[LG Köln] Strafbarkeit der religiös motivierten Beschneidung

Staatsrecht, Allgemeines und Besonderes Verwaltungsrecht (Bau-, Kommunal-, Polizei- und Sicherheitsrecht, BImSchG etc.)

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AdamCarter
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Re: [LG Köln] Strafbarkeit der religiös motivierten Beschnei

Beitrag von AdamCarter »

Parabellum hat geschrieben:durch bewusste Polemik (hier z.B.: Parallelen zur Genitalbeschneidung von Mädchen)
Diese Parallelen gibt es aber. Natürlich nicht zur schlimmsten Form der weiblichen Beschneidung aber man kann es sehr gut mit der, zu Recht verbotenen, sog. "milden Sunna" vergleichen wo "nur" die Klitorisvorhaut entfernt wird. Das willst du doch nicht etwa bestreiten? Man kann ja durchaus die Meinung vertreten das sei vom elterlichen Erziehungsrecht gedeckt aber die Fakten sollten wir uns doch bitte klar vor Augen führen, auch wenn einige hier davor gerne die Augen verschliessen würden.
Zuletzt geändert von AdamCarter am Donnerstag 26. Juli 2012, 12:07, insgesamt 1-mal geändert.
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daimos
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Re: [LG Köln] Strafbarkeit der religiös motivierten Beschnei

Beitrag von daimos »

Scaevola hat geschrieben:
AdamCarter hat geschrieben:Es ist letzlich ganz einfach: Hier entscheiden sich Menschen aus freiem Willen heraus, ihre kleinen Kinder grundlos und irreperabel an ihren Genitalien zu verletzen. Das hat nichts damit zu tun dass jemand Jude, Moslem oder einfach nur jemand ist, der es "ästhetischer" findet, jeder Mensch ist für seine Taten selbst verantwortlich.
Das ist natürlich auch eine Möglichkeit, unerwünschte Grundrechtspositionen beiseite zu wischen...
Ach, das Beseitewischen unerwünschter Grundrechtspositionen können die Befürworter wesentlich besser. Hast du die Aussagen alle schon vergessen?

"Das haben wir schließlich schon immer so gemacht!"
"Es ist Gottes Wille. Basta!"
"Es steht in der Bibel!" (Volker Beck, der sich wohl auch gleich steinigen lassen würde - steht ja immerhin in der Bibel! ::roll: )
"Jüdisches Leben ist sonst unmöglich!" (So wie in Vorarlberg?)

Da nehmen sich beide Seiten nicht wirklich etwas. ;)
The farther backward you look, the farther forward you can see.
(Winston Churchill)

Im Konjunktiv ist alles möglich.
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Re: [LG Köln] Strafbarkeit der religiös motivierten Beschnei

Beitrag von Flanke »

Einwendungsduschgriff hat geschrieben: Hast Du Dir schon überlegt, wie Du die Konfliktlage grundrechtsdogmatisch lösen willst, wenn man die körperliche Unversehrtheit des Kindes nicht als "Gegenrecht" ins Feld führt, sondern die Argumentation enger am elterlicherlichen Erziehungsrecht belässt? Schwebt Dir eine Lösung auf Schutzbereichsebene vor?

Ich hatte ja noch mit einer Schutzpflichtenkonstellation geliebäugelt, Flanke hat aber die zutreffende Frage gestellt, was das dogmatisch bringen würde. Nun einmal weitergedacht: eventuell sorgt die Schutzpflichtenkonstellation für eine bessere Abbildung der grundrechtsrechtlichen Beziehungen. Vereinfacht: die elterliche Sorge ist vom Staat so lange zu respektieren, wie eine Schutzpflicht des Staates nicht ausgelöst wird - der Kollisionsfall ist also nur der finale Kulminationspunkt. Damit ist man natürlich nicht viel klüger, da die Schutzpflichtendogmatik aus meiner Sicht alles andere als ausgereift ist.
Ich glaube, dass man mit diesem Ansatz weiterkommen kann. Das Erziehungsrecht ist danach als fremdnütziges Recht zu verstehen, das den Eltern im Interesse des Kindeswohls verliehen wird. Grundsätzlich muss aber in einer pluralistischen Gesellschaft mit liberaler Verfassungsordnung davon ausgegangen werden, dass die Eltern am besten wissen, was dem Kindeswohl dient. Staatliche Interventionen in die Erziehung sind prinzipiell als unzulässige Anmaßung von Wissen zu begreifen. Nur bei evident kindeswohlwidrigen Entscheidungen der Eltern können, ggfs. müssen staatliche Stellen einschreiten.

Grundrechtsdogmatisch ließe sich das über einen Ausgestaltungsansatz abbilden. Das Erziehungsrecht wäre dann ein normgeprägtes Grundrecht, das v.a. durch familienrechtliche Normen ausgestaltet wird. Leitende Ausgestaltungsdirektive ist dabei (allein) das Kindeswohl, aber es gibt für die Feststellung des Kindeswohls eine Einschätzungsprärogative der Eltern, die nur ausnahmsweise durchbrochen werden darf.

