Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Staatsrecht, Allgemeines und Besonderes Verwaltungsrecht (Bau-, Kommunal-, Polizei- und Sicherheitsrecht, BImSchG etc.)

Moderator: Verwaltung

Benutzeravatar
Einwendungsduschgriff
Fossil
Fossil
Beiträge: 14744
Registriert: Mittwoch 28. Juni 2006, 19:16
Ausbildungslevel: Doktorand

Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Einwendungsduschgriff »

Die gestern veröffentlichte Entscheidung des 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts lässt mich - wie schon an anderer Stelle angedeutet - rätselnd zurück. Aktuell bewegt sich das Ganze noch im Bereich eines persönlichen Störgefühls. Folgende Entscheidung ist gemeint: http://www.bundesverfassungsgericht.de/ ... 50113.html
Kammerentscheidung, Rn. 13 f. hat geschrieben:Danach sind die Gesetze ihrerseits unter Berücksichtigung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung auszulegen und anzuwenden, damit dessen Bedeutung für das einfache Recht auch auf der Ebene der Rechtsanwendung zur Geltung kommt. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gebietet dabei insbesondere eine Auslegung des einfachen Rechts, bei der abschreckende Effekte auf den Gebrauch des Grundrechts möglichst gering gehalten werden (vgl. BVerfGE 43, 130 <136>; 93, 266 <292>).

Hiergegen verstieße es, wenn das Anfertigen von Lichtbildern oder Videoaufnahmen eines Polizeieinsatzes unter Verweis auf die bloße Möglichkeit einer nachfolgenden strafbaren Verletzung des Rechts am eigenen Bild (nach § 22 Satz 1, § 33 Abs. 1 KunstUrhG) genügen sollten, um polizeiliche Maßnahmen wie eine Identitätsfeststellung gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 1 Nds.SOG durchzuführen. Wer präventivpolizeiliche Maßnahmen bereits dann gewärtigen muss, wenn sich nicht ausschließen lässt, dass sein Verhalten Anlass zu polizeilichem Einschreiten bietet, wird aus Furcht vor polizeilichen Maßnahmen auch zulässige Aufnahmen (zur grundsätzlichen Zulässigkeit des Filmens und Fotografierens polizeilicher Einsätze vgl. BVerwGE 109, 203 <210 f.>) und mit diesen nicht selten einhergehende Kritik an staatlichem Handeln unterlassen. Beabsichtigt die Polizei, wegen Lichtbildern und Videoaufnahmen präventivpolizeilich - sei es durch ein Film- oder Fotografierverbot (vgl. BVerwGE 143, 74 <77 ff.>), sei es wie hier durch eine Identitätsfeststellung - einzuschreiten, ergibt sich aus den durch die Maßnahme jeweils betroffenen Grundrechten - hier Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG - die Anforderung einer konkreten Gefahr für ein polizeiliches Schutzgut. Dies ist eine Frage der tatsächlichen Umstände im Einzelfall.
Die Kammer stellt maßgeblich darauf ab, dass das betroffene Grundrecht - die informationelle Selbstbestimmung - bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschrift des Niedersächsischen SOG (§ 13 Abs. 1 Nr. 1 Nds. SOG) dergestalt zu berücksichtigen ist, dass eine Grundrechtseinschränkung nur bei Vorliegen einer konkreten Gefahr möglich ist.

Mein Störgefühl beruht nun darauf, dass das bereits der einfach-rechtlichen Rechtslage entspricht: nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 Nds. SOG können die zuständigen Behörden die Identität einer Person feststellen, wenn dies zur Abwehr einer Gefahr erforderlich ist. Aus der Liste der Legaldefinitionen (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 a) Nds. SOG) folgt sodann, dass eine "Gefahr" im Sinne dieses Gesetzes nur eine konkrete Gefahr darstellt, das heißt eine Sachlage, bei der im einzelnen Fall die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ein Schaden für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung eintreten wird. Diese Vorschrift bleibt in der Entscheidung unerwähnt; vielmehr wird § 13 Abs. 1 Nr. 1 Nds. SOG aus verfassungsrechtlichen Erwägungen so ausgelegt.

