Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Staatsrecht, Allgemeines und Besonderes Verwaltungsrecht (Bau-, Kommunal-, Polizei- und Sicherheitsrecht, BImSchG etc.)

Moderator: Verwaltung

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JS
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von JS »

Einwendungsduschgriff hat geschrieben:
daimos hat geschrieben:
markus87 hat geschrieben:Im Gegenteil gibt es Spielregeln für die Gewährung des Existenzminimums.
*seufz* ...

Nunja, wie soll ich es sagen... aA: BVerfG, Urt. v. 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 -, LS 2:
  • "[Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums] ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden [...]."
Der zitierte Teil bedeutet aber zunächst nur, dass es erstens ein menschenwürdiges Existenzminimum gibt - welches zudem absolut gilt, was aber nicht bedeutet, dass es auch im Einzelfall ein absolutes Ahdndlungsgebot des Staates enthält - und zweitens, dass dem potentiellen Leistungsempfänger durch das einfache Recht ein subjektiv-öffentliches Recht zugestanden werden muss (eigentlich ein interessanter Schutzgehalt: das einzige verfassungsrechtliche Leistungsrecht fordert, dass das einfache Recht ein Leistungsrecht enthalten muss).

Der zweite Teil des Leitsatzes und natürlich auch die ergiebigere Entscheidungspassage stellen aber - insoweit fällt das leider hier unter den Tisch - heraus, dass es insoweit einen Gestaltungsspielraum des Sozialgesetzgebers gibt. Diesen Gestaltungsspielraum stellt das Gericht aber nur für die Berechnung der zu gewährenden Leistungen fest. Das bedeutet aber nun nicht, dass ein solcher Gestaltungsspielraum nicht auch für das Sanktionsregime in Betracht kommen kann, das hatte nur das Gericht nicht zu entscheiden und deswegen schweigt auch sein Leitsatz dazu.

Mit anderen Worten: man kann aus der genannten Entscheidung viel ab- und herleiten, der Schluss auf die verfassungsrechtliche Unzulässigkeit entsprechender Sanktionen jedoch gelingt nicht ohne weiteres. Hierzu muss man schon einen eigenständigen Argumentationsansatz entwickeln.
?
Z.B. Rn 137: "Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt (vgl. BVerfGE 87, 153 <172>; 91, 93 <112>; 99, 246 <261>; 120, 125 <155 und 166>)."

Was ändert sich an diesem Bedarf beispielsweise bei einem Meldeversäumnis? Nichts.
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Einwendungsduschgriff
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von Einwendungsduschgriff »

Das bedeutet doch nur, dass bei der Berechnung des Leistungsniveaus der individuelle Bedarf eingestellt werden muss und dieses Niveau bei der gesetzlichen Ausgestaltung gewahrt werden muss, d.h. der individuelle Leistungsempfänger ist vor "Fehltypisierungen" des Sozialgesetzgebers geschützt.
Ich wäre mir aber nicht sicher, dass das Gericht bei einer Befassung jegliche Kürzungssanktion - diese setzen ja nun eben nicht bei der Berechnung an, sondern sind gewissermaßen sozialrechtsspezifische Strafnormen - verwirft, sondern eventuell dem Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum bei (eklatanten?) Missbrauchs- und Verwirkungskonstellationen offenlässt. Ob darunter nun Meldeverstöße fallen? Das kann sich doch jeder selbst beantworten.
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von JS »

