen ansiehst, dann ist eine Überwachung aus Ressourcengründen in der Tat keine Alternative. Ich sehe diese Norm aber - m.E. rechtsstaatlich zwingend - nicht als solches Mittel, sondern allenfalls als eine Ultima Ratio gegenüber einer sehr viel kleineren Zahl von Menschen. Dadurch verringert sich der Ressourcenverbrauch durch entsprechende Überwachungsmaßnahmen erheblich. Außerdem: Wie hoheitliche Ressourcen verteilt werden, ist ebenfalls eine politische Entscheidung, über die man diskutieren kann. Wenn das Anliegen der Terrorismusprävention wirklich so wichtig sein sollte, wie Du anscheinend selbstverständlich unterstellst, dann läge es nahe, die hoheitlichen Präventionsressourcen in diesem Bereich massiv auszubauen und dafür entsprechende Mittel zur Verfügung zu stellen. Das geschieht allerdings nur sehr eingeschränkt. Wenn wir in diesem Bereich schon mit grundrechtlichen Schutzpflichten operieren und aus denen sogar einen Zwang zu konkreten Eingriffsmaßnahmen ableiten, dann läge es aus meiner Sicht allemal näher, aus diesen Schutzpflichten einen Zwang zu einer Bereitstellung (und damit: Umverteilung) von Ressourcen abzuleiten. Das fordert erstaunlicherweise aber niemand aus dem Spektrum der Schutzpflichtfreunde.

- Ich sehe die Prioritäten allerdings auch etwas anders. Im Bereich des Terrorismus - insbesondere bei den Anschlagsformen, über die wir derzeit reden - ist ebenso wie bei praktisch allen anderen Risiken eine vollständig zuverlässige Prävention nicht möglich und letztlich auch nicht erstrebenswert. Terrorismus ist ein Problem und bedarf der Aufmerksamkeit, aber es ist nicht das größte Problem, das wir haben, und die Terrorismusbekämpfung ist kein grundrechtlicher Trumpf, der alles sticht. Wir werden damit leben müssen, dass sich terroristische Anschläge genausowenig in jedem Fall "zuverlässig verhüten" lassen wie Schulamokläufe oder "Familiendramen", um nur einmal andere Phänomene mehrfacher vorsätzlicher Tötungsdelikte zu nennen (die insbesondere im Fall der "Familiendramen" auch keineswegs seltener als terroristische Anschläge sind). Von nicht-intendierten, aber gleichwohl massenhaften Todesfällen durch wirtschaftliche Tätigkeit oder Mobilität ganz zu schweigen.

Schließlich: Eine großflächige Abschiebung von "Gefährdern" und eine langfristige Präventivhaft für psychisch Gesunde *sind* in meinen Augen "wirklich krasse Fälle". Wie krass muss es denn noch werden, wenn es nicht ausreicht, Menschen aufgrund bloßer Verdachtsmomente dauerhaft einzusperren oder einem höchst ungewissen Schicksal zu überlassen? Wenn das kein Thema für den Menschenrechtsschutz ist, dann wird der Menschenrechtsschutz in Friedenszeiten und in Demokratien für obsolet erklärt. Da gehe ich nicht mit, und das ist auch nicht historisch erhärtbar.
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Honigkuchenpferd »

Wir sind wohl in der Tat bei einigen (wenn auch nicht allen) Punkten, die man als "Prämissen" bezeichnen kann, fundamental unterschiedlicher Auffassung und werden deshalb auch nicht auf einen gemeinsamen Nenner kommen.

Ich bin insbesondere nicht der Meinung, dass man Terror durch bekannte Gefährder zum allgemeinen Lebensrisiko zählen kann und sollte, und ich denke, dass das - ohne entschiedenes Eingreifen - zumindest auf mittlere Sicht auch zu äußerst gefährlichen Gegenreaktionen in Westeuropa führen wird. Die Umstände haben sich geändert.

Es geht in der aktuellen Diskussion zudem nicht darum, wie man mit Personen umgeht, bei denen ganz vage Verdachtsmomente vorliegen. Auch § 58a AufenthG setzt eine entsprechend fundierte Prognose voraus. Deshalb wundere ich mich auch ein wenig, dass du dich so vehement gegen das "erwiesen" wehrst, denn es bezog sich auf die Gefährdereigenschaft. Das rechtsstaatliche Unbehagen kann ich dem Grunde nach hingegen verstehen.