Heißt also: die Entscheidung ist jedenfalls - folgt man der nachvollziehbaren Argumentation der Kammer zur Gefahrenprüfung - einfachrechtlich unrichtig. Aber das löst noch nicht das Problem, dass ein Einschreiten des Bundesverfassungsgerichts nur dann zulässig ist, wenn die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts im Raume steht. Hier differenziert die Kammer meines Erachtens nicht deutlich genug zwischen Auslegung der Vorschrift im Allgemeinen - Erfordernis einer konkreten Gefahr - und Anwendung im Einzelfall. Man erhält durch diese Konstruktion nun doch faktisch einen verfassungsprozessualen Anspruch auf Rechtmäßigkeit der Verwaltungsentscheidung.

Frage zur persönlichen Vertiefung: wie steht es eigentlich nun mit Vorschriften zur Identitätsfeststellung, die bereits nach der einfach-rechtlichen Konzeption nur eine abstrakte Gefahrenlage voraussetzen? Zum Beispiel: § 26 Abs. 1 Nr. 2 PolG BW.
Hier gibt's nichts zu lachen, erst recht nichts zu feiern.
Tobias__21
Fossil
Fossil
Beiträge: 10395
Registriert: Dienstag 4. November 2014, 07:51
Ausbildungslevel: Au-was?

Re: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Tobias__21 »

Dass das BVerfG gerade nicht auf § 2 Abs. 1 Nr. 1 a) Nds. SOG abstellt, bzw. diesen nicht erwähnt, könnte doch auch zeigen, dass sie gerade nur die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts prüfen, oder nicht? Dass man eine konkrete Gefahr fordert folgt doch auch aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, was wiederum auch Niederschlag in der einfachgesetzlichen Definition des(§ 2 Abs. 1 Nr. 1 a) Nds. SOG gefunden hat. Könnte man nicht sagen, dass § 2 Abs. 1 Nr. 1 a) Nds. SOG die verfassungsrechtlichen Vorgaben für einen Eingriff einfachgesetzlich konkretisiert? Dass BVerfG könnte dann doch unabhängig davon ob bereits eine Verletzung einfachen Rechts vorliegt, die verhältnismäßige Anwendung der EGL für die Identitätsfeststellung prüfen?

Ein Gedanke kam mir noch:

Bei Verstößen gegen die Geschäftsordnung des Bundestages macht es dass BVerfG doch ähnlich. Es wird ein Verstoß festgestellt, dieser reicht aber nicht aus, da gerade kein Recht aus der Verfassung verletzt ist. Dann prüft das BVerfG doch ob dieser Verstoß zugleich auch eine Verletzung verfassungsrechtlich geschützter Rechte ist und stellt direkt auf das GG, meist Art. 20 ab.

Könnte man nicht hier ähnlich vorgehen? Zwar wurde bereits gegen das einfache Recht verstoßen, sofern damit gleichzeitig aber auch ein Verstoß gegen die Verfassung einhergeht kann das BVerfG dies prüfen, unabhängig davon ob die Maßnahme bereits einfachgesetzlich rechtswidrig war.

Aber das wirst Du sicherlich auch alles selbst wissen, von daher weiss ich nicht so recht ob ich dein Problem überhaupt richtig verstanden habe. Aber naja, man soll ja auch üben zu argumentieren. Wenns falsch ist was ich gesagt habe, bzw. dein Problem nicht getroffen hat, bitte ich das zu entschuldigen. Wie gesagt: Ich übe noch :)
Having cats in the house is like living with art that sometimes throws up on the carpet
Swann
Urgestein
Urgestein
Beiträge: 6456
Registriert: Donnerstag 28. Dezember 2006, 09:04

Re: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Swann »

Einwendungsduschgriff hat geschrieben: Mein Störgefühl beruht nun darauf, dass das bereits der einfach-rechtlichen Rechtslage entspricht: nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 Nds. SOG können die zuständigen Behörden die Identität einer Person feststellen, wenn dies zur Abwehr einer Gefahr erforderlich ist. Aus der Liste der Legaldefinitionen (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 a) Nds. SOG) folgt sodann, dass eine "Gefahr" im Sinne dieses Gesetzes nur eine konkrete Gefahr darstellt, das heißt eine Sachlage, bei der im einzelnen Fall die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ein Schaden für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung eintreten wird. Diese Vorschrift bleibt in der Entscheidung unerwähnt; vielmehr wird § 13 Abs. 1 Nr. 1 Nds. SOG aus verfassungsrechtlichen Erwägungen so ausgelegt.