Dieser Ansatz hat den Vorzug, dass von vornherein (und nicht erst im Rahmen einer Kollisionslösung, vor der bereits die Weichen gestellt sein können) sowohl die Belange des Kindes als auch die Erkenntnisgrenzen, denen der Staat im Hinblick auf diese Belange unterliegt, mitgedacht werden müssen. Meiner Ansicht nach erschwert dies unterkomplexe Stellungnahmen, wenngleich Dogmatik generell höchstens ein Hindernis, nie aber eine absolute Grenze für Fundamentalismus und Ressentiments im Gewand rechtlicher Erörterungen sein kann.

In der Folge ist Art. 2 II GG nicht als kollidierendes Grundrecht, sondern als Kindeswohlbelang anzusehen, der in die Grundrechtsausgestaltung einzufließen hat. Art. 4 GG könnte (arg. religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates) zugunsten einer Erweiterung der Einschätzungsprärogative der Eltern eingeführt werden.

Exekutive und judikative Entscheidungen im Einzelfall aktualisieren die Ausgestaltungsentscheidung des Gesetzgebers. Auf diesem Weg könnte man (ähnlich wie zur Eigentumsgarantie) einen verfassungsrechtlichen Hebel entwickeln, um Gerichtsentscheidungen zu verhindern, die sich zu weit vom Regelungsplan des Gesetzes entfernen, was m.E. bei der Beschneidung der Fall ist (haben wir schon weiter oben diskutiert).
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Einwendungsduschgriff
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Re: [LG Köln] Strafbarkeit der religiös motivierten Beschnei

Beitrag von Einwendungsduschgriff »

Parabellum hat geschrieben:
Scaevola hat geschrieben:
Urs Blank hat geschrieben:
Am Schluss erklärt Putzke: "An den Genitalien von kleinen Kindern hat niemand etwas verloren." So entsteht ein unterschwelliger Bezug zu sexuellem Kindesmissbrauch: Gläubige Muslime oder Juden erscheinen als Menschen, die sich irgendwie an kleinen Kindern zu schaffen machen. Hier schlägt Putzkes Argumentation sehr subtil in Diffamierung um. Oder sollte er sich seiner Subtexte gar nicht bewusst sein? Das wäre für einen Juraprofessor fast genauso bedenklich.
Das ist fein beobachtet. Er gibt einerseits den seriösen Experten und dann immer wieder dem Affen plötzlich Zucker.
Das Vorgehen von Herrn Putzke ist auch tatsächlich etwas, was mir jenseits der inhaltlichen Auseinandersetzungen zum Thema ganz erhebliche Bauchschmerzen macht, und zwar aus zwei Gründen:

1. Sieht man hieran sehr gut, wie zu einem Randthema eine h.M. entsteht bzw. konstruiert wird. Bis zum LG Köln-Urteil hat sich auf breiter Front niemand so wirklich für das Thema interessiert. Zu finden sind jedoch ab 2008 diverse Aufsätze von Putzke und seinem Umfeld. Im Detail wird das bei Beulke/Dießner nachgezeichnet, wer da mit wem wie zusammenhängt. Das findet dann auch Eingang in die Kommentare und wird insbesondere in den ersten Meldungen nach dem Urteil als "herrschende Meinung" rezipiert. Das alles, ohne dass es eine ernsthafte kontroverse Auseinandersetzung über das Thema gab, zu dem man, wie man in den ersten wissenschaftlichen Veröffentlichungen nach dem LG-Urteil, wie ja auch hier im Thread entsprechend, ja durchaus unterschiedliche Auffassungen haben kann.

Mit welcher Vehemenz und nicht immer bestehender Stilsicherheit Putzke da vorgeht, kann man ja beispielhaft an der Rezension durch Putzke aus dem Jahr 2008 (http://www.zis-online.com/dat/artikel/2009_4_308.pdf ablesen, die ja hier im Thread wie auch im Parallelthread http://forum.jurawelt.com/viewtopic.php?f=57&t=31227 schon Gegenstand war.

2. In den aktuellen Interviews wird das dann entsprechend unterfüttert, in dem er einerseits die unumstrittene, sachliche, wissenschaftliche Autorität gibt, allerdings ohne die rechtswissenschaftliche Diskussion in ihrer Komplexität zu vermitteln zu versuchen, andererseits, wie auch schon für das tagesspiegel-Interview oben angemerkt, durch bewusste Polemik (hier z.B.: Parallelen zur Genitalbeschneidung von Mädchen) den Auswüchsen der Debatte auch noch Futter gibt.
+1

Im Übrigen stelle ich einmal die These auf, dass die eigene Befassung von Herrn Putzke mit der verfassungsrechtlichen Dimension des Problemkreises unterkomplex ist. Die ausführlichste Stellungnahme findet sich noch in der Herzberg-FS, dort auf S. 705 f.: http://www.holmputzke.de/images/stories ... eidung.pdf Daran sieht man schon, dass die hier in einem Forum von den Beteiligten mit deutlicher weniger wissenschaftlicher Vertiefung aufgestellten rechtlichen Thesen die verfassungsrechtliche Beurteilung von Herrn Putzke ziemlich schnell in den Schatten stellen.

