Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Staatsrecht, Allgemeines und Besonderes Verwaltungsrecht (Bau-, Kommunal-, Polizei- und Sicherheitsrecht, BImSchG etc.)

Moderator: Verwaltung

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markus87
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von markus87 »

daimos hat geschrieben:Liebe Swann, JS und ich müssen gar nicht erst in Karlsruhe Gehör finden, wir kennen nur die Rechtsprechung des BVerfG, die wir anderen nicht vorenthalten möchten.
  • "Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt."
    BVerfGE 125, 175, 224 unter Verweis auf BVerfGE 87, 153, 172; 91, 93, 112; 99, 246, 261; 120, 125, 155 und 166.
EIN Satz! Meine Güte! ::roll:
Ist es denn mit diesem Satz vereinbar, dass man seine Bedürftigkeit nachweisen muss? Was du schreibst, hört sich für mich schon so an, als hätten wir bereits ein bedingungsloses Grundeinkommen, nur dass das außer dir eben noch niemand bemerkt hat.

Folgefrage: Ist es auch in Ordnung, wenn es einem vorgeschrieben wird, in welcher Form man seine Bedürftigkeit nachzuweisen hat?
Swann
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von Swann »

daimos hat geschrieben:Liebe Swann, JS und ich müssen gar nicht erst in Karlsruhe Gehör finden, wir kennen nur die Rechtsprechung des BVerfG, die wir anderen nicht vorenthalten möchten.
  • "Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt."
    BVerfGE 125, 175, 224 unter Verweis auf BVerfGE 87, 153, 172; 91, 93, 112; 99, 246, 261; 120, 125, 155 und 166.
EIN Satz! Meine Güte! ::roll:

Dass Sanktionen generell unzulässig sind, habe ich nirgends geschrieben. Wenn der Regelsatz höher als das Existenzminimum ist, sind natürlich auch Sanktionen bis zu dieser Grenze möglich. Ich maße mir aber an, dem Bundesverfassungsgericht in seiner Argumentation zu folgen, dass jederzeit ("stets"), also auch währdend bestehender Sanktionen, das Existenzminimum nicht unterschritten werden darf.
Ja, und? Das BVerfG äußert sich darin nur zur Bemessung des Leistungsanspruchs. Es trifft keine Aussage darüber, ob dieser von Verfassungs wegen unter allen Umständen in voller Höhe ausgezahlt werden muss, oder ob es Konstellationen gibt, in denen eine Kürzung verfassungsgemäß wäre.
julée
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von julée »

Zentral dürfte doch die Frage sein, ob die Menschenwürde, ein Recht beinhaltet, sich auf Kosten anderer selbst zu verwirklichen. Denn letztlich müssen ja für jeden, der dauerhaft die Aufnahme einer zumutbaren Arbeit verweigert, alle anderen mehr Steuern zahlen und können sich zu einem geringeren Grade selbst verwirklichen.
Derjenige also, der nicht arbeitet, obwohl er könnte, und stattdessen Sozialleistungen in Anspruch nimmt, grenzt sich letztlich selbst aus der Gesellschaft aus. Die Kürzung des Anspruchs ist somit eine Reaktion auf das eigenverantwortliche Handeln des Betreffenden und nimmt ihn als Subjekt wahr (vgl. BVerfGE 115, 118 (161)). Ein uneingeschränktes soziokulturelles Existenzminimum würde ich nicht daher als unbedingt zwingend ansehen. Unabhängig davon, was das BVerfG da jetzt in dem Hartz-IV-Urteil an schönen Sätzen formuliert hat.
"Auch eine stehengebliebene Uhr kann noch zweimal am Tag die richtige Zeit anzeigen; es kommt nur darauf an, daß man im richtigen Augenblick hinschaut." (Alfred Polgar)
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JS
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von JS »

julée hat geschrieben:Zentral dürfte doch die Frage sein, ob die Menschenwürde, ein Recht beinhaltet, sich auf Kosten anderer selbst zu verwirklichen. Denn letztlich müssen ja für jeden, der dauerhaft die Aufnahme einer zumutbaren Arbeit verweigert, alle anderen mehr Steuern zahlen und können sich zu einem geringeren Grade selbst verwirklichen.
Derjenige also, der nicht arbeitet, obwohl er könnte, und stattdessen Sozialleistungen in Anspruch nimmt, grenzt sich letztlich selbst aus der Gesellschaft aus. Die Kürzung des Anspruchs ist somit eine Reaktion auf das eigenverantwortliche Handeln des Betreffenden und nimmt ihn als Subjekt wahr (vgl. BVerfGE 115, 118 (161)). Ein uneingeschränktes soziokulturelles Existenzminimum würde ich nicht daher als unbedingt zwingend ansehen. Unabhängig davon, was das BVerfG da jetzt in dem Hartz-IV-Urteil an schönen Sätzen formuliert hat.
Da ich gerade keine Zeit habe, das Wesentliche ist aus meiner Sicht ohnehin bereits gesagt, möchte ich nur einwerfen, dass die gegenwärtigen Sanktionsregelungen nicht im geringsten die dauerhafte Verweigerung der Aufnahme einer zumutbaren Arbeit voraussetzen.
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Samson
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von Samson »