Heißt also: die Entscheidung ist jedenfalls - folgt man der nachvollziehbaren Argumentation der Kammer zur Gefahrenprüfung - einfachrechtlich unrichtig. Aber das löst noch nicht das Problem, dass ein Einschreiten des Bundesverfassungsgerichts nur dann zulässig ist, wenn die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts im Raume steht. Hier differenziert die Kammer meines Erachtens nicht deutlich genug zwischen Auslegung der Vorschrift im Allgemeinen - Erfordernis einer konkreten Gefahr - und Anwendung im Einzelfall. Man erhält durch diese Konstruktion nun doch faktisch einen verfassungsprozessualen Anspruch auf Rechtmäßigkeit der Verwaltungsentscheidung.
Dass auch einfaches Recht das Vorliegen eines bestimmten Merkmals fordert, schließt doch nicht aus, dass auch spezifisches Verfassungsrecht verletzt sein kann, wenn Gerichte das Merkmal übergehen, oder? M.E. führt das auch nicht zu einem verfassungsprozessualen Anspruch auf Rechtmäßigkeit der Verwaltungsentscheidung, weil sich spezifisches Verfassungsrecht und einfaches Recht nur punktuell decken. Wenn die Entscheidung aus anderen Gründen (einfach) rechtswidrig wäre, würde das ja noch nicht genügen, um die Verletzung spezifischen Verfassungsrecht als möglich erscheinen zu lassen.
Benutzeravatar
Einwendungsduschgriff
Fossil
Fossil
Beiträge: 14744
Registriert: Mittwoch 28. Juni 2006, 19:16
Ausbildungslevel: Doktorand

Re: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Einwendungsduschgriff »

Ihr habt beide Recht, ich muss da nocheinmal drüber nachdenken, was mich konkret stört. Danke Euch beiden für die Anregungen und guten Gedanken. Wahrscheinlich hätte mich folgendes überhaupt nicht gestört (und so verstehe ich Eure Lesart der Entscheidung):
Kammerentscheidung mit leichter Umformulierung hat geschrieben:Danach sind die Gesetze ihrerseits unter Berücksichtigung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung auszulegen und anzuwenden, damit dessen Bedeutung für das einfache Recht auch auf der Ebene der Rechtsanwendung zur Geltung kommt. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gebietet dabei insbesondere eine Auslegung des einfachen Rechts, bei der abschreckende Effekte auf den Gebrauch des Grundrechts möglichst gering gehalten werden (vgl. BVerfGE 43, 130 <136>; 93, 266 <292>).