Einwendungsduschgriff hat geschrieben:Das bedeutet doch nur, dass bei der Berechnung des Leistungsniveaus der individuelle Bedarf eingestellt werden muss und dieses Niveau bei der gesetzlichen Ausgestaltung gewahrt werden muss, d.h. der individuelle Leistungsempfänger ist vor "Fehltypisierungen" des Sozialgesetzgebers geschützt.
Ich wäre mir aber nicht sicher, dass das Gericht bei einer Befassung jegliche Kürzungssanktion - diese setzen ja nun eben nicht bei der Berechnung an, sondern sind gewissermaßen sozialrechtsspezifische Strafnormen - verwirft, sondern eventuell dem Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum bei (eklatanten?) Missbrauchs- und Verwirkungskonstellationen offenlässt. Ob darunter nun Meldeverstöße fallen? Das kann sich doch jeder selbst beantworten.
Du vergisst, dass wir hier bei der Menschenwürde sind. Das heißt, dass es keine durch Verhältnismäßigkeit gerechtfertigte Eingriffe gibt. Jeder Eingriff ist verfassungswidrig. Der Staat darf nicht sagen: "Weil du böse bist, darfst du gefoltert werden" oder eben "Weil du böse bist, steht dir dein dir ansonsten zustehendes Existzenzminimum nicht zu".
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von Swann »

JS hat geschrieben: Du vergisst, dass wir hier bei der Menschenwürde sind. Das heißt, dass es keine durch Verhältnismäßigkeit gerechtfertigte Eingriffe gibt. Jeder Eingriff ist verfassungswidrig. Der Staat darf nicht sagen: "Weil du böse bist, darfst du gefoltert werden" oder eben "Weil du böse bist, steht dir dein dir ansonsten zustehendes Existzenzminimum nicht zu".
Ich bin mir nicht sicher, ob Duschgriff das "vergessen" hat. Die Frage ist ja, ob aus der Menschenwürde ein Recht folgt, unter allen Umständen und zu jederzeit den ungekürzten Satz zu erhalten oder ob sich die Menschenwürdegarantie nur darauf erstreckt, einen prinzipiellen Anspruch auf das Existenzminimum zu haben, der in eng umgrenzten Ausnahmefällen auch gekürzt werden kann (solange die physische Existenz des Betroffenen nicht gefährdet ist). Letztere Auslegung hätte den Vorzug, dass sie den Leistungsberechtigten als Rechtssubjekt ernst nähme.
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von Medjurix »

Die Hartz IV Empfänger, die auf Kosten der Allgemeinheit leben haben jederzeit die Möglichkeit, ihren finanziellen Rahmen aufzubessern, zum Beispiel durch einen Minijob, die ersten 100 Euro sind anrechnungsfrei. So kann jeder seine Existenz verbessern und zur Entlastung beitragen.
Man muss das Unmögliche versuchen,
um das Mögliche zu erreichen.

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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von T203004 »

Klar, oder sie gehen Vollzeit arbeiten, dann ist gar kein H4 nötig und kann eigentlich abgeschafft werden. ::roll:
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von Frittenverkäufer »

Medjurix hat geschrieben:Die Hartz IV Empfänger ... haben jederzeit die Möglichkeit, ihren finanziellen Rahmen aufzubessern, ...
Naive Vorstellung. Das gilt allenfalls für die "marktnahen" Leistungsempfänger.
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Einwendungsduschgriff
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von Einwendungsduschgriff »

Swann hat geschrieben:
JS hat geschrieben: Du vergisst, dass wir hier bei der Menschenwürde sind. Das heißt, dass es keine durch Verhältnismäßigkeit gerechtfertigte Eingriffe gibt. Jeder Eingriff ist verfassungswidrig. Der Staat darf nicht sagen: "Weil du böse bist, darfst du gefoltert werden" oder eben "Weil du böse bist, steht dir dein dir ansonsten zustehendes Existzenzminimum nicht zu".
Ich bin mir nicht sicher, ob Duschgriff das "vergessen" hat. Die Frage ist ja, ob aus der Menschenwürde ein Recht folgt, unter allen Umständen und zu jederzeit den ungekürzten Satz zu erhalten oder ob sich die Menschenwürdegarantie nur darauf erstreckt, einen prinzipiellen Anspruch auf das Existenzminimum zu haben, der in eng umgrenzten Ausnahmefällen auch gekürzt werden kann (solange die physische Existenz des Betroffenen nicht gefährdet ist). Letztere Auslegung hätte den Vorzug, dass sie den Leistungsberechtigten als Rechtssubjekt ernst nähme.
Genau, darueber muesste man nachdenken.
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von JS »