In den bislang streitgegenständlichen Fällen wurde - soweit ich weiß - genau geprüft, ob die Abschiebungen noch vertretbar sind, und sie wurden, soweit erforderlich, von entsprechenden Zusicherungen abhängig gemacht. Ich gebe zu, dass ich persönlich hier ggf. sogar noch weiter gehen würde, weil ich glaube, dass sich nicht einmal diese Maßstäbe noch lange praktisch werden aufrecht erhalten lassen. Aber das ist fraglos bislang eine krasse Mindermeinung, die zu vertreten nicht angenehm ist.

In jedem Fall geht es hier allerdings darum, reale schwerwiegende Gefahren abzuwehren. Es geht nicht um willkürliche Unrechtsakte, wie man sie z.B. aus Russland und der Türkei kennt. Das muss man m.E. als Gericht gebührend in Rechnung stellen und den betroffenen Staaten dann eben auch einen angemessenen Spielraum zugestehen. Die EMRK war nicht dazu gedacht, die staatliche Souveränität auszuhebeln und effektiven Schutz friedlicher Bürger zu verhindern, die sich eben nicht selbst schützen können. Daher hoffe ich, dass der EGMR die Entscheidung hier in letzter Konsequenz doch halten und künftig in vergleichbaren Fällen auch von vorläufigen Maßnahmen absehen wird.

Zur Umwidmung von Ressourcen möchte ich noch anmerken, dass das eben vielfach wohl schlicht nicht geht. Deswegen spielt das auch in der Diskussion keine so große Rolle. Ich kann mir neue Polizisten nicht einfach backen. Die Ausbildung von Polizeibeamten ist langwierig und setzt voraus, dass überhaupt ausreichend geeignete Bewerber und Ausbilder zur Verfügung stehen. Man kann ja aber durchaus erkennen, dass dieses Problem allmählich auch bei der Politik stärker gesehen wird und man zumindest die finanziellen Spielräume zu nutzen versucht.

Zur übergeordneten Frage ist aus meiner Sicht schließlich noch zu sagen, dass eine Vervielfachung von Verfassungsgerichtsbarkeit eben auch zu einer Vervielfachung der damit verbundenen Probleme führt. Darüber hinaus ist das Problem beim EGMR m.E. schon deshalb evident stärker angelegt, weil die demokratische Legitimation noch indirekter erfolgt und er eben auch noch weiter von dem, worüber er entscheidet, entfernt ist als etwa das BVerfG. Eben deshalb mein Wunsch nach einer Beschränkung auf eine Evidenzkontrolle, ob sich Maßnahmen - auch im Lichte betroffener legitimer Gegenpositionen - wirklich als Verstoß gegen Menschenrechte darstellen.
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Tibor »

Flanke hat geschrieben: ... Wir werden damit leben müssen, dass sich terroristische Anschläge genausowenig in jedem Fall "zuverlässig verhüten" lassen wie Schulamokläufe oder "Familiendramen", um nur einmal andere Phänomene mehrfacher vorsätzlicher Tötungsdelikte zu nennen (die insbesondere im Fall der "Familiendramen" auch keineswegs seltener als terroristische Anschläge sind). ...
Ich kann diese Prämisse auch nicht teilen: Der Vergleich hinkt auch, denn er lässt ganz klar außer Acht, dass die Abschiebung des Gefährders einen Nicht-Staatsbürger betreffen sollte. Es gibt zwar kein Grundrecht auf Sicherheit im Staat vor anderen Individuen, allerdings wird man wohl bestimmte Schutzpflichten des Staates für seine Bürger definieren können. Es dürfte auch unter den zivilisierten Staaten anerkannt sein, dass der Nicht-Staatsbürger im Zweifel des Landes zu verweisen ist und nicht auf Kosten des "Besuchsstaates" überwacht und inhaftiert werden muss. Zudem haben wir ja noch Art. 16 Abs. 1 S. 1 GG, der eben eine missbräuchliche Ausweisung unter Entzug der Staatsbürgerschaft verhindert.
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Flanke »

Die Uneinigkeit, die ich in der Tat für fundamental halte, wird sich nicht überbrücken lassen. Ein paar Missverständnisse oder Fehldeutungen möchte ich aber abschließend noch ausräumen:

Von allgemeinem Lebensrisiko hat keiner gesprochen. Terrorismus ist eine Erscheinungsform der Schwerkriminalität und als solche ernstzunehmen und abzuwehren bzw. verfolgen. Was Terrorismus nicht ist, ist eine existenzielle Bedrohung des Gemeinwesens, die eine qualitativ andere Dimension hätte als andere Erscheinungsformen der Schwerkriminalität. Zu einer solchen Bedrohung wird er allenfalls, wenn man sich auf das Spiel der Terroristen einlässt und das Gemeinwesen selbst absägt. Ansonsten sehe ich eine ganze Reihe von weitaus gewichtigeren Risiken für die Stabilität der westlichen Demokratien, von denen die meisten hausgemacht sind.

So wie das BVerwG § 58a AufenthG angewandt hat, geht es vielleicht nicht um "ganz vage Verdachtsmomente", aber sehr wohl um eine ziemlich grobe, weder wissenschaftlich fundierte noch sonst abgesicherte Kriminalprognose, die in erheblichem Ausmaß auf ambivalenten oder undeutlichen Umständen beruht und zur Schlussfolgerung in weitem Umfang unabgesichertes implizites Wissen oder Alltagstheorien nutzen muss. Die aktuarischen Prognoseinstrumente, die das BKA entwickelt, sind möglicherweise etwas besser, aber die bisherige Erfahrung auch mit Kriminalprognosen auf solcher Grundlage ist nicht besonders gut. Selbst eine fundiertere Kriminalprognose ist außerdem immer noch sehr unsicher. Wenn auf der Linie des BVerwG Personen aus Deutschland abgeschoben werden oder in Zukunft nach dem neuen BayPAG - das letztlich dieselben Anforderungen errichten dürfte - inhaftiert werden, muss man davon ausgehen, dass die - wahrscheinlich sogar ganz überwiegende - Mehrheit der Betroffenen sich nichts hätte zuschulden kommen lassen und damit den Preis für ein Präventionsanliegen zahlt, zu dem sie in keiner engeren Verbindung steht. Diese Folge sollte dann auch offen als Präventionskosten verbucht werden. Ich würde mir schlicht wünschen, dass sich ein Unions-Innenpolitiker einmal hinstellt und das einräumt.

Eine "erwiesene" Gefährdereigenschaft ist ein Widerspruch in sich. Die Einstufung als Gefährder beruht auf einer auf die Person bezogenen Kriminalprognose. Prognosen sind definitionsgemäß nicht erweislich. Allenfalls die Prognosegrundlagen können erwiesen sein. Im Fall der Gefährderprognose zählen aber selbst zur Prognosegrundlage in der Regel - so in den vom BVerwG entschiedenen Fällen - auch viele Umstände, die ihrerseits nicht belastbar belegt sind.

Die Umwidmung von Ressourcen geht bestimmt nicht von heute auf morgen, aber der Terrorismus als Schrittmacher der Sicherheitspolitik ist kein neues Phänomen mehr, sondern begleitet uns seit mehr als 15 Jahren. In dieser Zeit sind im Wesentlichen immer mehr Ermächtigungen zu immer weiterreichenden Grundrechtseingriffen geschaffen worden. Belege für deren Nutzen stehen in weitem Umfang aus. Angesichts dessen finde ich auch die Behauptung einigermaßen erstaunlich, eine Aufrechterhaltung des Grundrechtsschutzes in diesem Zusammenhang verhindere den effektiven Schutz friedlicher Bürger. Meinst Du ernsthaft, dass der gegenwärtig in Frage steht? In diesen geänderten Umständen lebe ich jedenfalls nicht.
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Flanke »