Hiergegen verstieße es, wenn das Anfertigen von Lichtbildern oder Videoaufnahmen eines Polizeieinsatzes unter Verweis auf die bloße Möglichkeit einer nachfolgenden strafbaren Verletzung des Rechts am eigenen Bild (nach § 22 Satz 1, § 33 Abs. 1 KunstUrhG) genügen sollten, um polizeiliche Maßnahmen wie eine Identitätsfeststellung gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 1 Nds.SOG durchzuführen. Wer präventivpolizeiliche Maßnahmen bereits dann gewärtigen muss, wenn sich nicht ausschließen lässt, dass sein Verhalten Anlass zu polizeilichem Einschreiten bietet, wird aus Furcht vor polizeilichen Maßnahmen auch zulässige Aufnahmen (zur grundsätzlichen Zulässigkeit des Filmens und Fotografierens polizeilicher Einsätze vgl. BVerwGE 109, 203 <210 f.>) und mit diesen nicht selten einhergehende Kritik an staatlichem Handeln unterlassen. Beabsichtigt die Polizei, wegen Lichtbildern und Videoaufnahmen präventivpolizeilich - sei es durch ein Film- oder Fotografierverbot (vgl. BVerwGE 143, 74 <77 ff.>), sei es wie hier durch eine Identitätsfeststellung - einzuschreiten, ergibt sich aus den durch die Maßnahme jeweils betroffenen Grundrechten - hier Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG - die Anforderung einer konkreten Gefahr für ein polizeiliches Schutzgut. Dies ist bereits einfach-rechtlich für das hier zur Anwendung gelangende Sicherheits- und Ordnungsgesetz (vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 1 a) Nds. SOG) festgeschrieben. Das Erfordernis einer konkreten Gefahr ist in diesem Zusammenhang jedoch auch Ausdruck der grundrechtlichen Gewährleistungen und damit einer Prüfung des Bundesverfassungsgerichts im Einzelfall zugänglich."
Das würde Grundrechtsfundierung und Prüfungsmaßstab deutlich hervortreten lassen.
Hier gibt's nichts zu lachen, erst recht nichts zu feiern.
julée
Fossil
Fossil
Beiträge: 13077
Registriert: Freitag 2. April 2004, 18:13
Ausbildungslevel: Au-was?

Re: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von julée »

Die Situation dürfte man doch strukturell immer dann haben, wenn der Gesetzgeber eine vorangegangene Rechtsprechung des BVerfG kodifiziert hat (oder ausnahmsweise vorausschauend ein kluges Gesetz gemacht hat, das die maßgeblichen Kriterien normiert): In nachfolgenden Fällen fallen der einfachgesetzliche Normtext und der bisherige verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab weitgehend zusammen. D. h. (nahezu) jede Verletzung des einfachen Rechts führt zu einer Verletzung von spezifischen Verfassungsrechts.
"Auch eine stehengebliebene Uhr kann noch zweimal am Tag die richtige Zeit anzeigen; es kommt nur darauf an, daß man im richtigen Augenblick hinschaut." (Alfred Polgar)
Flanke
Power User
Power User
Beiträge: 625
Registriert: Freitag 26. November 2004, 14:11
Ausbildungslevel: Interessierter Laie

Re: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Flanke »

Der Kammerbeschluss ist m.E. unproblematisch und plausibel, wenn man davon ausgehend, dass die konkrete Gefahr verfassungsrechtliche Mindestschwelle für die Identitätsfeststellung ist. Dann ist es auch nachvollziehbar, dass das BVerfG prüft, ob die behördlichen und fachgerichtlichen Ausführungen ausreichen, um das Erreichen dieser Schwelle im Einzelfall zu begründen. So war etwa die Prüfweise im Rasterfahndungsbeschluss.

Das Problem hier ist - und darum habe ich auch Bauchschmerzen -, dass die Kammer nicht ausdrücklich ausführt, dass es von Verfassungs wegen einer konkreten Gefahr bedarf. Bei der bloßen Identitätsfeststellung erscheint mir das angesichts der geringen Eingriffsintensität auch ziemlich fragwürdig. Wenn aber eine konkrete Gefahr nicht unbedingt erforderlich ist, müssten die fachgerichtlichen Ausführungen an einem niedrigeren verfassungsrechtlichen Mindeststandard und nicht an der bloß einfachrechtlichen Gefahrschwelle gemessen werden, solange die Bejahung einer konkreten Gefahr das Willkürverbot wahrt. Hierzu findet sich in dem Beschluss nichts.
Tobias__21
Fossil
Fossil
Beiträge: 10395
Registriert: Dienstag 4. November 2014, 07:51
Ausbildungslevel: Au-was?