Mein Eindruck neben den zutreffenden Analysen von Urs Blank und Parabellum: wir haben - jedenfalls in den verfassungsrechtlichen Fragen - nicht denjenigen Experten vor uns, als der sich Herr Putzke selbst versteht.
Zuletzt geändert von Einwendungsduschgriff am Donnerstag 26. Juli 2012, 15:33, insgesamt 1-mal geändert.
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Einwendungsduschgriff
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Re: [LG Köln] Strafbarkeit der religiös motivierten Beschnei

Beitrag von Einwendungsduschgriff »

Flanke hat geschrieben:
Einwendungsduschgriff hat geschrieben: Hast Du Dir schon überlegt, wie Du die Konfliktlage grundrechtsdogmatisch lösen willst, wenn man die körperliche Unversehrtheit des Kindes nicht als "Gegenrecht" ins Feld führt, sondern die Argumentation enger am elterlicherlichen Erziehungsrecht belässt? Schwebt Dir eine Lösung auf Schutzbereichsebene vor?

Ich hatte ja noch mit einer Schutzpflichtenkonstellation geliebäugelt, Flanke hat aber die zutreffende Frage gestellt, was das dogmatisch bringen würde. Nun einmal weitergedacht: eventuell sorgt die Schutzpflichtenkonstellation für eine bessere Abbildung der grundrechtsrechtlichen Beziehungen. Vereinfacht: die elterliche Sorge ist vom Staat so lange zu respektieren, wie eine Schutzpflicht des Staates nicht ausgelöst wird - der Kollisionsfall ist also nur der finale Kulminationspunkt. Damit ist man natürlich nicht viel klüger, da die Schutzpflichtendogmatik aus meiner Sicht alles andere als ausgereift ist.
Ich glaube, dass man mit diesem Ansatz weiterkommen kann. Das Erziehungsrecht ist danach als fremdnütziges Recht zu verstehen, das den Eltern im Interesse des Kindeswohls verliehen wird. Grundsätzlich muss aber in einer pluralistischen Gesellschaft mit liberaler Verfassungsordnung davon ausgegangen werden, dass die Eltern am besten wissen, was dem Kindeswohl dient. Staatliche Interventionen in die Erziehung sind prinzipiell als unzulässige Anmaßung von Wissen zu begreifen. Nur bei evident kindeswohlwidrigen Entscheidungen der Eltern können, ggfs. müssen staatliche Stellen einschreiten.

Grundrechtsdogmatisch ließe sich das über einen Ausgestaltungsansatz abbilden. Das Erziehungsrecht wäre dann ein normgeprägtes Grundrecht, das v.a. durch familienrechtliche Normen ausgestaltet wird. Leitende Ausgestaltungsdirektive ist dabei (allein) das Kindeswohl, aber es gibt für die Feststellung des Kindeswohls eine Einschätzungsprärogative der Eltern, die nur ausnahmsweise durchbrochen werden darf.

Dieser Ansatz hat den Vorzug, dass von vornherein (und nicht erst im Rahmen einer Kollisionslösung, vor der bereits die Weichen gestellt sein können) sowohl die Belange des Kindes als auch die Erkenntnisgrenzen, denen der Staat im Hinblick auf diese Belange unterliegt, mitgedacht werden müssen. Meiner Ansicht nach erschwert dies unterkomplexe Stellungnahmen, wenngleich Dogmatik generell höchstens ein Hindernis, nie aber eine absolute Grenze für Fundamentalismus und Ressentiments im Gewand rechtlicher Erörterungen sein kann.

In der Folge ist Art. 2 II GG nicht als kollidierendes Grundrecht, sondern als Kindeswohlbelang anzusehen, der in die Grundrechtsausgestaltung einzufließen hat. Art. 4 GG könnte (arg. religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates) zugunsten einer Erweiterung der Einschätzungsprärogative der Eltern eingeführt werden.

Exekutive und judikative Entscheidungen im Einzelfall aktualisieren die Ausgestaltungsentscheidung des Gesetzgebers. Auf diesem Weg könnte man (ähnlich wie zur Eigentumsgarantie) einen verfassungsrechtlichen Hebel entwickeln, um Gerichtsentscheidungen zu verhindern, die sich zu weit vom Regelungsplan des Gesetzes entfernen, was m.E. bei der Beschneidung der Fall ist (haben wir schon weiter oben diskutiert).
Die Ausgestaltungslösung gefällt mir sehr gut, bin ich ihr in anderen Zusammenhängen doch durchaus auch sehr zugeneigt. Sie beseitigt insbesondere das Problem der unklaren Reichweite der Schutzpflichtenlösung.

Im Zuge dieser Ausgestaltungslösung wäre dann - im Wege praktischer Konkordanz? - ein laufender Ausgleich zwischen dem elterlichen Erziehungsrecht und dem Kindeswohlinteresse durchzuführen, der sich an den Vorschriften des einfachen Rechts vollzieht, sofern diese mit der Intention des Grundgesetzes übereinstimmen. Überträgt man das auf die Fälle der Knabenbeschneidung, so folgt im strafrechtlichen Rechtfertigungszusammenhang daraus, dass die Vorschrift des § 1627 Satz 1 BGB zunächst die Maßregel ist, die aber in ihren Wirkungen wieder an die grundrechtliche Systementscheidung für das elterliche Erziehungsrecht rückgekoppelt werden muss.