Swann hat geschrieben:
JS hat geschrieben: Du vergisst, dass wir hier bei der Menschenwürde sind. Das heißt, dass es keine durch Verhältnismäßigkeit gerechtfertigte Eingriffe gibt. Jeder Eingriff ist verfassungswidrig. Der Staat darf nicht sagen: "Weil du böse bist, darfst du gefoltert werden" oder eben "Weil du böse bist, steht dir dein dir ansonsten zustehendes Existzenzminimum nicht zu".
Ich bin mir nicht sicher, ob Duschgriff das "vergessen" hat. Die Frage ist ja, ob aus der Menschenwürde ein Recht folgt, unter allen Umständen und zu jederzeit den ungekürzten Satz zu erhalten oder ob sich die Menschenwürdegarantie nur darauf erstreckt, einen prinzipiellen Anspruch auf das Existenzminimum zu haben, der in eng umgrenzten Ausnahmefällen auch gekürzt werden kann (solange die physische Existenz des Betroffenen nicht gefährdet ist). Letztere Auslegung hätte den Vorzug, dass sie den Leistungsberechtigten als Rechtssubjekt ernst nähme.
Erstmal ist die Beschränkung auf die physische Existenz unzulässig, da zur menschenwürdigen Existenz neben der physischen Existenz auch die soziale Existenz gehört. Ich habe schon mehrfach gehört, auch in einer Bundestagsdebatte durch ein Mitglied der SPD, dass nur der Eingriff in die physische Existenz in jedem Fall verfassungswidrig sei. Dafür fehlt die Grundlage. Der Mensch verliert ohne soziale Bezüge seine Menschenwürde.

Nochmal: Jeder Eingriff in das menschenwürdige Existenzminimum stellt einen Eingriff in die Menschenwürde dar. Die menschenwürdige Existenz muss stets gewährleistet sein.

Wie schon ausgeführt, darf der Staat nicht bestimmtes (Fehl-)Verhalten des Einzelnen mit der Missachtung seiner Menschenwürde strafen. Sanktionen sind insoweit daher ausgeschlossen.

Die Leistungspflicht des Staates greift allerdings nur ein, soweit der Mensch die zur Sicherung dieser Existenz erforderlichen materiellen Mittel nicht selbst erlangen kann.

Und hier ist der Knackpunkt. Nicht ausreichend ist der Verweis auf anderweitige freiwillige Leistungen. Es muss ein Anspruch bestehen.

Genausowenig ausreichend kann daher der abstrakte Verweis auf die theoretische Möglichkeit der Gewinnung materieller Mittel durch Erwerbstätigkeit sein. Allenfalls grundsätzlich denkbar, auch wenn auch das zweifelhaft ist, erscheint mir der Verweis auf eine konkret mögliche zumutbare Erwerbstätigkeit. Konkret meint dabei nicht, dass noch ein Bewerbungsverfahren durchlaufen werden muss, sondern dass man quasi nur am nächsten Tag hingehen muss. Da könnte man bei einer Weigerung konstruieren, dass gewissermaßen ein anderweitiger Anspruch besteht, der nur nicht geltend gemacht wird. Dies würde allerdings erstens nichts daran ändern, dass der anderweitige Anspruch tatsächlich nicht besteht, und zweitens den problematischen Zwang zur Aufnahme einer bestimmten Arbeit darstellen.

Im Übrigen wären Sanktionen durchaus grundsätzlich möglich, wenn der Staat schlicht im Grundsatz mehr als das Existenzminimum leisten würde. Teilweise erfolgt das ja auch im SGB 2, siehe die sogenannten Aufstocker.
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von Swann »

JS hat geschrieben:
Erstmal ist die Beschränkung auf die physische Existenz unzulässig, da zur menschenwürdigen Existenz neben der physischen Existenz auch die soziale Existenz gehört. Ich habe schon mehrfach gehört, auch in einer Bundestagsdebatte durch ein Mitglied der SPD, dass nur der Eingriff in die physische Existenz in jedem Fall verfassungswidrig sei. Dafür fehlt die Grundlage. Der Mensch verliert ohne soziale Bezüge seine Menschenwürde.