Re: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Tobias__21 »

julée hat geschrieben:Die Situation dürfte man doch strukturell immer dann haben, wenn der Gesetzgeber eine vorangegangene Rechtsprechung des BVerfG kodifiziert hat (oder ausnahmsweise vorausschauend ein kluges Gesetz gemacht hat, das die maßgeblichen Kriterien normiert): In nachfolgenden Fällen fallen der einfachgesetzliche Normtext und der bisherige verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab weitgehend zusammen. D. h. (nahezu) jede Verletzung des einfachen Rechts führt zu einer Verletzung von spezifischen Verfassungsrechts.
Guter Gedanke.

Ich musste gerade an die Entscheidung "Flashmob im Arbeitskampf" (NJW 2014, 1874) denken, die wir im WuV Kurs besprochen haben. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit hat das BVerfG dort ja u.a auf die "Wahrung der Kampfparität" abgestellt und verschiedene Punkte angesprochen, die erfüllt sein müssen. U.a die "Transparenz = Gewerkschaft als Träger des Arbeitskampfs", "Tragen von Lohnausfall", "Verteidigungsmöglichkeiten des Arbeitgebers" etc. Ob diese Punkte in der Flashmob Entscheidung erstmals vom BVerfG angesprochen worden sind, weiss ich nicht (ich kenne nur diese Entscheidung), aber ich gehe mal davon aus dass es diese Maßstäbe schon in früheren Entscheidungen zur Thematik angelegt hat.

Mit Hilfe dieser durchs BVerfG vorgegebenen Merkmale könnte der Gesetzgeber ja nun einfachgesetzlich ein Gesetz schaffen, das die verfassungsrechtlichen Vorgaben konkretisiert. Aber die Grenzen scheinen tatsächlich zu verschwimmen, da ja jedes Gesetz das in Rechte eingreift seinerseits verhältnismäßig sein muss und auch verhältnismäßig angewendet werden muss. Im Prinzip kann das BVerfG doch somit (fast) alles prüfen.
Having cats in the house is like living with art that sometimes throws up on the carpet
Benutzeravatar
Levi
Super Power User
Super Power User
Beiträge: 1584
Registriert: Dienstag 2. März 2010, 19:55
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: AW: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Levi »

julée hat geschrieben:D. h. (nahezu) jede Verletzung des einfachen Rechts führt zu einer Verletzung von spezifischen Verfassungsrechts.
So ist es!

Und deswegen gibt es nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG (seit dem "Patentbeschluss", BVerfGE 18, 85) auch keinen Bereich des Rechts, bei dem die Fachgerichte von Rechts wegen das letzte Wort hätten, sondern das BVerfG behält sich in jedem Einzelfall sein Einschreitens vor. Oder anders ausgedrückt, eine "Verletzung spezifischen Verfassungsrechts" liegt immer dann vor, wenn das Verfassungsgericht seine Entscheidung für geboten erachtet. Diesbezüglich kann man als Außenstehender immer nur eine Prognose abgeben; eine sichere Einschätzung ist nicht möglich. Man sollte auch erst gar nicht versuchen, eine generelle Linie des Gerichts oder gar eine Dogmatik zu erkennen. Die gibt es hier nicht. Das Gericht entscheidet vielmehr über die Annahme jeweils im Einzelfall "nach pflichtgemäßem Ermessen" (untechnisch gesprochen!).

Ich bin mir ziemlich sicher, dass wenn die Kammer anders zusammen gesetzt gewesen wäre, der Ausgangssachverhalt vermutlich nicht zur Entscheidung angenommen worden wäre.
Swann
Urgestein
Urgestein
Beiträge: 6456
Registriert: Donnerstag 28. Dezember 2006, 09:04

Re: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Swann »

Wir sind hier nicht im Treffpunkt, das ist dir klar, Levi?
Benutzeravatar
Einwendungsduschgriff
Fossil
Fossil
Beiträge: 14744
Registriert: Mittwoch 28. Juni 2006, 19:16
Ausbildungslevel: Doktorand