Das Grundgesetz hat mit seiner Regel-Ausnahme-Entscheidung in Art. 6 GG eine Entscheidung für eine staatsferne Erziehung getroffen, bei der der Staat nur insoweit ins Spiel kommt, wie die Eltern ihre Erziehungsfreiheit zum Schaden des Kindes mißbrauchen und dadurch ihre eigene, grundgesetzlich gegebene Einschätzungsprärogative verlassen.

Zu Art. 4 GG/staatliche Neutralitätspflicht: ich bin mir noch nicht ganz sicher, wie man das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften nach Art. 137 Abs. 3 WRV in das elterliche Erziehungsrecht bruchfrei integrieren kann. Ich sehe darin nicht nur ein subjektiv-öffentliches Recht der Religionsgemeinschaften von Verfassungsrang, sondern die im Zuge dieser Freiheit geschaffene Regeln des religiösen Zusammenlebens verstärken wohl auch die Einschätzungsprärogative der Eltern, sofern es um Fragen der religiösen Erziehung geht. Das Gruppenrecht bildet sozusagen verlässliche Maßstäbe für eine religiöse Erziehung der Angehörigen dieser Religionsgemeinschaft. Natürlich könnte man das auch grundrechtlich abbilden, jedoch sehe ich - bevorzugt man eine Ausgestaltungslösung - Vorteile darin, dass man die Glaubensüberzeugungen der Religionsgemeinschaften ebenfalls als ausgestaltungssteuernd begreift.
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Re: [LG Köln] Strafbarkeit der religiös motivierten Beschnei

Beitrag von Scaevola »

Ihr seid offenbar schon ein paar Schritte weiter, aber was für eine Verfahrenssituation liegt denn Euren Überlegungen überhaupt zugrunde?
Djampapua
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Re: [LG Köln] Strafbarkeit der religiös motivierten Beschnei

Beitrag von Djampapua »

Scaevola hat geschrieben:Ihr seid offenbar schon ein paar Schritte weiter, aber was für eine Verfahrenssituation liegt denn Euren Überlegungen überhaupt zugrunde?
VB gegen letztinstanzliche Verurteilung des Vaters (§§224, 13 StGB ?) z.B.?
Flanke
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Re: [LG Köln] Strafbarkeit der religiös motivierten Beschnei

Beitrag von Flanke »

Oder die Frage der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, das die Knabenbeschneidung ausdrücklich erlaubt oder verbietet. Ob und wie man das dann letztlich vor das BVerfG bringen kann, ist natürlich die nächste Frage.
julée
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Re: [LG Köln] Strafbarkeit der religiös motivierten Beschnei

Beitrag von julée »

@Einwendungsduschgriff / Flanke: Aber im Rahmen der Ausgestaltung des Erziehungsrechts durch den Gesetzgeber anhand der Leitlinie des Kindeswohls müsste man dann doch wieder auf die Wertungen der Grundrechte im Übrigen zurückgreifen. Beinhaltet nicht bereits der Begriff des "Kindeswohls" einen weitgehenden Schutz vor körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen?

Und in Art. 6 II 2 GG ist ja durchaus ein Schutzmoment angelegt (unabhängig von der genauen Einordnung). Im Übrigen würden ja die Schutzpflichten des Staates gegenüber den Kindern etwa aus Art. 2 II 1 GG relevant werden, wenn der Staat hier evident unzureichende Schutzmaßnahmen ergriffen hat. Zumeist dürfte sich hier ja die Konstellation ergeben, dass der Staat hier unter Verweis auf das Elternrecht, den grds. bestehenden (strafrechtlichen) Schutz gegen Beeinträchtigungen jedenfalls teilweise aufhebt.

Läuft es also nicht immer auf einen Ausgleich zwischen dem abwehrrechtlich geprägten Erziehungsrecht der Eltern und den unabdingbaren Schutzansprüchen der Kinder gegen den Staat hinaus, egal auf welcher Ebene man nun diese Abwägung durchführt? m. a. W. ich verstehe den Vorteil der Ausgestaltungslösung noch nicht so ganz...
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Re: [LG Köln] Strafbarkeit der religiös motivierten Beschnei

Beitrag von julée »

Einwendungsduschgriff hat geschrieben:Im Übrigen stelle ich einmal die These auf, dass die eigene Befassung von Herrn Putzke mit der verfassungsrechtlichen Dimension des Problemkreises unterkomplex ist. Die ausführlichste Stellungnahme findet sich noch in der Herzberg-FS, dort auf S. 705 f.: http://www.holmputzke.de/images/stories ... eidung.pdf Daran sieht man schon, dass die hier in einem Forum von den Beteiligten mit deutlicher weniger wissenschaftlicher Vertiefung aufgestellten rechtlichen Thesen die verfassungsrechtliche Beurteilung von Herrn Putzke ziemlich schnell in den Schatten stellen.