Tibor hat geschrieben: Ich kann diese Prämisse auch nicht teilen: Der Vergleich hinkt auch, denn er lässt ganz klar außer Acht, dass die Abschiebung des Gefährders einen Nicht-Staatsbürger betreffen sollte. Es gibt zwar kein Grundrecht auf Sicherheit im Staat vor anderen Individuen, allerdings wird man wohl bestimmte Schutzpflichten des Staates für seine Bürger definieren können. Es dürfte auch unter den zivilisierten Staaten anerkannt sein, dass der Nicht-Staatsbürger im Zweifel des Landes zu verweisen ist und nicht auf Kosten des "Besuchsstaates" überwacht und inhaftiert werden muss. Zudem haben wir ja noch Art. 16 Abs. 1 S. 1 GG, der eben eine missbräuchliche Ausweisung unter Entzug der Staatsbürgerschaft verhindert.
Ich sehe die Abschiebung auch weniger kritisch als die langfristige Präventivhaft. Mit einer Norm wie § 58a kann ich mich in engen Grenzen anfreunden, die Präventivhaft halte ich für einen rechtsstaatlichen Zivilisationsbruch, den man nicht scharf genug kritisieren kann.

Allerdings ist mir diese Differenzierung zwischen dem Schutz vor eigenen Staatsangehörigen und vor Ausländern zu scharf gezogen und scheint mir unterkomplex. Das BVerwG hatte auf der Grundlage von § 58a AufenthG auch über die Abschiebung von Personen zu entscheiden, die ihr ganzes Leben in Deutschland verbracht hatten. Der Begriff des "Besuchsstaates" passt auf solche Personen schwerlich, sondern bei denen stellt sich mir schon die Frage, warum es eher Sache eines ausländischen Staats als des Staats des tatsächlichen dauernden Lebensmittelpunkts sein soll, für solche Personen einzustehen. Die Differenzierung nur nach der Staatsangehörigkeit schert darum aus meiner Sicht solche Personen und andere, die sich nur ein paar Monate oder allenfalls wenige Jahre in der Bundesrepublik aufgehalten haben, sachwidrig über einen Kamm.
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Honigkuchenpferd »

Deine Kritik an der Formulierung "erwiesen" akzeptiere ich mit der gegebenen Begründung. Das würde ich rückblickend anders formulieren. Allerdings denke ich, dass die Grundlage für die Prognose in den bekannt gewordenen Fällen durchaus tragfest ist.

Zu deiner abschließenden Frage: Mit Blick auf die bekannt gewordenen Fälle - u.a. Anis Amri, aber es gibt zig solcher Fälle - bin ich tatsächlich dieser Auffassung, und mir erscheint sie auch gut einsichtig und inzwischen recht verbreitet. Man muss, wie gesagt, in Rechnung stellen, dass die Zahl dieser Personen aller Wahrscheinlichkeit nach in den nächsten Jahren noch deutlich zunehmen wird. Praktikable Vorschläge, wie man damit umgehen soll, vernimmt man aber nicht. Ganz konkret: Was sollte man mit dem Gefährder aus dem Fall des EGMR machen, wenn die Abschiebung nach § 58a AufenthG nicht möglich ist, aber auch ein Präventivgewahrsam ausscheidet? Was mach man, wenn man Hunderte oder Tausende solcher Fälle hat?

Insofern überzeugt mich auch das gängige Argument nicht, das Problem sei, wenn überhaupt, erst die eigene (vermeintlich oder tatsächlich überzogene) Reaktion auf Terror und Gewalt. Man muss Terror und Gewalt staatlicherseits schon wirksam entgegentreten und darf sich nicht darauf zurückziehen, dass das statistisch betrachtet (noch) vergleichsweise irrelevante Gefahren sind.
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Tibor »