Re: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Einwendungsduschgriff »

julée hat geschrieben:Die Situation dürfte man doch strukturell immer dann haben, wenn der Gesetzgeber eine vorangegangene Rechtsprechung des BVerfG kodifiziert hat (oder ausnahmsweise vorausschauend ein kluges Gesetz gemacht hat, das die maßgeblichen Kriterien normiert): In nachfolgenden Fällen fallen der einfachgesetzliche Normtext und der bisherige verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab weitgehend zusammen. D. h. (nahezu) jede Verletzung des einfachen Rechts führt zu einer Verletzung von spezifischen Verfassungsrechts.
Das stimmt, wenn man davon ausgeht, dass die Schwelle der konkreten Gefahr für eine Identitätsfeststellung verfassungsrechtlich vorgezeichnet ist (s. Flanke). Er hat mein Störgefühl gut mit seinen Bauchschmerzen getroffen: aus meiner Sicht verlangt das Verfassungsrecht keine konkrete Gefahr für eine Identitätsfeststellung.
Hier gibt's nichts zu lachen, erst recht nichts zu feiern.
Benutzeravatar
Einwendungsduschgriff
Fossil
Fossil
Beiträge: 14744
Registriert: Mittwoch 28. Juni 2006, 19:16
Ausbildungslevel: Doktorand

Re: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Einwendungsduschgriff »

Tobias__21 hat geschrieben:Aber die Grenzen scheinen tatsächlich zu verschwimmen, da ja jedes Gesetz das in Rechte eingreift seinerseits verhältnismäßig sein muss und auch verhältnismäßig angewendet werden muss. Im Prinzip kann das BVerfG doch somit (fast) alles prüfen.
Gut, das ist natürlich der akademischen Grundrechtsprüfung geschuldet und findet auch in der Fachgerichtsbarkeit teilweise Anwendung.
Dem Prüfprogramm des Bundesverfassungsgerichts bei Urteilsverfassungsbeschwerden entspricht das jedoch nicht, jedenfalls nicht in dieser Vereinfachung.
Hier gibt's nichts zu lachen, erst recht nichts zu feiern.
Benutzeravatar
Einwendungsduschgriff
Fossil
Fossil
Beiträge: 14744
Registriert: Mittwoch 28. Juni 2006, 19:16
Ausbildungslevel: Doktorand

Re: AW: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Einwendungsduschgriff »

Levi hat geschrieben:
julée hat geschrieben:D. h. (nahezu) jede Verletzung des einfachen Rechts führt zu einer Verletzung von spezifischen Verfassungsrechts.
So ist es!
Du solltest julée nicht so entstellend zitieren. Im Übrigen hast Du Unrecht: in aller Regel sind die, jedenfalls die vernünftig gemachten, Kammerentscheidungen in ihrem Prüfprogramm der Verfassungswidrigkeit auf die Entscheidung im 18. Band ("Heck'sche Formel") zurückzuführen. Deine Darstellung dieser Formel kann ich aber nicht ganz nachvollziehen. Vermutlich vermengst Du etwas die Prüfung der Verfassungswidrigkeit mit derjenigen hinsichtlich der Annahmekriterien. Man kann selbstverständlich zu einer Verfassungswidrigkeit der Hoheitsakte kommen (Maßstab: Verletzung spezifischen Verfassungsrechts) und trotzdem die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung annehmen (Maßstab in der Regel: Annahme angezeigt zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte).
Hier gibt's nichts zu lachen, erst recht nichts zu feiern.
Benutzeravatar
Levi
Super Power User
Super Power User
Beiträge: 1584
Registriert: Dienstag 2. März 2010, 19:55
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: AW: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Levi »

Einwendungsduschgriff hat geschrieben:
Levi hat geschrieben:
julée hat geschrieben:D. h. (nahezu) jede Verletzung des einfachen Rechts führt zu einer Verletzung von spezifischen Verfassungsrechts.
So ist es!
Du solltest julée nicht so entstellend zitieren. Im Übrigen hast Du Unrecht: in aller Regel sind die, jedenfalls die vernünftig gemachten, Kammerentscheidungen in ihrem Prüfprogramm der Verfassungswidrigkeit auf die Entscheidung im 18. Band ("Heck'sche Formel") zurückzuführen.

