Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Staatsrecht, Allgemeines und Besonderes Verwaltungsrecht (Bau-, Kommunal-, Polizei- und Sicherheitsrecht, BImSchG etc.)

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Einwendungsduschgriff
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Re: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Einwendungsduschgriff »

Die Prüfung der Annahmewürdigkeit ist der Zulässigkeits- und Begründetheitsprüfung nachgelagert. Eine Verfassungsbeschwerde kann selbstverständlich auch dann nicht zur Entscheidung angenommen werden, wenn sie zulässig und begründet ist. Eine Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn der angegriffene Hoheitsakt spezifisches Verfassungsrecht verletzt; eine Verbindung zwischen der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts und der Annahmeprüfung besteht hingegen nicht.
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Flanke
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Re: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Flanke »

Ich würde Levi insoweit zustimmen, als eine positive Annahmeentscheidung in einer Sache, in der es nicht um (spezifisches) Verfassungsrecht geht, nicht denkbar ist. Denn eine solche Sache kann keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung haben (§ 93a II lit. a BVerfGG), und die Annahme kann mangels Grundrechtsverletzung auch nicht zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt sein (§ 93a II lit. b BVerfGG).

Das ist aber trivial. Viel interessanter ist die Frage nach dem Verhältnis von § 93a BVerfGG und spezifischem Verfassungsrecht, wenn ein Hoheitsakt spezifisches Verfassungsrecht verletzt, die zulässige und begründete VB gegen diesen Hoheitsakt aber trotzdem nicht angenommen wird. Solche Fälle gibt es durchaus und nicht einmal besonders selten. Insoweit sind die Frage nach dem spezifischen Verfassungsrecht und die Annahmevoraussetzungen nicht deckungsgleich, so dass sich Abgrenzungsfragen ergeben.

Das BVerfG hat übrigens weder in Elfes noch nach meiner Kenntnis anderswo ausgeführt, dass jeder rechtswidrige belastende Hoheitsakt auch Grundrechte verletzt. Zu diesem Ergebnis kommt man erst über einen keineswegs zwingenden Zwischenschritt: Die Elfes-Konstruktion besagt, dass ein Grundrechtseingriff nur dann gerechtfertigt ist, wenn der eingreifende Hoheitsakt umfassend allen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt. Der erwähnte Zwischenschritt besteht nun darin, zu diesen Anforderungen auch den aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Vorrang des Gesetzes zu zählen *und* jeden Rechtsverstoß als Verstoß gegen den Gesetzesvorrang zu deuten. Gerade den zweiten Punkt kann man aber auch anders sehen. Sieht man ihn anders, so löst die Formel vom spezifischen Verfassungsrecht nicht das von Levi aufgeführte Problem, sondern verdeutlicht, dass die Grundrechte anders als das einfache Recht nicht für jede Rechtsfrage eine eindeutige Antwort bereitstellen.
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Levi
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Re: AW: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Levi »

Einwendungsduschgriff hat geschrieben:Die Prüfung der Annahmewürdigkeit ist der Zulässigkeits- und Begründetheitsprüfung nachgelagert.

Hier gehen unsere Meinungen auseinander. M. E. ist die Annahmeentscheidung der Zulässigkeits- und Begründungsprüfung vorgelagert und nicht nachgelagert.

Hierfür spricht m. E. schon der Wortlaut des
§ 93a BVerfGG. Danach bedarf die Verfassungsbeschwerde der "Annahme zur Entscheidung". Das impliziert für mich eindeutig, dass die Annahme der Verfassungsbeschwerde der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde zeitlich und rechtlich vorausgehen muss.

Auch die Systematik des BVerfGG spricht m. E. für dieses Verständnis. Die Ablehnung der Annahme der Verfassungsbeschwerde kann bereits durch die Kammer erfolgen (§ 93b Satz 1 BVerfGG), während die Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde selbst (von den Fällen des § 93c BVerfGG einmal abgesehen) grundsätzlich durch den Senat zu erfolgen hat. Welche Zuständigkeit hätte denn der Senat noch, wenn bereits die Kammer die Zulässigkeits- und Begründetheitsprüfung vornehmen würde?

Im Übrigen sprechen auch Sinn und Zweck des Annahmeverfahrens gegen eine nachgelagerte Prüfung. Das Annahmeverfahren soll das BVerfGG entlasten. Dieses Ziel würde jedoch wesentlich verfehlt, wenn trotzdem bei jeder Verfassungsbeschwerde eine vollständige Zulässigkeits- und Begründetheitsprüfung vorgenommen werden müsste. Dann könnte man sich das Annahmeverfahren auch schenken. Es verursachte mehr Aufwand als es einspart.