Nochmal: Jeder Eingriff in das menschenwürdige Existenzminimum stellt einen Eingriff in die Menschenwürde dar. Die menschenwürdige Existenz muss stets gewährleistet sein.

Wie schon ausgeführt, darf der Staat nicht bestimmtes (Fehl-)Verhalten des Einzelnen mit der Missachtung seiner Menschenwürde strafen. Sanktionen sind insoweit daher ausgeschlossen.

Die Leistungspflicht des Staates greift allerdings nur ein, soweit der Mensch die zur Sicherung dieser Existenz erforderlichen materiellen Mittel nicht selbst erlangen kann.

Und hier ist der Knackpunkt. Nicht ausreichend ist der Verweis auf anderweitige freiwillige Leistungen. Es muss ein Anspruch bestehen.

Genausowenig ausreichend kann daher der abstrakte Verweis auf die theoretische Möglichkeit der Gewinnung materieller Mittel durch Erwerbstätigkeit sein. Allenfalls grundsätzlich denkbar, auch wenn auch das zweifelhaft ist, erscheint mir der Verweis auf eine konkret mögliche zumutbare Erwerbstätigkeit. Konkret meint dabei nicht, dass noch ein Bewerbungsverfahren durchlaufen werden muss, sondern dass man quasi nur am nächsten Tag hingehen muss. Da könnte man bei einer Weigerung konstruieren, dass gewissermaßen ein anderweitiger Anspruch besteht, der nur nicht geltend gemacht wird. Dies würde allerdings erstens nichts daran ändern, dass der anderweitige Anspruch tatsächlich nicht besteht, und zweitens den problematischen Zwang zur Aufnahme einer bestimmten Arbeit darstellen.

Im Übrigen wären Sanktionen durchaus grundsätzlich möglich, wenn der Staat schlicht im Grundsatz mehr als das Existenzminimum leisten würde. Teilweise erfolgt das ja auch im SGB 2, siehe die sogenannten Aufstocker.

Deine ganze Argumentation beruht auf einem Zirkelschluss, denn wir diskutieren ja gerade, ob die Menschenwürdegarantie einen unter allen Umständen ungeschmälerten Anspruch auf das Existenzminimum umfasst. Daher kannst du schwerlich eine solchen Gewährleistungsinhalt als Teil deines Arguments voraussetzen.
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von Survivor »

Swann hat geschrieben:
JS hat geschrieben:
Erstmal ist die Beschränkung auf die physische Existenz unzulässig, da zur menschenwürdigen Existenz neben der physischen Existenz auch die soziale Existenz gehört. Ich habe schon mehrfach gehört, auch in einer Bundestagsdebatte durch ein Mitglied der SPD, dass nur der Eingriff in die physische Existenz in jedem Fall verfassungswidrig sei. Dafür fehlt die Grundlage. Der Mensch verliert ohne soziale Bezüge seine Menschenwürde.

Nochmal: Jeder Eingriff in das menschenwürdige Existenzminimum stellt einen Eingriff in die Menschenwürde dar. Die menschenwürdige Existenz muss stets gewährleistet sein.

Wie schon ausgeführt, darf der Staat nicht bestimmtes (Fehl-)Verhalten des Einzelnen mit der Missachtung seiner Menschenwürde strafen. Sanktionen sind insoweit daher ausgeschlossen.

Die Leistungspflicht des Staates greift allerdings nur ein, soweit der Mensch die zur Sicherung dieser Existenz erforderlichen materiellen Mittel nicht selbst erlangen kann.

Und hier ist der Knackpunkt. Nicht ausreichend ist der Verweis auf anderweitige freiwillige Leistungen. Es muss ein Anspruch bestehen.