Mein Eindruck neben den zutreffenden Analysen von Urs Blank und Parabellum: wir haben - jedenfalls in den verfassungsrechtlichen Fragen - nicht denjenigen Experten vor uns, als der sich Herr Putzke selbst versteht.
Ist das wirklich alles, was Herr Putzke so an verfassungsrechtlichen Ausführungen auf Lager hat?! :-k Bereits von der Länge her scheinen mir die Ausführungen bei diesem Thema unterdimensioniert zu sein... Für einen einmaligen Beitrag eines Strafrechtlers vllt. gerade noch entschuldbar (eigentlich überhaupt nicht), aber bei einem derart offensiven Auftreten?!

btw: Auch die Ausführungen zur Einsichtsfähigkeit Jugendlicher (S. 683 ff.) scheinen mir "zielorientiert" zu sein... Ein BGH-Urteil aus dem Jahre 1972, mit dem einer 16-jährigen die Einsichtsfähigkeit für eine Warzenentfernung abgesprochen wurde, scheint mir nicht mehr so ganz aktuell zu sein...
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Re: [LG Köln] Strafbarkeit der religiös motivierten Beschnei

Beitrag von julée »

Der FS-Beitrag ist ja wirklich ein Fundstück.

Putzke, FS Herzberg, S. 696 f. hat geschrieben:Lässt sich eine Zirkumzision als kosmetischer Eingriff rechtfertigen? [...]
So erfordert etwa das Tragen bestimmter Ohrringe das Durchstechen des Ohres. [...] Gerechtfertigt ist sie bei Minderjährigen nur dann, wenn die Verletzung dem Wohl des Kindes dient. Das ist in der Regel zu bejahen: Der Eingriff ist minimal, risikoarm und kaum schmerzhaft. Hinzu treten Aspekte der Sozialadäquanz: Das Tragen von Ohrschmuck ist gesellschaftlich anerkannt, gilt als ästhetisch und nicht zuletzt als Zeichen von Individualität – auch bei Minderjährigen. Die Abwägung fällt also klar zugunsten des Nutzens aus.
[...]
Hat das Tattoo einen objektiven Vorteil (etwa wenn einem Kind seine seltene Blutgruppe auf die Fußsohle tätowiert würde), dann dient es seinem Wohl und die Einwilligung der Eltern rechtfertigt die Verletzung des Körpers. Ist der Vorteil allein darin zu sehen, dass der oder die Minderjährige die »Körperbemalung« ästhetisch findet, dann ist auch das Alter des Kindes und die Quantität des Tatoos ein Kriterium.
[...]
Bei der Zirkumzision spielen solche medizinisch-ästhetischen Gesichtspunkte nahezu keine Rolle, weshalb man den Eingriff in der Regel nicht als kosmetisch bedingte Heilbehandlung ansehen kann. [...]
Abgesehen davon, dass diese Überlegung wohl eher wenig zielführend war - wie wäre es jetzt mit einer Übertragung der für Ohrringe und Tattoos aufgestellten Grundsätze auf andere, nichtkosmetische Eingriffe? Sozialadäquanz bestimmter religiös motivierter Eingriffe halte ich jetzt nicht für vollkommen fernliegend.
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Re: [LG Köln] Strafbarkeit der religiös motivierten Beschnei

Beitrag von EliElezra »

Flanke hat geschrieben:
Einwendungsduschgriff hat geschrieben: Hast Du Dir schon überlegt, wie Du die Konfliktlage grundrechtsdogmatisch lösen willst, wenn man die körperliche Unversehrtheit des Kindes nicht als "Gegenrecht" ins Feld führt, sondern die Argumentation enger am elterlicherlichen Erziehungsrecht belässt? Schwebt Dir eine Lösung auf Schutzbereichsebene vor?

Ich hatte ja noch mit einer Schutzpflichtenkonstellation geliebäugelt, Flanke hat aber die zutreffende Frage gestellt, was das dogmatisch bringen würde. Nun einmal weitergedacht: eventuell sorgt die Schutzpflichtenkonstellation für eine bessere Abbildung der grundrechtsrechtlichen Beziehungen. Vereinfacht: die elterliche Sorge ist vom Staat so lange zu respektieren, wie eine Schutzpflicht des Staates nicht ausgelöst wird - der Kollisionsfall ist also nur der finale Kulminationspunkt. Damit ist man natürlich nicht viel klüger, da die Schutzpflichtendogmatik aus meiner Sicht alles andere als ausgereift ist.
Ich glaube, dass man mit diesem Ansatz weiterkommen kann. Das Erziehungsrecht ist danach als fremdnütziges Recht zu verstehen, das den Eltern im Interesse des Kindeswohls verliehen wird. Grundsätzlich muss aber in einer pluralistischen Gesellschaft mit liberaler Verfassungsordnung davon ausgegangen werden, dass die Eltern am besten wissen, was dem Kindeswohl dient. Staatliche Interventionen in die Erziehung sind prinzipiell als unzulässige Anmaßung von Wissen zu begreifen. Nur bei evident kindeswohlwidrigen Entscheidungen der Eltern können, ggfs. müssen staatliche Stellen einschreiten.