Zwar verhält es sich tatsächlich so, dass die Ausführungen zur Annahmeentscheidung häufig am Ende der Urteilsgründe stehen, das hat aber nur darstellungstechnische Gründe und bedeutet keineswegs, dass die Prüfung erst am Ende stattfindet.
Eine Verfassungsbeschwerde kann selbstverständlich auch dann nicht zur Entscheidung angenommen werden, wenn sie zulässig und begründet ist.

Von einer höheren Warte der Gerechtigkeit aus betrachtet, ist das zweifellos möglich. Nicht jedoch aus Sicht des BVerfGG.

Bei einer Nicht-Annahme der Verfassungsbeschwerde bleibt die Frage der Zulässigkeit und Begründetheit unentschieden (!). Insofern kann man auch nicht sinnvoll davon sprechen, dass die Beschwerde zulässig und/oder begründet wäre. In Analogie zu Schrödingers Kätzchen könnte man hier vielmehr von Schrödingers Beschwerde sprechen.

Wie sollte so etwas auch logisch schlüssig tenoriert werden :
1. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet.
2. Die Verfassungsbeschwerde ist jedoch nicht zur Entscheidung anzunehmen.

Häh?? Aber sie haben doch gerade unter 1. entschieden?
Eine Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn der angegriffene Hoheitsakt spezifisches Verfassungsrecht verletzt; eine Verbindung zwischen der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts und der Annahmeprüfung besteht hingegen nicht.
Auch hier gehen unsere Auffassungen auseinander. Eine Verfassungsbeschwerde ist grundsätzlich begründet, wenn der angegriffene Hoheitsakt Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte (gleich welcher Art) verletzt.
Allerdings entscheidet das BVerfGG grundsätzlich nur in Fällen der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts. Für den Grundrechtsschutz im Übrigen sind die regulären Gerichte zuständig.
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Re: AW: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Swann »

Levi hat geschrieben: Wie sollte so etwas auch logisch schlüssig tenoriert werden :
1. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet.
2. Die Verfassungsbeschwerde ist jedoch nicht zur Entscheidung anzunehmen.

Häh?? Aber sie haben doch gerade unter 1. entschieden?
Das hat doch überhaupt nix damit zu tun, wie im Verfassungsbeschwerdeverfahren tenoriert wird.
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Tibor
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Re: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Tibor »

Levi hat geschrieben:
Einwendungsduschgriff hat geschrieben:Die Prüfung der Annahmewürdigkeit ist der Zulässigkeits- und Begründetheitsprüfung nachgelagert.

Hier gehen unsere Meinungen auseinander. M. E. ist die Annahmeentscheidung der Zulässigkeits- und Begründungsprüfung vorgelagert und nicht nachgelagert.

Hierfür spricht m. E. schon der Wortlaut des
§ 93a BVerfGG. ...
Ich vermute, dass der Duschgriff hier einen Einblick in die Praxis hatte und weiß wovon er spricht.
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Levi
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Re: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Levi »

Tibor hat geschrieben:
Levi hat geschrieben:
Einwendungsduschgriff hat geschrieben:Die Prüfung der Annahmewürdigkeit ist der Zulässigkeits- und Begründetheitsprüfung nachgelagert.

Hier gehen unsere Meinungen auseinander. M. E. ist die Annahmeentscheidung der Zulässigkeits- und Begründungsprüfung vorgelagert und nicht nachgelagert.

Hierfür spricht m. E. schon der Wortlaut des § 93a BVerfGG. ...
Ich vermute, dass der Duschgriff hier einen Einblick in die Praxis hatte und weiß wovon er spricht.
Das ist mir schon klar.
Mir ging es hier aber nicht um die praktische Handhabung sondern um die rechtliche Struktur.

Praktisch lassen sich Annahmeprüfung einerseits und Zulässigkeits- und Begründungsprüfung andererseits - zumindest in einfach gelagerten Fällen - selbstverständlich psychisch nicht trennen und auch schwerlich nacheinander abarbeiten. Schließlich finden die Prüfungen in den selben menschlichen Gehirnen statt - und die Synapsen arbeiten nun einmal nicht seriell sondern parallel.