Genausowenig ausreichend kann daher der abstrakte Verweis auf die theoretische Möglichkeit der Gewinnung materieller Mittel durch Erwerbstätigkeit sein. Allenfalls grundsätzlich denkbar, auch wenn auch das zweifelhaft ist, erscheint mir der Verweis auf eine konkret mögliche zumutbare Erwerbstätigkeit. Konkret meint dabei nicht, dass noch ein Bewerbungsverfahren durchlaufen werden muss, sondern dass man quasi nur am nächsten Tag hingehen muss. Da könnte man bei einer Weigerung konstruieren, dass gewissermaßen ein anderweitiger Anspruch besteht, der nur nicht geltend gemacht wird. Dies würde allerdings erstens nichts daran ändern, dass der anderweitige Anspruch tatsächlich nicht besteht, und zweitens den problematischen Zwang zur Aufnahme einer bestimmten Arbeit darstellen.

Im Übrigen wären Sanktionen durchaus grundsätzlich möglich, wenn der Staat schlicht im Grundsatz mehr als das Existenzminimum leisten würde. Teilweise erfolgt das ja auch im SGB 2, siehe die sogenannten Aufstocker.

Deine ganze Argumentation beruht auf einem Zirkelschluss, denn wir diskutieren ja gerade, ob die Menschenwürdegarantie einen unter allen Umständen ungeschmälerten Anspruch auf das Existenzminimum umfasst. Daher kannst du schwerlich eine solchen Gewährleistungsinhalt als Teil deines Arguments voraussetzen.
=D> Ich möchte nochmal darauf hinweisen, dass die Mittel zur Sicherung des Lebensunterhalts von der Gemeinschaft der Steuerzahler aufgebracht werden müssen und diese daher auch erwarten darf, dass Leistungsberechtigte alles Ihnen Zumutbare unternehmen, um wieder in Beschäftigung zu kommen. Der Gesetzgber sieht das offenbar ähnlich und hat deshalb einen entsprechenden Pflichtenkatalog für Leiustungsberechtigte statuiert. Wie sollte man eine Pflichtverletzung auch anders ahnden als durch Absenkung der Leistungen? Denn die behauptete Verfassungswidrigkeit des aktuellen Sanktionssystems bedeutet in der Folge nichts anderes als dass sämtliche Pflichtverletzungen folgenlos blieben und damit Pflichten faktisch nicht mehr bestehen. Das wäre dann wohl das von manchen propagierte sog. voraussetzungslose Grundeinkommen.
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von showbee »

Dafür muss man aber erstmal den Schluss vom Bürger auf den Staat schaffen. Für Viele ist der Staat ein namensloses Konstrukt, welches neben jeder Gesamtheit der Bürger (Gesellschaft) steht.
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von daimos »

Swann hat geschrieben:[...] wir diskutieren ja gerade, ob die Menschenwürdegarantie einen unter allen Umständen ungeschmälerten Anspruch auf das Existenzminimum umfasst. Daher kannst du schwerlich eine solchen Gewährleistungsinhalt als Teil deines Arguments voraussetzen.
Er setzt dies voraus, weil er die BVerfG-Rechtsprechung als gedanklichen Anknüpfungspunkt nimmt. Das BVerfG hat nun schon mehrfach entschieden, dass ein Minimum ein Minimum ist. Und ein Minimum hat es nun mal so an sich, dass es nicht mehr geschmälert werden kann/darf. Sonst wäre es kein Minimum mehr. Eigentlich logisch. Conclusio: Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums kann nicht eingeschränkt werden (was, wenn nicht schon als dem Wort "Minimum", so doch spätestens aus dem Charakter der unverletzlichen Menschenwürde resultieren muss). Denn der Leistungsanspruch auf ein menschenwürdiges (auch sozio-kulturelles) Existenzminimum korrespondiert mit der objektiven Schutzpflicht des Staates aus Art. 1 I GG. Wird also dieses Minimum nicht gewährt, liegt eine Verletzung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 I iVm Art. 20 I GG vor.