Wo habe ich denn etwas anderes behauptet??
Deine Darstellung dieser Formel kann ich aber nicht ganz nachvollziehen. Vermutlich vermengst Du etwas die Prüfung der Verfassungswidrigkeit mit derjenigen hinsichtlich der Annahmekriterien. Man kann selbstverständlich zu einer Verfassungswidrigkeit der Hoheitsakte kommen (Maßstab: Verletzung spezifischen Verfassungsrechts) und trotzdem die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung annehmen (Maßstab in der Regel: Annahme angezeigt zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte).
Meine Ausführungen bezogen sich nicht auf die prozessuale Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung (§§ 93a ff. BVerfGG), sondern auf die faktische (!) "Annahmeprüfung", die das BVerfG in der Begründetheitsprüfung vornimmt.

Die Notwendigkeit einer Annahme der Verfassungsbeschwerde (§§ 93a ff. BVerfGG) gibt es ja erst seit den 1970er Jahren. Auch davor schon wollte das BVerfGG jedoch nicht zur "Superrevisionsinstanz" werden, sich aber andererseits auch nicht die Möglichkeit abschneiden, über Grundrechtsverletzungen, die es für gravierend hielt, zu entscheiden. Dieses Dilemma löste die "Heck'sche Formel". Das BVerfG konnte damit letztlich nach seinem Ermessen entscheiden, wann es ein Eingreifen für geboten erachtet und wann nicht. Eine völlig stringente Linie habe ich hier jedenfalls bislang noch nicht erkennen können. Man findet einerseits Entscheidungen, bei denen man sich fragt, worin denn hier das spezifisch (!) verfassungsrechtliche Element besteht (so wie bei der von dir genannten obigen Entscheidung, bei der ich deine "Bauchschmerzen" vollkommen teile), und andererseits gibt es Entscheidungen, bei denen man nicht versteht, warum das BVerfG hier seine Zuständigkeit nicht gesehen hat.

Seit der Notwendigkeit der Annahme der Verfassungsbeschwerde hat diese Frage aber ohnehin an praktischer Bedeutung eingebüßt. Nach einer Abnahme der Verfassungsbeschwerde kann wegen der Tatbestandsmerkmale des § 93a BVerfGG m. E. das Vorliegen von spezifischem Verfassungsrecht in der Begründetheitsprüfung der Verfassungsbeschwerde nicht mehr widerspruchsfrei verneint werden.
Benutzeravatar
Einwendungsduschgriff
Fossil
Fossil
Beiträge: 14744
Registriert: Mittwoch 28. Juni 2006, 19:16
Ausbildungslevel: Doktorand

Re: AW: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Einwendungsduschgriff »

Vielleicht habe ich Dich auch falsch verstanden, aber Deine Lesart der Heck'schen Formel entspricht nicht vollständig derjenigen, die mir geläufig ist. Du stellst es so dar, als erlaube diese Formel einen anlasslosen Zugriff des Bundesverfassungsgerichts, wenn es Lust hat - sozusagen eine verfassungsprozessuale Einhegung eines freien Annahmeverfahrens. Das kann ich nicht recht nachvollziehen. Zwar wird man konstatieren müssen, dass - gerade - die Kammern damals wie heute nicht immer deutlich herausstellen, warum eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts zu erkennen ist, betrachtet man aber die Eingangssprechblasen und die Ausfüllung derselben durch die Subsumtion, so wird in aller Regel deutlich, warum der Rechtsverstoß auch ein verfassungsrechtlich relevanter ist. Fehlt diese (konkludente) Bezugnahme, so entstehen Bauchschmerzen (Flanke) oder Störgefühle (meinereiner). Hier von einer Dogmatik im engeren Sinne zu sprechen, ist wahrscheinlich zu weitgehend. Deutlich ist aber schon, dass das Gericht in den meisten Fällen zwischen verfassungsrechtlicher Prüfung und Annahme unterscheidet - und auch den unterschiedlichen Prüfduktus durchhält.
Hier gibt's nichts zu lachen, erst recht nichts zu feiern.
Benutzeravatar
Levi
Super Power User
Super Power User
Beiträge: 1584
Registriert: Dienstag 2. März 2010, 19:55
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: AW: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Levi »