Von daher rührt ja auch meine Ausgangsthese her, dass durch die Schaffung des Annahmeverfahrens die Frage nach dem "spezifischen Verfassungsrecht" in der Praxis obsolet geworden ist, da es nicht mehr sinnvoll vorstellbar ist, dass eine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen wird, gleichzeitig jedoch das Vorliegen spezifischen Verfassungsrechts verneint wird. [Flankes Bewertung dieser These als "trivial" lasse ich jetzt einmal unkommentiert.] Hiervon unberührt bleibt selbstverständlich die Tatsache - und insoweit gehe ich mit dem Duschgriff konform -, dass eine unmittelbare rechtliche Verbindung zwischen der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts und der Annahmeprüfung nicht besteht.
Die Frage nach dem Vorliegen von spezifischen Verfassungsrecht ist für mich nur praktisch völlig unerheblich - und damit uninteressant - geworden. Wie bereits zu Anfang gesagt, sollte man sich hierüber m. E. keine vertieften Gedanken mehr machen.
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Einwendungsduschgriff
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Re: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Einwendungsduschgriff »

Mir geht's im Moment gesundheitlich wirklich beschissen, deswegen muss ich mich aktuell darauf beschränken, hier Levi pauschal entgegen zu treten, damit nicht der Eindruck entsteht, dass hier keine Erwiderung erfolge.

Levi: Du hast Unrecht. Unabhängig von einer Praxis des Bundesverfassungsgerichts: Dein Verständnis des Prozessrechts und des damit verbundenen materiellen Rechts ist unzutreffend. Insbesondere folgende Gedanken zur Prüfung (ohne Anspruch auf Vollständigkeit, ich bin ja hoffentlich bald wieder in der Lage vollständiger Beiträge): wie kann eine Verfassungsbeschwerde zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt sein, wenn sie nicht begründet ist? Und: ist es nicht auch denkbar, dass gerade die Frage nach der Betroffenheit/Verletzung "spezifischen Verfassungsrechts" eine durch den Senat zu klärende Frage ist?

Auf den Threadfall bezogen: wir haben uns oben darüber gestritten, ob hier eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts - lies: fordert das Grundrecht auf ISB eine konkrete Gefahr für eine Identitätsfeststellung nach Polizeirecht? - zu erkennen ist. Ist das nicht vielleicht eine Frage, die von einer grundsätzlichen Bedeutung ist? § 93a Abs. 2 b) BVerfGG kann deswegen meines Erachtens durchaus zu einem Fall führen, den Levi wie Flanke als unrealistisch ansehen: eine Verfassungsbeschwerde, die man zwar annimmt - in aller Regel geschieht dies konkludent durch eine "große Zustellung" und die sodann eine Behandlung im Senat erfährt, aber trotzdem möglicherweise unbegründet ist, weil eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts nicht festzustellen ist. Darüber haben wir ja oben ausführlich diskutiert. Anders gewendet: steht die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts im Raum - weil eben bislang durch die Senatsrechtsprechung nicht geklärt ist, was das im konkreten Fall ist - , so kann durchaus das Ergebnis herauskommen, dass eine Verfassungsbeschwerde im Senat behandelt wird, dabei aber Unbegründetheit festgestellt wird.
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Re: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Flanke »

Zur Klarstellung: Klar kann grundsätzliche Bedeutung bei einer letztlich unbegründeten VB bestehen. Solche Fälle gibt es ja auch oft. Ich meinte aber nicht, dass Annahmegründe nur bei einer *Verletzung* spezifischen Verfassungsrechts bestehen können, sondern dass Annahmegründe nur bestehen können, wenn der Fall Anlass gibt, überhaupt *Aussagen zu spezifischem Verfassungsrecht* zu treffen. Eine VB, die keine spezifisch verfassungsrechtlichen Fragen aufwirft (wie immer die auch zu beantworten sein mögen), kann auch nicht anzunehmen sein.
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Einwendungsduschgriff
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Re: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Einwendungsduschgriff »

Aber doch nur, wenn sich die Antwort hierzu bereits aus der Senatsrechtsprechung folgern lässt, oder? (Ich sollte wirklich wieder schlafen gehen und später weiterdenken und darüber nachdenken, was ich heute noch anpacke.)
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Re: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Flanke »

Ich denke, wenn eine VB die Frage aufwirft, ob das GG zu einem bestimmten sozialen Problem eine Aussage trifft, betrifft sie selbst dann spezifisches Verfassungsrecht, wenn sich letztlich herausstellt, dass dies nicht der Fall ist.
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Levi
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Re: AW: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Levi »

Einwendungsduschgriff hat geschrieben: Levi: Du hast Unrecht. Unabhängig von einer Praxis des Bundesverfassungsgerichts: Dein Verständnis des Prozessrechts und des damit verbundenen materiellen Rechts ist unzutreffend.