Flanke hat geschrieben:
Tibor hat geschrieben: Ich kann diese Prämisse auch nicht teilen: Der Vergleich hinkt auch, denn er lässt ganz klar außer Acht, dass die Abschiebung des Gefährders einen Nicht-Staatsbürger betreffen sollte. Es gibt zwar kein Grundrecht auf Sicherheit im Staat vor anderen Individuen, allerdings wird man wohl bestimmte Schutzpflichten des Staates für seine Bürger definieren können. Es dürfte auch unter den zivilisierten Staaten anerkannt sein, dass der Nicht-Staatsbürger im Zweifel des Landes zu verweisen ist und nicht auf Kosten des "Besuchsstaates" überwacht und inhaftiert werden muss. Zudem haben wir ja noch Art. 16 Abs. 1 S. 1 GG, der eben eine missbräuchliche Ausweisung unter Entzug der Staatsbürgerschaft verhindert.
...
Allerdings ist mir diese Differenzierung zwischen dem Schutz vor eigenen Staatsangehörigen und vor Ausländern zu scharf gezogen und scheint mir unterkomplex. Das BVerwG hatte auf der Grundlage von § 58a AufenthG auch über die Abschiebung von Personen zu entscheiden, die ihr ganzes Leben in Deutschland verbracht hatten. Der Begriff des "Besuchsstaates" passt auf solche Personen schwerlich, sondern bei denen stellt sich mir schon die Frage, warum es eher Sache eines ausländischen Staats als des Staats des tatsächlichen dauernden Lebensmittelpunkts sein soll, für solche Personen einzustehen. Die Differenzierung nur nach der Staatsangehörigkeit schert darum aus meiner Sicht solche Personen und andere, die sich nur ein paar Monate oder allenfalls wenige Jahre in der Bundesrepublik aufgehalten haben, sachwidrig über einen Kamm.
Nunja, aber dann vermischen wir verschiedene Rechtsregeln miteinander. Man könnte ja darüber nachdenken, ob man in die Ermessensprüfung nach § 58a AufenthG einstellt, das jemand eingebürgert werden könnte bzw. sogar einen Anspruch haben kann (§ 10 StAG). Aber richtigerweise gehört es nicht zur Pflicht des Staates, Personen die einen Anspruch auf Einbürgerung haben, so zu behandeln, als hätten sie den Antrag gestellt (Rosinentheorie). Wer den Antrag nicht stellt um eingebürgert zu werden bzw. die Antragsvoraussetzungen nicht erfüllt, der ist eben nicht Staatsbürger und ist dann auch nicht "so als ob" zu behandeln. Bei gerade volljährig gewordenen Personen mag man hier andere Maßstäbe ansetzen, da oftmals auf Druck der Eltern ggf. der Antrag nicht gestellt wurde, aber wenn dann der gerade 18-Jährige sich mit der Volljährigkeit lieber radikalisiert statt einen Einbürgerungsantrag zu stellen, muss er damit leben, dass er die Vss. der Einbürgerung nicht mehr erfüllen kann.
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Flanke »

Das ist zugegebenermaßen ein eher politischer als rechtlicher Gesichtspunkt. Allerdings hast Du auch auf eine politisch und nicht rechtlich ansetzende Passage von mir reagiert, so dass ich mit meiner Erwiderung ganz gerne auch im politischen Kontext bleiben würde. Ich sehe schon ein, dass man auf der Grundlage des heutigen Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsrechts Deine Position gut vertreten kann. Politisch leuchtet sie mir nicht wirklich ein. Wenn jemand als ausländischer Staatsangehöriger sein gesamtes Leben in Deutschland verbracht hat, scheint mir Deutschland in stärkerem Maß für dessen Entwicklung verantwortlich sein als der Staat der Staatsangehörigkeit. Wird eine solche Person in diesen Staat abgeschoben, so wälzt die Bundesrepublik letztlich ein auf dem eigenen Boden gewachsenes Problem ab und entzieht sich dieser Verantwortung. Das hat mich schon vor Jahren im Fall "Mehmet" befremdet.

Rechtlich lässt sich das sicher nur begrenzt abbilden, etwa über den Umweg über Art. 6 GG. Zumindest scheint mir die Eingriffsintensität der Abschiebung aber auch von den sozialen Bindungen im Inland und anderswo abzuhängen. Es geht also nicht um eine Behandlung des Ausländers, der immer in Deutschland gelebt hat, wie ein Deutscher, sondern um eine unterschiedliche Behandlung von Ausländern mit unterschiedlich starker Verankerung in Deutschland.

Mein Hauptpunkt im Zusammenhang mit § 58a, um das noch einmal klarzustellen, ist auch weniger die Existenz dieser Vorschrift als ihre neue Auslegung und Anwendung durch Verwaltung und Justiz, die von dem früher weitgehend konsentierten Normverständnis erheblich abweicht und den Weg für eine normativ kaum noch angeleitete personenbezogene Gefährlichkeitsprognose auf ggfs. sehr undeutlicher Grundlage freimacht.
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Tibor »