Swann hat geschrieben: Denn ohne diese Möglichkeit sind Mitwirkungspflichten des Leistungsberechtigten kaum durchsetzbar.
Wäre das so schlimm wenn der Bezug von ALG II allein an die Bedürftigkeit geknüpft wäre; und ohne irgendwelche Mitwirkungspflichten ausbezahlt wurde? Ich weiß nicht, wie man das nennt, dies wird in der Grundeinnkommensdebatte aber vertreten; da die Leistung aber nur im Falle der Bedürftigkeit ausbezahlt würde, wäre dies aber eben kein Grundeinkommen.

Ich vermute, dass die Zahl derer, die sich langfristig freiwillig im Sozialsystem einrichten würden, dennoch nicht überhand nehme, so attraktiv sind die Sätze sowie die Dauerpassivität der Arbeitslosikeit auch nicht.
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von markus87 »

Samson hat geschrieben:
Swann hat geschrieben: Denn ohne diese Möglichkeit sind Mitwirkungspflichten des Leistungsberechtigten kaum durchsetzbar.
Wäre das so schlimm wenn der Bezug von ALG II allein an die Bedürftigkeit geknüpft wäre; und ohne irgendwelche Mitwirkungspflichten ausbezahlt wurde? Ich weiß nicht, wie man das nennt, dies wird in der Grundeinnkommensdebatte aber vertreten; da die Leistung aber nur im Falle der Bedürftigkeit ausbezahlt würde, wäre dies aber eben kein Grundeinkommen.

Ich vermute, dass die Zahl derer, die sich langfristig freiwillig im Sozialsystem einrichten würden, dennoch nicht überhand nehme, so attraktiv sind die Sätze sowie die Dauerpassivität der Arbeitslosikeit auch nicht.
Ohne Mitwirkungspflichten lässt sich überhaupt nicht feststellen, ob jemand bedürftig ist oder nicht.
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von Samson »

markus87 hat geschrieben:
Samson hat geschrieben:
Swann hat geschrieben: Denn ohne diese Möglichkeit sind Mitwirkungspflichten des Leistungsberechtigten kaum durchsetzbar.
Wäre das so schlimm wenn der Bezug von ALG II allein an die Bedürftigkeit geknüpft wäre; und ohne irgendwelche Mitwirkungspflichten ausbezahlt wurde? Ich weiß nicht, wie man das nennt, dies wird in der Grundeinnkommensdebatte aber vertreten; da die Leistung aber nur im Falle der Bedürftigkeit ausbezahlt würde, wäre dies aber eben kein Grundeinkommen.

Ich vermute, dass die Zahl derer, die sich langfristig freiwillig im Sozialsystem einrichten würden, dennoch nicht überhand nehme, so attraktiv sind die Sätze sowie die Dauerpassivität der Arbeitslosikeit auch nicht.
Ohne Mitwirkungspflichten lässt sich überhaupt nicht feststellen, ob jemand bedürftig ist oder nicht.
Natürlich, das ist korrekt. Ich meinte auch nicht die Offenbarungspflichten u.ä; sondern Weiterbildungsmaßnahmen; Bewerbungspflichten; Jobannahme etc.
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von julée »