Gut, das mag so sein, dann gilt das aber auch für das gesamte verfassungsrechtliche Schrifttum, das es genauso sieht wie ich. Beispielsweise:
Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 258 und 268;
Lechner/Zuck, BVerfGG, Vor §§ 93a ff., Rn. 5 f. ;
Umbach/Clemens/Dollinger, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 93a, Rn. 6.
Insbesondere... : wie kann eine Verfassungsbeschwerde zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt sein, wenn sie nicht begründet ist?

Wie bei jedem anderen Vorschaltverfahren, insbesondere z. B. dem PKH-Verfahren, spielen natürlich auch beim Annahmeverfahren nach §§ 93a ff. BVerfGG die Erfolgsaussichten der Beschwerde eine entscheidende Rolle. Die Beschwerde muss hinreichende Aussicht auf Erfolg haben. Eine erkennbar (!) unzulässige oder unbegründete Beschwerde wird daher in der Regel nicht zur Entscheidung anzunehmen sein. Wobei auch hier allerdings durchaus Ausnahmen vorstellbar sind. So könnte z. B. gerade der Frage der Unzulässigkeit oder Unbegründetheit der Beschwerde grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung im Sinne von § 93a Abs. Nr. 1 BVerfGG zukommen.

Wie im PKH-Verfahren findet jedoch auch im Annahmeverfahren nur eine kursorische Prüfung der Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde statt, aber keine Vorwegnahme des Hauptsacheverfahrens. Ansonsten bräuchte man das Hauptsacheverfahren ja nicht mehr.

Deiner Reihenfolge:
Erst Entscheidung über die Zulässigkeit und Begründetheit der Verfassungsbeschwerde;
Dann Entscheidung über die Annahme der Verfassungsbeschwerde,
vermag ich mich daher auch weiterhin nicht anzuschließen und ich finde im Schrifttum auch keinen Vertreter, der den §§ 93a ff. BVerfGG eine rechtliche Reihenfolge in deinem Sinne entnimmt.

Ob die Praxis im BVerfG hier möglicherweise anders verfährt, vermag ich nicht zu beurteilen, dazu fehlt mir der unmittelbare Einblick. Ich muss mich auf den Gesetzestext und die Komnentarliteratur beschränken.
Und: ist es nicht auch denkbar, dass gerade die Frage nach der Betroffenheit/Verletzung "spezifischen Verfassungsrechts" eine durch den Senat zu klärende Frage ist?

Auf den Threadfall bezogen: wir haben uns oben darüber gestritten, ob hier eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts - lies: fordert das Grundrecht auf ISB eine konkrete Gefahr für eine Identitätsfeststellung nach Polizeirecht? - zu erkennen ist. Ist das nicht vielleicht eine Frage, die von einer grundsätzlichen Bedeutung ist? § 93a Abs. 2 b) BVerfGG kann deswegen meines Erachtens durchaus zu einem Fall führen, den Levi wie Flanke als unrealistisch ansehen: eine Verfassungsbeschwerde, die man zwar annimmt - in aller Regel geschieht dies konkludent durch eine "große Zustellung" und die sodann eine Behandlung im Senat erfährt, aber trotzdem möglicherweise unbegründet ist, weil eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts nicht festzustellen ist. Darüber haben wir ja oben ausführlich diskutiert. Anders gewendet: steht die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts im Raum - weil eben bislang durch die Senatsrechtsprechung nicht geklärt ist, was das im konkreten Fall ist - , so kann durchaus das Ergebnis herauskommen, dass eine Verfassungsbeschwerde im Senat behandelt wird, dabei aber Unbegründetheit festgestellt wird.
Dass so etwas rein theoretisch vorstellbar ist, habe ich nie in Abrede gestellt. Die Frage ist nur, wie oft so etwas vorkommt. Ich habe immer nur von Faktizität gesprochen, nicht von theoretischer Ausschließlichkeit.
Flanke
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Re: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Flanke »