Einwendungsduschgriff hat geschrieben:Vielleicht habe ich Dich auch falsch verstanden, aber Deine Lesart der Heck'schen Formel entspricht nicht vollständig derjenigen, die mir geläufig ist. Du stellst es so dar, als erlaube diese Formel einen anlasslosen Zugriff des Bundesverfassungsgerichts, wenn es Lust hat - sozusagen eine verfassungsprozessuale Einhegung eines freien Annahmeverfahrens. Das kann ich nicht recht nachvollziehen. Zwar wird man konstatieren müssen, dass - gerade - die Kammern damals wie heute nicht immer deutlich herausstellen, warum eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts zu erkennen ist, betrachtet man aber die Eingangssprechblasen und die Ausfüllung derselben durch die Subsumtion, so wird in aller Regel deutlich, warum der Rechtsverstoß auch ein verfassungsrechtlich relevanter ist.

Das Problem, um das es mir geht, ist aber, dass nach der std. Rspr. des Bundesverfassungsgerichts seit dem Elfes-Urteil (BVerfGE 6, 32) jeder rechtswidrige Eingriff der öffentlichen Gewalt auch grundrechtswidrig ist. Ein nach dem einfachen Recht rechtswidriges und belastendes Urteil verletzt immer auch ein Grundrecht (zumindest Art. 2 Abs. 1 GG). Nachdem vor einer Anrufung des BVerfG grundsätzlich der Rechtsweg erschöpft sein muss, gelangen notwendigerweise nur verfassungsrechtliche Streitfragen - und keine "nur" einfach-gesetzlichen Auslegungsfragen - zum BVerfG. Das BVerfG hätte damit ansich eine "Universalzuständigkeit" zur Überprüfung aller gerichtlichen Entscheidungen.

Dies würde das BVerfG jedoch heillos überfordern und außerdem allen anderen Gerichten ihren funktionalen Eigenwert nehmen. Insbesondere bräuchte man eigentlich keine Berufungs- und Revisionsinstanzen mehr, da am Ende sowieso jedes Urteil beim BVerfG landen würde.

Nach meiner Meinung hat sich das BVerfG daher mit der Heck'schen Formel (die ja keine gesetzliche oder gar grundgesetzliche Fundierung hat) faktisch selbst ein "Zulassungsverfahren" geschaffen, das es ihm erlaubt, alle Verfahren abzulehnen, die "nur" verfassungswidrig und nicht "spezifisch verfassungswidrig" sind. Nachdem seine (eigentlich gegebene) Universalzuständigkeit hiervon jedoch nicht berührt wird, steht es dem Verfassungsgericht selbstverständlich jederzeit frei, eine Verletzung "spezifischen" Verfassungsrechts anzunehmen, wenn es den Sachverhalt gerne entscheiden möchte. - Wer sollte es ihm auch verbieten?

In der Praxis verfährt das BVerfG - verständlicherweise - sehr restriktiv bei der "Zulassung" von Urteils-Verfassungsbeschwerden, eine ausnahmslos einheitliche Rechtsprechung besteht hier jedoch nicht.

Die Annahme der Verfassungsbeschwerde nach 93a BVerfGG ist hiervon selbstverständlich zu trennen, schon allein deswegen, weil die Annahme nach 93a BVerfGG der Zulässigkeits- und Begründetheitsprüfung vorgelagert ist.

Allerdings kann ich mir, wie schon gesagt, ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass eine Verfassungsbeschwerde nach 93a BVerfGG (in seiner aktuellen Fassung) zugelassen wird, bei der anschließend die Möglichkeit einer Verletzung "spezifischen Verfassungsrechts" verneint wird. Ich kenne auch keine solche Entscheidung. Zwar ist über die Begründetheit der Verfassungsbeschwerde durch deren Annahme noch nichts gesagt, dagegen m. E. schon über das Vorliegen "spezifischen Verfassungsrechts".
Antworten