Eine solche anlassbezogene Betrachtung sollte man aber nicht einseitig einführen. Dies würde nämlich dazu führen, dass man zwar "seine eigenen Leute" aus dem Ausland aufnehmen muss (weil Staatsbürger), aber fremde Staatsbürger nicht los wird (weil hier radikalisiert). Zudem stellen sich ja gerade die beteiligten Staaten eher auf die ganz formelle Linie und verweigern die Aufnahme, sobald keine Staatsbürgerschaft nachgewiesen werden kann. Zudem verweigern sie auch gerade die Mitwirkung an der Ausstellung der Papiere, um sich genau auf diesen formellen Standpunkt stellen zu können. Der Fall Mehmet war tatsächlich unrühmlich, weil ein Minderjähriger betroffen war.
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Flanke »

Hmnaja, also jetzt mal wieder politisch gedacht:

Eine strikte Beharrung auf Reziprozität halte ich im internationalen Verkehr manchmal oder vielleicht sogar oft, aber nicht immer für sinnvoll. In der von mir angesprochenen Fallkonstellation (Umgang mit gefährlichen Personen ausländischer Staatsangehörigkeit, die aber im Inland aufgewachsen und fest verwurzelt sind) sehe ich nun die Gefahren eines nicht-reziproken Vorpreschens nicht so richtig. Wo im Ausland gibt es denn (heute noch) seit längerem ansässige größere Minderheiten deutscher Staatsangehörigkeit, deren kriminellen Bodensatz wir aufnehmen und darunter leiden müssen, obwohl wir mit deren krimineller Karriere nichts zu tun hatten? Das habe ich jedenfalls als relevantes Problem noch nie geschildert bekommen. Nur am Prinzip sollte dagegen eine sinnvolle Politik nicht scheitern, denke ich.

Die Probleme mit sturen ausländischen Staaten, Passtricks usw. sind mir bekannt, und die muss man natürlich ernst nehmen. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass sie in der von mir beschriebenen Fallkonstellation besonders relevant sind. Ich habe von solchen Vorfällen eigentlich immer nur im Zusammenhang mit Personen gehört, die vor vergleichsweise kurzer Zeit als Flüchtlinge ins Land gekommen sind, nicht aber im Zusammenhang mit Personen, die hier geboren und aufgewachsen sind, also schon seit langem in der Bundesrepublik leben. Wenn das richtig ist, dann ist das Verhalten bestimmter ausländischer Staaten in ganz anderen Situationen m.E. aber kein richtiger Grund dafür, für die von mir angesprochenen Fallgestaltungen streng auf Reziprozität zu beharren. Es gibt ja noch andere Reaktionsmechanismen, die unmittelbar bei dem Fehlverhalten des ausländischen Staats ansetzen und unter denen nicht Dritte leiden müssen, die mit *diesem* Problem nichts zu tun haben.
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thh
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von thh »

Flanke hat geschrieben:Wenn man überhaupt die Präventionsbedürfnisse anerkennt, die hinter dem Ausbau dieser Ordnung stehen, spricht alles dafür, sie im Strafrecht zu verorten.
Im Gegenteil: dafür spricht nichts. Es spricht sogar vieles dafür, materielles Gefahrenabwehrrecht, das ins Strafprozessrecht gerutscht ist (§ 112a StPO comes to mind) wieder daraus zu entfernen.

Es ist nicht Aufgabe der Strafjustiz, Prävention zu betreiben - und dass ihr diese Aufgabe (durch Untersuchungshaft zur Gefahrenabwehr u.a.) zugewiesen wird, weil die entsprechenden Eingriffsbefugnisse so praktisch sind und die vorhandenen Strukturen oft handlungsfähig(er), ist allenfalls ein Armutszeugnis für die Gefahrenabwehrbehörden und die Verwaltungsgerichtsbarkeit, aber kein Argument, Prävention und Repression zu vermischen.
Flanke hat geschrieben:Dort gibt es ein - ab einem gewissen Zeitpunkt - für den Betroffenen transparentes Verfahren, ein leistungsfähiges institutionelles Arrangement mit Checks and Balances, eine faire Hauptverhandlung mit formalisierten Verteidigungsrechten und ein strenges Beweismaß. Präventive Ordnungen wie das Ausländerrecht oder das allgemeine Polizeirecht leisten nichts davon. Wenn man schlagkräftige Eingriffsinstrumente wie etwa eine - von Dir ins Spiel gebrachte - Präventivhaft dort verankert, dann werden schwerwiegende Eingriffe aufgrund mehr oder weniger vager Verdachtsmomente ermöglicht.
Wenn man das auf dem strafrechtlichen Weg ermöglichen will, dann muss man aber diese vagen Verdachtsmomente pönalisieren. Das macht's ja nun gewisslich nicht besser.
Flanke hat geschrieben:- Wenn Du § 58a AufenthG als probates Mittel für den Umgang mit einer größeren Zahl von Menschen ansiehst, dann ist eine Überwachung aus Ressourcengründen in der Tat keine Alternative. Ich sehe diese Norm aber - m.E. rechtsstaatlich zwingend - nicht als solches Mittel, sondern allenfalls als eine Ultima Ratio gegenüber einer sehr viel kleineren Zahl von Menschen. Dadurch verringert sich der Ressourcenverbrauch durch entsprechende Überwachungsmaßnahmen erheblich.
Über welche Zahlen reden wir denn?