JS hat geschrieben: Da ich gerade keine Zeit habe, das Wesentliche ist aus meiner Sicht ohnehin bereits gesagt, möchte ich nur einwerfen, dass die gegenwärtigen Sanktionsregelungen nicht im geringsten die dauerhafte Verweigerung der Aufnahme einer zumutbaren Arbeit voraussetzen.
Ich habe auch nicht behauptet, dass dies die konkrete, derzeit geltende Regelung ist (dazu siehe bereits oben). Allerdings dürfte dies ja die Konstellation sein, anhand derer man am besten die grundsätzliche (!) Verfassungsmäßigkeit von Kürzungen im Bereich des Existenzminimums diskutieren kann, bevor man sich den konkreten Regelungen mit all ihren Details nähert.
Samson hat geschrieben:Ich vermute, dass die Zahl derer, die sich langfristig freiwillig im Sozialsystem einrichten würden, dennoch nicht überhand nehme, so attraktiv sind die Sätze sowie die Dauerpassivität der Arbeitslosikeit auch nicht.
Das dürfte bei der ganzen Diskussion um das bedingslose Grundeinkommen der wesentliche Knackpunkt sein, wo man natürlich Vermutungen in beide Richtungen anstellen kann. Gutverdienende werden sicherlich nicht dauerhaft (wohl aber: Verbesserungsversuch, Zweitstudium, Weltreise, drei Monate Rumgammeln zwischen zwei Jobs o. ä.) für 1.000 € oder gar den geltenden Hartz IV-Satz zu Hause bleiben. Aber ich halte die Annahme, dass diejenigen, die derzeit aufgrund ihrer Ausbildung nur ein relativ geringes Einkommen erzielen können, wenn sie ein Grundeinkommen, das wirklich für ein "nicht-stigmatisiertes Leben" reicht, bekämen, vermehrt zu Hause blieben, nicht für vollkommen abwegig.
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von E46 »

Vgl. zur Thematik zutreffend SG Landshut, S 10 AS 259/12 ER:

Auch das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleistet keinen von Mitwirkungsobliegenheiten und Eigenaktivitäten unabhängigen Anspruch auf Sicherung eines Leistungsniveaus.

Ausführliche und m.E. durchaus überzeugende Begründung im Volltext bei sozialgerichtsbarkeit.de

Und mal andersherum argumentiert: Wären die Sanktionen des SGB II derart offenkundig verfassungswidrig, wie einige hier meinen, wäre es in hohem Maße erstaunlich, dass - mehr als acht Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes - hierüber noch keine Entscheidung des BVerfG herbeigeführt wurde, zumal es in der Sozialgerichtsbarkeit doch einige Kollegen gibt, die offenbar ganz gerne Vorlagebeschlüsse fertigen ...
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von JS »

E46 hat geschrieben:Vgl. zur Thematik zutreffend SG Landshut, S 10 AS 259/12 ER:

Auch das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleistet keinen von Mitwirkungsobliegenheiten und Eigenaktivitäten unabhängigen Anspruch auf Sicherung eines Leistungsniveaus.

Ausführliche und m.E. durchaus überzeugende Begründung im Volltext bei sozialgerichtsbarkeit.de
Das Sozialgericht hat weder die Sanktionsregelungen des SGB II verstanden, noch, was Mitwirkung bedeutet. Zudem wurde das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums missachtet.
E46 hat geschrieben: Und mal andersherum argumentiert: Wären die Sanktionen des SGB II derart offenkundig verfassungswidrig, wie einige hier meinen, wäre es in hohem Maße erstaunlich, dass - mehr als acht Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes - hierüber noch keine Entscheidung des BVerfG herbeigeführt wurde, zumal es in der Sozialgerichtsbarkeit doch einige Kollegen gibt, die offenbar ganz gerne Vorlagebeschlüsse fertigen ...
Asylbewerberleistungsgesetz? Jahrzehntelang verfassungswidriges Bundestagswahlrecht? Bis zur Regelsatzentscheidung des BVerfG im Jahr 2010 hat es auch einige Jahre gebraucht. Manchmal dauerts eben länger. Das kann verschiedene Gründe haben.
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von Ant-Man »

Das SG Gotha, Beschluss vom 26. Mai 2015 - S 15 AS 5157/14 hält die Hartz IV-Sanktionsregelungen für verfassungswidrig und hat die Frage dem BVerfG vorgelegt.
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von falsus »

Die parallele Frage im Asylbewerberleistungsgesetz sehen einige Landessozialgerichte genau so, wie das SG Gotha in der von dir genannten Sache. Ich frage mich allerdings, warum die Vorlage der Regelungen im SGB II erst jetzt kommt.
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von Ant-Man »

falsus hat geschrieben:Die parallele Frage im Asylbewerberleistungsgesetz sehen einige Landessozialgerichte genau so, wie das SG Gotha in der von dir genannten Sache. Ich frage mich allerdings, warum die Vorlage der Regelungen im SGB II erst jetzt kommt.
Weil vorher kein Richter an einem SG von der Verfassungswidrigkeit der Sanktionsregelungen überzeugt war. ;)
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von falsus »

Bei den aktuellen Anforderungen kann ich verstehen, dass man lieber um 13 Uhr Feierabend macht anstatt einen Normenkontrollantrag zu formulieren.
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von Ant-Man »

Das SG Dresden, Urteil vom 10.08.2015 - S 20 AS 1507/14 ist von der Verfassungswidrigkeit der Sanktionsregelungen ebenfalls überzeugt und pflichtet der oben genannten Ansicht des SG Gotha bei.
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