Grundrechtsdogmatisch ließe sich das über einen Ausgestaltungsansatz abbilden. Das Erziehungsrecht wäre dann ein normgeprägtes Grundrecht, das v.a. durch familienrechtliche Normen ausgestaltet wird. Leitende Ausgestaltungsdirektive ist dabei (allein) das Kindeswohl, aber es gibt für die Feststellung des Kindeswohls eine Einschätzungsprärogative der Eltern, die nur ausnahmsweise durchbrochen werden darf.

Dieser Ansatz hat den Vorzug, dass von vornherein (und nicht erst im Rahmen einer Kollisionslösung, vor der bereits die Weichen gestellt sein können) sowohl die Belange des Kindes als auch die Erkenntnisgrenzen, denen der Staat im Hinblick auf diese Belange unterliegt, mitgedacht werden müssen. Meiner Ansicht nach erschwert dies unterkomplexe Stellungnahmen, wenngleich Dogmatik generell höchstens ein Hindernis, nie aber eine absolute Grenze für Fundamentalismus und Ressentiments im Gewand rechtlicher Erörterungen sein kann.

In der Folge ist Art. 2 II GG nicht als kollidierendes Grundrecht, sondern als Kindeswohlbelang anzusehen, der in die Grundrechtsausgestaltung einzufließen hat. Art. 4 GG könnte (arg. religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates) zugunsten einer Erweiterung der Einschätzungsprärogative der Eltern eingeführt werden.

Exekutive und judikative Entscheidungen im Einzelfall aktualisieren die Ausgestaltungsentscheidung des Gesetzgebers. Auf diesem Weg könnte man (ähnlich wie zur Eigentumsgarantie) einen verfassungsrechtlichen Hebel entwickeln, um Gerichtsentscheidungen zu verhindern, die sich zu weit vom Regelungsplan des Gesetzes entfernen, was m.E. bei der Beschneidung der Fall ist (haben wir schon weiter oben diskutiert).
Wenn ich Dein Modell richtig verstehe, läuft es auf das hinaus, was Einwendungsduschgriff mit "Lösung auf Schutzbereichsebene" bereits frageweise angedeutet hat: Das elterliche Erziehungsrecht wird von vornherein auf eine kindswohlgerechte Erziehung begrenzt, wobei den Eltern insoweit eine Einschätzungsprärogative zugestanden wird. Mir ist aber noch nicht ganz klar, welchen Vorteil der Ausgestaltungsansatz bringt, wenn die Beschränkung des Erziehungsrechts aus dem Gesichtspunkt des Kindswohles bereits feststeht und auch verfassungsrechtlich verankert ist (dies freilich unterstellt, auch wenn das Kindswohl in Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG nicht als solches explizit benannt wird). Eine solche Konstruktion ließe sich dogmatisch sicher erklären, sie scheint mir aber, anders als etwa im Falle des Art. 14 GG, nicht zwingend erforderlich sein. Bedeutsam ist m. E. vor allem die von Dir im ersten Absatz skizierte Einordnung des Erziehungsrechts und die sich daraus ergebende "Kompetenzverteilung" zwischen Eltern und Staat, der ich uneingeschränkt zustimme.

Interessant finde ich die Idee, aus Art. 4 GG i. V. m. der staatlichen Neutralitätspflicht eine Erweiterung der elterlichen Einschätzungsprärogative herzuleiten. Ich hatte ja im Anschluss an Beulke/Dießner die Überlegung angestellt, dass nicht die Religionsfreiheit der Eltern sondern die des Kindes maßgeblich ist, die durch die Eltern vormundschaftlich ausgeübt wird, bin mir aber selbst nicht sicher, ob damit viel gewonnen ist. Zumal die Gefahr besteht, dadurch in einen argumentativen Zirkel zu geraten, weil die Ausübung der Religionsfreiheit des Kindes durch die Eltern ihrerseits wieder unter dem Vorbehalt des Kindeswohls stehen müsste. Welche Rolle misst Du im Rahmen Deines Konzepts der Religionsfreiheit des Kindes bei bzw. hältst Du eine Unterscheidung zwisches Recht des Kindes und Recht der Eltern insoweit überhaupt für geboten?
Einwendungsduschgriff hat geschrieben:Im Übrigen stelle ich einmal die These auf, dass die eigene Befassung von Herrn Putzke mit der verfassungsrechtlichen Dimension des Problemkreises unterkomplex ist. Die ausführlichste Stellungnahme findet sich noch in der Herzberg-FS, dort auf S. 705 f.: http://www.holmputzke.de/images/stories ... eidung.pdf Daran sieht man schon, dass die hier in einem Forum von den Beteiligten mit deutlicher weniger wissenschaftlicher Vertiefung aufgestellten rechtlichen Thesen die verfassungsrechtliche Beurteilung von Herrn Putzke ziemlich schnell in den Schatten stellen.
In der Tat. Ganz abgesehen davon, dass Putzke in dem jüngsten tagesspiegel Interview ebenfalls der Versuchung nachgeht, Juden ihre Religion erklären zu wollen ("Es muss doch erlaubt sein, nach annähernd 4000 Jahren die Frage zu stellen, ob..."), ist seine Argumentation erschreckend dünn und klammert die interessanten Rechtsfragen völlig aus. Das zeigt sich etwa an Feststellung, dass "die Religionsfreiheit (...) niemals die Körperverletzung eines anderen Menschen rechtfertigen" kann. Als ob es darum ginge. Noch merkwürdiger wird das Interview, als er die (rhetorische) Frage stellt, ob "die Staatsräson (sc. es rechtfertigt), dass man sich über das Grundgesetz und das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit hinwegsetzt?" Er suggeriert eine eindeutige und unstrittige Rechtslage, die lediglich aus Gründen der politischen Opportunität ausgehebelt werden soll.
Flanke
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Re: [LG Köln] Strafbarkeit der religiös motivierten Beschnei