10, vielleicht 20 Menschen kann man bundesweit vielleicht unmittelbar überwachen (auf welcher Rechtsgrundlage auch immer); mehr wird sich kaum darstellen lassen. 100 wären bereits deutlich zu viel; hunderte jenseits jeder Diskussion.
Flanke hat geschrieben:Außerdem: Wie hoheitliche Ressourcen verteilt werden, ist ebenfalls eine politische Entscheidung, über die man diskutieren kann. Wenn das Anliegen der Terrorismusprävention wirklich so wichtig sein sollte, wie Du anscheinend selbstverständlich unterstellst, dann läge es nahe, die hoheitlichen Präventionsressourcen in diesem Bereich massiv auszubauen und dafür entsprechende Mittel zur Verfügung zu stellen.
Das wäre - als Alternative zur Abschiebung - weder bezahlbar noch sinnvoll.
Flanke hat geschrieben:Im Bereich des Terrorismus - insbesondere bei den Anschlagsformen, über die wir derzeit reden - ist ebenso wie bei praktisch allen anderen Risiken eine vollständig zuverlässige Prävention nicht möglich und letztlich auch nicht erstrebenswert.
Das ist richtig, aber ...
Flanke hat geschrieben:Terrorismus ist ein Problem und bedarf der Aufmerksamkeit, aber es ist nicht das größte Problem, das wir haben, und die Terrorismusbekämpfung ist kein grundrechtlicher Trumpf, der alles sticht. Wir werden damit leben müssen, dass sich terroristische Anschläge genausowenig in jedem Fall "zuverlässig verhüten" lassen wie Schulamokläufe oder "Familiendramen", um nur einmal andere Phänomene mehrfacher vorsätzlicher Tötungsdelikte zu nennen (die insbesondere im Fall der "Familiendramen" auch keineswegs seltener als terroristische Anschläge sind). Von nicht-intendierten, aber gleichwohl massenhaften Todesfällen durch wirtschaftliche Tätigkeit oder Mobilität ganz zu schweigen.
... dieser Schluss gleichwohl kaum mehrheitsfähig. Er übersieht auch die Folgen terroristischer Anschläge auf das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung und die Stabilität unseres Staatswesens.

Menschen sind keine Maschinen und auch nicht rational. Es ist daher nicht egal, ob jemand an einer Krankheit stirbt, an einem ärztlichen Kunstfehler, an einem Autounfall, an einem Tötungsdelikt im sozialen Nahbereich oder an einem Terroranschlag oder Amoklauf.
Flanke hat geschrieben:Was Terrorismus nicht ist, ist eine existenzielle Bedrohung des Gemeinwesens, die eine qualitativ andere Dimension hätte als andere Erscheinungsformen der Schwerkriminalität.
Das halte ich - aktuell und historisch - für einen potentiell problematischen Irrtum.
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Re: Aktuelles aus dem Öffentlichen Recht

Beitrag von Flanke »

Ich würde gerne an dieser Stelle von der Abschiebung, die ja auch aus meiner Sicht nicht schlechthin ausgeschlossen sein sollte, weg und ganz zu der langfristigen Präventivhaft übergehen, die ich in jeder Hinsicht ablehne und anhand derer sich meine Position auch besser beschreiben lässt.