Hi, jetzt vielleicht doch ein Praxishinweis: Es gibt kein vom Hauptsacheverfahren als eigenständiger Verfahrensschritt getrenntes "Annahmeverfahren". Verfassungsbeschwerden werden entweder nicht zur Entscheidung angenommen, dann ist das Verfahren beendet, oder es ergeht eine Entscheidung in der Sache. Eine eigenständige *positive* Annahmeentscheidung gibt es nicht, die Annahmeentscheidung erfolgt mit der Sachentscheidung, und zwar auch ohne eigenständige Tenorierung. Das verstehen übrigens viele Beschwerdeführer und Bevollmächtigte nicht, die glauben, mit der Zustellung einer Verfassungsbeschwerde sei bereits eine positive Annahmeentscheidung ergangen.

Und Du, Levi, hast Duschgriffs Einwand nicht beantwortet:

Hier sind sich alle einig, dass eine unbegründete VB gleichwohl grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung haben kann. Dann geht die Sache aber auch zugleich immer in den Senat, vgl. e contrario § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Der Senat gibt der Verfassungsbeschwerde statt oder er verwirft sie (bei Unzulässigkeit) bzw. weist sie zurück (bei Unbegründetheit).

Es gibt jedoch noch einen weiteren Annahmegrund, nämlich dass die Annahme zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist, § 93a Abs. 2 lit. b BVerfGG. Hinsichtlich *dieses* Annahmegrunds ist nicht denkbar, dass eine unbegründete Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen wird. Dementsprechend umfasst die Entscheidungsgewalt der Kammern nach § 93b Satz 1, § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG nur die Stattgabe oder die Nichtannahme, nicht aber die Verwerfung oder Zurückweisung von Verfassungsbeschwerden.

Für die Handhabung des Verfahrens folgt aus alledem aus Sicht des Berichterstatters am BVerfG:

Man kann als Berichterstatter grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung bejahen. Dann muss man sich hinsichtlich der Begründetheit der Verfassungsbeschwerde nicht zwingend festlegen, sondern kann die Sache auch ohne solche Festlegung in den Senat geben (wobei Senatsvoten in der Praxis so gut wie immer einen Entscheidungsvorschlag in der Sache enthalten). Es kann natürlich immer noch passieren, dass der Senat die grundsätzliche Bedeutung verneint. U.a. darum gibt es auch gelegentlich Nichtannahmebeschlüsse durch den Senat (willkürlich herausgegriffenes Beispiel: BVerfGE 106, 216). Ansonsten ergeht eine Senatsentscheidung in der Sache (Stattgabe/Verwerfung/Zurückweisung) ohne vorherige eigenständige Annahmeentscheidung.

Man kann als Berichterstatter darauf votieren, eine Verfassungsbeschwerde in der Kammer nicht anzunehmen, weil sie weder grundsätzliche Bedeutung hat noch eine Durchsetzungsannahme angezeigt ist. In einem solchen Fall ist es denkbar, Zulässigkeit und Begründetheit nicht durchzuprüfen, etwa weil die Beschwer des Beschwerdeführers nur ganz geringfügig ist. Solche Fälle gibt es auch gelegentlich (Beispiel: Bußgeld wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit iHv 5 Euro). In der Praxis erfolgt allerdings meistens schon eine Sachprüfung. Denn:

Man kann als Berichterstatter darauf votieren, eine Verfassungsbeschwerde zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers in der Kammer anzunehmen. Dies setzt nach der Konzeption von § 93b Satz 1, § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG, der die Praxis folgt, voraus, dass die Verfassungsbeschwerde begründet ist. Es gibt auch hier keine eigenständige Annahmeentscheidung, sondern die Annahme erfolgt in den Gründen des stattgebenden Kammerbeschlusses.

Eine vollständige Abkoppelung von Annahmeentscheidung und inhaltlicher Prüfung der Verfassungsbeschwerde ist damit im Gesetz nicht angelegt und entspricht auch nicht der Praxis.
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Einwendungsduschgriff
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Re: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Einwendungsduschgriff »