Beitrag von Flanke »

Da jetzt zweimal nach der Sinnhaftigkeit des Ausgestaltungsansatzes gefragt wurde, dazu einige kurz gefasste, aber trotzdem längliche Anmerkungen.

Zunächst eine Anmerkung zu meinem Vorverständnis. Grundrechtsdogmatik hat aus meiner Sicht den Sinn, ein Gerüst von Argumentationsstrukturen und Argumentationsbausteinen bereitzustellen, um materielle grundrechtliche Vorgaben zur Geltung zu bringen. Materielle Vorgaben und Dogmatik sind damit nicht identisch, stehen aber auch nicht vollständig unverbunden nebeneinander. Damit kann einerseits nicht aus einer bestimmten Grundrechtstheorie vollständig deduktiv auf eine passende Grundrechtsdogmatik geschlossen werden (etwa in dem Sinne liberale Grundrechtstheorie --> Abwehrrecht). Andererseits können dogmatische Ansätze mehr oder weniger gut geeignet sein, um materielle Vorgaben wirksam werden zu lassen. Das alles zeigt sich m.E. sehr anschaulich in den Habilitationsschriften von Gertrude Lübbe-Wolff und Ralf Poscher, die beide mithilfe (nur) des abwehrrechtlichen Ansatzes den Grundrechtsschutz auch in Leistungs- und Gewährleistungskonstellationen abbilden wollen. Das geht vielleicht irgendwie, es wird aber sehr kompliziert und begründet die Gefahr, doch Wesentliches aus den Augen zu verlieren.

Vor diesem Hintergrund eine Stufe konkreter: Die abwehrrechtliche Dogmatik ist in erster Linie dazu entwickelt worden, einen Konflikt zwischen individuellen Freiheitsinteressen des Einzelnen und gegenläufigen Belangen zu lösen. Zu diesem Zweck wird der Konflikt in zwei Teile zerlegt: Auf der Schutzbereichs- und Eingriffsebene wird eine rein individualistische Sichtweise eingenommen, um das Freiheitsinteresse des Einzelnen möglichst präzise zu erfassen und grundrechtlich einzuordnen. Das kann zu der Feststellung führen, dass dieses Interesse grundrechtlich irrelevant ist (dogmatisch gesprochen: der Schutzbereich eines Grundrechts ist nicht berührt oder es fehlt an einem Grundrechtseingriff). In einem solchen Fall müssen die gegenläufigen Belange gar nicht mehr untersucht werden. Ansonsten wird (erst) auf der Rechtfertigungsebene der Konflikt in seiner ganzen Komplexität grundrechtlich bewertet und verarbeitet.

Dieser dogmatische Ansatz ist sehr leistungsfähig und hat ein hohes Rationalisierungspotenzial, wenn es möglich ist, das Freiheitsinteresse des Einzelnen analytisch erst einmal losgelöst vom Recht und rein individualistisch zu beschreiben: Ich will reiten, beten, meine Meinung sagen. Auch solche Handlungen verfolgen natürlich in der Regel einen sozialen Zweck, sie können aber zunächst einmal von den sozialen Einbindungen des Einzelnen abgelöst betrachtet werden, um sie bestimmten Grundrechten zuzuordnen und so die Rechtfertigungsprüfung vorzustrukturieren.

Der abwehrrechtliche Ansatz gerät dagegen an seine Grenzen, wenn das Freiheitsinteresse des Einzelnen überhaupt nur mit Blick auf das Recht und die anderen beschrieben werden kann. Ein klarer Fall ist das Eigentum, das nur durch das Recht existiert und nur mit Blick auf andere einen Sinn hat (Gedankenexperiment: Robinson auf seiner einsamen Insel hat kein Eigentum, benötigt aber auch keins).