Zur Rolle des Strafrechts: Man pönalisiert natürlich nicht vage Verdachtsmomente (wie auch?), sondern tatbestandlich konkret beschriebene Handlungen. Selbst § 89a StGB verfährt so, bei aller Kritik, die man an dieser Vorschrift üben kann. Damit ist sehr viel gewonnen, weil es dann nämlich für eine langfristige Inhaftierung gerade nicht ausreicht, wenn einer das Falsche glaubt, die falschen Leute kennt und sich irgendwie auffällig verhält. Sondern pönalisierte Handlung und zugehöriger Tatvorsatz müssen in einem hochgradig formalisierten Verfahren nachgewiesen werden, mit allen zugehörigen Verteidigungsrechten. Erst wenn das gelingt, kann der Betroffene inhaftiert werden. Und das soll ernsthaft nichts anderes sein als ein Verfahren nach FamFG, in dem der Richter prüft, ob "das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, dass sie schwere Straftaten in überschaubarer Zukunft begehen wird"?

Ich finde so strafrechtliche Reinheitsvorstellungen ja irgendwie putzig. Als Polizeirechtler würde ich auch gerne an der konkreten Gefahr als Eingriffsschwelle für alles festhalten. Aber so läuft es nicht. Materielles Strafrecht (und nicht nur Strafprozessrecht) ist heute in erheblichen Teilen eine präventiv ausgerichtete Ordnung, und das wird sich nicht mehr ändern. Heute geht es darum, die Präventionsbeiträge so zu verteilen, dass rechtsstaatliche Standards wenigstens im Mindestmaß erhalten bleiben. Ich sehe keine Möglichkeit für eine rechtsstaatskonforme langfristige Präventivhaft außerhalb des strafprozessualen Kontexts, außer man baut strafrechtliche Tatbestandsmuster und Verfahrensregeln in einem Zweitregime nach, das dann in der Sache Strafrecht ist, aber nicht so genannt werden darf. Das BayPAG ist jedenfalls ein sehr "schönes" Beispiel, wie man es nicht machen darf.
thh hat geschrieben: Über welche Zahlen reden wir denn?

10, vielleicht 20 Menschen kann man bundesweit vielleicht unmittelbar überwachen (auf welcher Rechtsgrundlage auch immer); mehr wird sich kaum darstellen lassen. 100 wären bereits deutlich zu viel; hunderte jenseits jeder Diskussion.
Das würde mich auch interessieren, über welche Zahlen wir reden. Ich sehe da zwei Möglichkeiten: Die harten Eingriffe wie § 58a und Präventivhaft sind für den harten Kern der gewaltbereiten Gefährder. Dann reden wir vermutlich tatsächlich über 10, 20 Menschen bundesweit. Oder sie sind für alle, bei denen wir befürchten, dass sie mal zum harten Kern der gewaltbereiten Gefährder gehören könnten. Die kann und sollte man allerdings weder rund um die Uhr überwachen noch abschieben oder inhaftieren.
Flanke hat geschrieben:Was Terrorismus nicht ist, ist eine existenzielle Bedrohung des Gemeinwesens, die eine qualitativ andere Dimension hätte als andere Erscheinungsformen der Schwerkriminalität.
Das halte ich - aktuell und historisch - für einen potentiell problematischen Irrtum.
Dann würde mich mal interessieren, wie aktuell der Kausalverlauf aussieht, der von terroristischen Straftaten der Art und des Umfangs, die wir gegenwärtig in Westeuropa erleben, zur Erschütterung der "Stabilität unseres Staatswesens" führt. Und historisch gerne auch, welcher mit der Bundesrepublik zumindest rudimentär vergleichbare Staat durch terroristische Handlungen nicht-staatlicher Akteure zum Zusammenbruch gebracht wurde.

Ich halte aber schon mal konkret dagegen: Der 11. September war ein schreckliches Verbrechen. Trotzdem waren die USA am 12. September immer noch ein funktionierendes Gemeinwesen und eine stabile liberale Demokratie westlicher Prägung. Wenn letzterer Status in den letzten 16 Jahren gelitten haben sollte, dann war dafür unmittelbar nicht die Entscheidung von 19 Personen und ihren Hintermännern verantwortlich, Flugzeuge zu entführen und in Gebäude zu fliegen. Sondern die daran anschließenden, keineswegs erzwungenen Entscheidungen des US-amerikanischen Staatsapparats, Personen extralegal zu entführen, festzuhalten und zu foltern, Angriffskriege zu führen usw.
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