Das war jetzt deutlich mehr auf den Punkt, Danke Flanke.
Flanke hat geschrieben: Eine eigenständige *positive* Annahmeentscheidung gibt es nicht, die Annahmeentscheidung erfolgt mit der Sachentscheidung, und zwar auch ohne eigenständige Tenorierung. Das verstehen übrigens viele Beschwerdeführer und Bevollmächtigte nicht, die glauben, mit der Zustellung einer Verfassungsbeschwerde sei bereits eine positive Annahmeentscheidung ergangen.
Die Zustellungsnachricht an den Beschwerdeführer enthält deswegen auch (mittlerweile?) den ausdrücklichen Hinweis, dass die Verfassungsbeschwerde der Kammer bislang nicht zur Entscheidung vorgelegen hat und (sinngemäß), dass eine Entscheidung über die Annahme noch nicht getroffen ist. Eine andere Frage ist, ob man in der Zustellung durch den Vorsitzenden ("Senatszustellung") eine konkludente Annahme sehen kann. Das wird gelegentlich vertreten (so mW im Mitarbeiterkommentar in der 2. Auflage, Fundstelle müsste ich nachreichen, wenn ich wieder fit und im Büro bin), dürfte aber nicht dem Gesetz entsprechen, denn zum einen sind durchaus ehemalige Senatszustellungen im Anschluss in der Kammer entschieden worden und dann selbstverständlich auch mit einem Nichtannahmetenor versehen worden (vgl. z. B. 1 BvR 3276/08), zum anderen widerspricht es meines Erachtens dem Prinzip, dass über die Annahme einer Verfassungsbeschwerde durch einen Spruchkörper beschlossen wird (auch wenn die Annahme in der Regel nur konkludent miterklärt wird) und zum Dritten aus den von Flanke genannten Gründen und dem Beispiel im 106. Band.
Eine vollständige Abkoppelung von Annahmeentscheidung und inhaltlicher Prüfung der Verfassungsbeschwerde ist damit im Gesetz nicht angelegt und entspricht auch nicht der Praxis.
Vermutlich hätte ich dieses Argument betonen sollen. Mein Rekurs auf die Nachrangigkeit des Annahmeverfahrens sollte nicht intendieren, dass immer zuerst Zulässigkeit und Begründetheit festgestellt werden - in der Regel wird aber von einer Annahme abgesehen, weil die Verfassungsbeschwerde unzulässig oder unbegründet ist (Detailfrage: man sieht gelegentlich eine kausale Verknüpfung in den Kammerentscheidungen ["Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie unzulässig ist.], teilweise wird dies mit Grund vermieden ["Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Sie ist jedenfalls unzulässig." ]). Vielmehr ist das Argument als Erwiderung dazu zu verstehen, dass jedenfalls bei der Durchsetzungsannahme das Annahmeverfahren von Gesetz wie Praxis nicht als Vorschaltverfahren angesehen wird. Mit einem Vorschaltverfahren ist - wie gesagt - auch die Verweigerung der Durchsetzungsannahme bei einer an sich zulässigen wie begründeten Verfassungsbeschwerde nicht zu erklären.
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Re: AW: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Einwendungsduschgriff »

Levi hat geschrieben:Bei einer Nicht-Annahme der Verfassungsbeschwerde bleibt die Frage der Zulässigkeit und Begründetheit unentschieden (!). Insofern kann man auch nicht sinnvoll davon sprechen, dass die Beschwerde zulässig und/oder begründet wäre.
Neues Gegenbeispiel hierzu: http://www.bundesverfassungsgericht.de/ ... 79715.html
2 BvR 1797/15, Rn. 12 hat geschrieben:Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist auch begründet. Das angegriffene Urteil des Landgerichts München I vom 20. August 2015 hat die Revision unter der Annahme nicht zugelassen, der Umfang der sekundären Darlegungslast des (beklagten) Inhabers eines Internetanschlusses, von dem aus eine Urheberrechtsverletzung begangen worden ist, sei bereits zu diesem Zeitpunkt durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs umfassend und eindeutig geklärt gewesen. Es hat die maßgebliche Vorschrift des § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO damit in unhaltbarer Weise gehandhabt und den Beschwerdeführer dadurch in seinem Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt.
2 BvR 1797/15, Rn. 15 hat geschrieben:Die Verfassungsbeschwerde ist dennoch nicht zur Entscheidung anzunehmen. Sie hat weder grundsätzliche Bedeutung, da die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits geklärt sind, noch ist sie zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a und b BVerfGG).
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Re: Identitätsfeststellung: konkrete Gefahr?

Beitrag von Tibor »

Obgleich das mE Hohn ist. Das Gericht/Spruchkörper prüft die Sache komplett durch, schreibt die Gründe hierzu nieder um es dann doch nicht zu entscheiden? Aus Blick der Revisionszulassungsgründe (Filterfunktion) unverständlich.
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