Die Erziehung eines Kindes scheint möglicherweise auf den ersten Blick als "natürliche" Freiheit beschreibbar zu sein. Eltern haben ihre Kinder schließlich schon erzogen, als es noch überhaupt keine Rechtsordnung gab. Aber Erziehung ist etwas, das sich begrifflich nur mit Blick auf einen anderen überhaupt erklären lässt. Ein abwehrrechtlicher Ansatz des Erziehungsrechts gerät meiner Ansicht nach darum in Gefahr, auf der Schutzbereichsebene von der rein faktischen Macht der Eltern über ihr Kind auszugehen: Geschützt wird die Befugnis der Eltern, mit ihrem Kind zu tun und zu lassen, was sie wollen, es sei denn, gegenläufige Belange ermöglichen es, diese Befugnis einzuschränken. Das wäre aber ein schiefer Ansatz, denn Art. 6 GG ist nicht dazu da, diese faktische Macht zu sichern, sondern das Erziehungsrecht ist von vornherein eine dienende Freiheit, die den Eltern im Interesse des Kindeswohls verliehen wird - ebenso wie das Eigentum nicht einfach denjenigen schützen soll, der faktisch einen Gegenstand in seiner Gewalt hat, sondern eine rechtlich begründete Zuordnungsbeziehung schützt.

Darum erscheint mir eine abwehrrechtliche Verarbeitung unseres Problems zwar denkbar, aber riskant und auch wenig fruchtbar, weil sich die Trennung von individualistischer und ganzheitlicher Betrachtungsweise hier kaum durchhalten lässt.

Der Ausgestaltungsansatz bewahrt dagegen davor, auf der Schutzbereichsebene bei der individualistischen Betrachtung das Erziehungsrecht fälschlich als eigennützige Befugnis der Eltern zu konzipieren. Dementsprechend muss auf der Rechtfertigungsebene auch nicht eine vermeintliche Kollisionslage zwischen diesem Recht und gegenläufigen Belangen des Kindes aufgelöst werden. Eine solche Kollisionslage gibt es überhaupt nicht, weil das Erziehungsrecht überhaupt nur dazu dient, die Belange des Kindes zu wahren. Staatliche Interventionen in die Kindeserziehung beruhen dementsprechend auch nicht auf einer Abwägung zwischen gegenläufigen Belangen, bei der sich die Belange des Kindes gegen die der Eltern durchsetzen müssten. Die Probleme solcher Interventionen liegen vielmehr in der Gefahr des Missbrauchs staatlicher Macht einerseits, der begrenzten Möglichkeit, das Kindeswohl allgemeingültig zu "erkennen" bzw. zu definieren, andererseits.

Ich glaube auch, dass Art. 4 GG sich auf der Grundlage des Ausgestaltungsansatzes besser einbetten lässt. Es geht weder um die positive Religionsfreiheit der Eltern noch um die negative Religionsfreiheit des Kindes - beide helfen für die Religionserziehung nicht weiter. Vielmehr umfasst das Erziehungsrecht der Eltern auch die Religionserziehung. Religion ist aber ein Feld, auf dem der Staat besonderen Neutralitätspflichten unterliegt - er darf grundsätzlich keine Stellung zugunsten oder zulasten bestimmter Bekenntnisse beziehen, sondern muss Religion als gesellschaftliches Phänomen prinzipiell so hinnehmen, wie er es vorfindet. Dementsprechend muss die staatliche Definitionsmacht für das Kindeswohl in religiösen Angelegenheiten noch weiter zurückgenommen werden als ohnehin schon. Deshalb dürfen auch religiöse Fanatiker ihre Kinder in ihrem Glauben erziehen, selbst wenn dies mit einem Risiko von (v.a. Persönlichkeits-)Beeinträchtigungen einhergehen mag, das bei anderen Erziehungsmotiven nicht mehr hingenommen würde; die Interventionsgrenze verschiebt sich so zugunsten des Erziehungsrechts.
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Einwendungsduschgriff
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Re: [LG Köln] Strafbarkeit der religiös motivierten Beschnei

Beitrag von Einwendungsduschgriff »

Danke schön, das war sehr lehrreich. Nimmt man diese Konzeption ernst, ist dann auch ein Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht denkbar? Ich denke an den Entzug der Rechtsposition durch staatliches Handeln, ähnlich der eigentumsrechtlichen Enteignung.

Hier fällt mir die Grenzziehung im ersten Zugriff deutlich schwerer als beim Eigentumsgrundrecht, denn das Familienrecht des BGB kennt Normen, die sich meines Erachtens im Grenzbereich zwischen Ausgestaltung und Rechtsentzug bewegen, man betrachte nur die Musterbeispiele in § 1666 Abs. 3 BGB.
Hier gibt's nichts zu lachen, erst recht nichts zu feiern.
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Re: [LG Köln] Strafbarkeit der religiös motivierten Beschnei

Beitrag von Flanke »

Das ist ja auch beim Eigentum außerhalb der Enteignung schon ein Problem. Nicht ohne Grund ist es heillos umstritten, ob die Aktualisierung einer Inhalts- und Schrankenbestimmung im Einzelfall als Eingriff anzusehen ist oder nicht. Macht aber letztlich auch keinen großen Unterschied, glaube ich.

Wenn man davon ausgeht, dass nicht jede Ausgestaltungsaktualisierung ein Eingriff ist, müsste man wahrscheinlich - da es an einem formalisierten Eingriffstyp wie der Enteignung fehlt - auf ein Schwerekriterium zurückgreifen, das beim Eigentum ja abgelehnt wird. Zumindest die vollständige Entziehung der elterlichen Sorge (§ 1666 III Nr. 6 BGB) würde ich dann als Eingriff ansehen.
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