Der Denkfehler besteht hier evtl. darin, dass nicht immer sauber zwischen Existenzminimum und SGB II-Regelsatz differenziert wird. Ob Sanktionen im SGB II-Regime verfassungsmäßig sind, hängt davon ab, wie hoch das menschenwürdige Existenzminimum im Vergleich zum SGB II-Regelsatz ist. Dabei sind drei Fälle denkbar:
1. Fall: Regelsatz > Existenzminimum
2. Fall: Regelsatz = Existenzminimum
3. Fall: Regelsatz < Existenzminimum
  • Der letzte Fall ist klar: Wenn der Regelsatz das Existenzminimum nicht gewährleisten kann, ist er verfassungswidrig (wie es z.B. beim AsylbLG der Fall ist). Sanktionen sind es dann ohnehin.
  • Im zweiten Fall ist der Regelsatz als solcher zwar verfassungskonform, aber Sanktionen würden automatisch zur Verletzung des o.g. Grundrechts führen und wären somit verfassungswidrig.
  • Im ersten Fall käme es darauf an, wie weit der Regelsatz positiv vom Existenzminimum abweicht. Sanktionen wären dann zulässig, soweit sie sich innerhalb der Differenz zwischen Regelsatz und Existenzminimum bewegen würden. Andernfalls (etwa bei einer 100%-Leistungskürzung) verstieße die Sanktion gegen das o.g. Grundrecht und wäre verfassungswidrig.
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von Swann »

Du legst denselben Zirkelschluss dar wie JS. Ob Art. 1 Abs. 1 GG einen Anspruch auf eine unter allen Umständen unkürzbare Geldleistung enthält, folgt weder aus einer begrifflichen Ableitung aus dem Wort "Minimum" noch aus Art. 1 Abs. 1 GG selbst, sondern ist eine offene Frage der Verfassungsinterpretation. Mehr als die bloße Behauptung, Kürzungen des ALG II seien menschenwürdewidrig habe ich als Argument bei dieser offenen Verfassungsfrage noch nicht lesen können.
Nun ist Art. 1 Abs. 1 GG sehr offen für Rechtslyrik ohne dogmatischen Gehalt, sodass auch der von daimos und JS vertretene Standpunkt möglicherweise in Karlsruhe Gehör finden wird. Wenn man sich aber vergegenwärtigt, dass der fürsorgebedürftige Bürger keine Insel ist und sein Anspruch daher auch dadurch begrenzt ist, dass er nur innerhalb eines funktionsfähigen Sozialsystems verwirklicht werden kann, dann spricht wenig dafür, Kürzungen a limine als verfassungswidrig anzusehen.
Denn ohne diese Möglichkeit sind Mitwirkungspflichten des Leistungsberechtigten kaum durchsetzbar. Es sei denn man schüfe einen Straftatbestand des Sozialungehorsams. Aber wäre das so viel besser?
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von daimos »

Liebe Swann, JS und ich müssen gar nicht erst in Karlsruhe Gehör finden, wir kennen nur die Rechtsprechung des BVerfG, die wir anderen nicht vorenthalten möchten.
  • "Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt."
    BVerfGE 125, 175, 224 unter Verweis auf BVerfGE 87, 153, 172; 91, 93, 112; 99, 246, 261; 120, 125, 155 und 166.
EIN Satz! Meine Güte! ::roll:

Dass Sanktionen generell unzulässig sind, habe ich nirgends geschrieben. Wenn der Regelsatz höher als das Existenzminimum ist, sind natürlich auch Sanktionen bis zu dieser Grenze möglich. Ich maße mir aber an, dem Bundesverfassungsgericht in seiner Argumentation zu folgen, dass jederzeit ("stets"), also auch währdend bestehender Sanktionen, das Existenzminimum nicht unterschritten werden darf.
The farther backward you look, the farther forward you can see.
(Winston Churchill)

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