Verhältnismäßigkeit: Angemessenheit

Staatsrecht, Allgemeines und Besonderes Verwaltungsrecht (Bau-, Kommunal-, Polizei- und Sicherheitsrecht, BImSchG etc.)

Moderator: Verwaltung

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Greeen
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Verhältnismäßigkeit: Angemessenheit

Beitrag von Greeen »

Guten Tag,

in der Verhältnismäßigkeitsprüfung soll ja bei der Angemessenheit die Wertigkeit des geschützten Rechtsguts der Wertigkeit des beeinträchtigten Rechtsguts gegenüber gestellt werden.

Liege ich da richtig, dass vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte von einer höheren Wertigkeit sind? Kann man Grundrechte einfach nach ihrer Wertigkeit strukturieren?


Außerdem muss auf die Intensität der Beeinträchtigung ohne des Gesetzes/des Einzelakts/des Urteils und auf die Intensität des Eingriffs eingegangen werden, die durch das Gesetz/den Einzelakt/das Urteil bedingt ist.

Folgendes Beispiel aus der Lösungsskizze einer Altklausur: "Die Tötung eines Tieres ohne Betäubung ist eine besonders starke Beeinträchtigung des Tierschutzes" Hat diese Feststellung einen wertenden Hintergrund? Und warum "besonders stark" und nicht einfach "stark"? Es klingt für mich so, als würde dies einfach aus dem Bauchgefühl heraus entschieden. Oder wie stellt man sonst fest, welches Maß der Intensität vorliegt?


Vielen Dank für jede Hilfe!

Grüße
Greeen
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Justitian
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Re: Verhältnismäßigkeit: Angemessenheit

Beitrag von Justitian »

Nein die Grundrechte lassen sich - bis auf Art. 1 I GG - nicht nach Wertigkeiten unterscheiden.

Das ist eine reine Wertung im Einzelfall. Was kannst du dir denn mit Blick auf den Tierschutz Intensiveres vorstellen als Tiere ohne Betäubung zu töten? Eine Intensitätsskala könnte etwa so aussehen: 1. Tiere überhaupt in Käfigen halten 2. Tieren Medikamente geben 3. Tiere auf engem Platz halten 4. Tieren Brandzeichen geben oder andere körperliche Eingriffe vornehmen 5. Tiere mit Betäubung schlachten 6. Tiere ohne Betäubung schlachten 7. Tieren vorsätzlich Schmerzen zufügen 8. eine ganze Art ausrotten

Je stärker der Eingriff in den Tierschutz, desto höher müssen die Anforderungen an den gegenläufigen verfassungsrechtlichen Belang gesetzt werden
"[...] führt das ja nicht dazu, dass eine Feststellungsklage mit dem Inhalt "Wie wird das Wetter morgen?" zulässig wird" - Swann, 01.03.17
Honigkuchenpferd
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Re: Verhältnismäßigkeit: Angemessenheit

Beitrag von Honigkuchenpferd »

Doch, das kann man grds schon. Zumindest gehen viele davon aus, eine entsprechende Wertung hat aber in jedem Fall nur eine geringe Aussagekraft. So liest man tatsächlich vergleichsweise häufig, dass die vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte eine besondere Wertigkeit haben (die sich auch auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung auswirkt). Aber auch sonst gibt es Abstufungen. So spielt die allgemeine Handlungsfreiheit (Art 2 I GG) sicherlich in einer anderen Liga als das Recht auf Leben (Art 2 II 1 GG), wenngleich beide iE einen einfachen Gesetzesvorbehalt vorsehen.

Richtig ist aber, dass es entscheidend auf den Einzelfall und die Belange ankommt, die sich dabei konkret gegenüberstehen. Dieser abstrakte Vergleich kann also nur ein eines von mehreren Argumenten sein, und es ist sicherlich niemals das wichtigste.

Im Übrigen gibt es - um auch noch diesen Teil der Frage des TE zu beantworten - hier letztlich keine (wirklich) "objektiven" Maßstäbe. Das höchste der Gefühl ist, die eigenen Wertungen für andere möglichst transparent und nachvollziehbar zu machen.
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Justitian
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Re: Verhältnismäßigkeit: Angemessenheit

Beitrag von Justitian »

Im Zweifel sind alle Grundrechte besonders wichtig. Man liest solche Aussagen schon manchmal in der Rechtsprechung aber ich wäre da äußerst vorsichtig, das ist viel zu pauschal und man bekommt nicht gerade den Eindruck als hätte sich der verfassungsgebende Gesetzgeber etwas dabei gedacht. Sonst müsste das Recht auf Leben weniger Wert sein als etwa die Kunstfreiheit.
"[...] führt das ja nicht dazu, dass eine Feststellungsklage mit dem Inhalt "Wie wird das Wetter morgen?" zulässig wird" - Swann, 01.03.17
Honigkuchenpferd
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Re: Verhältnismäßigkeit: Angemessenheit

Beitrag von Honigkuchenpferd »

Letzteres ist ja auch ein gängiges Beispiel für die Inkonsequenz des - im Übrigen allerdings allgemein anerkannten - Systems abgestufter Grundrechtsbeschränkungsvoraussetzungen (einfache Gesetzesvorbehalte, qualifizierte Gesetzesvorbehalte, keine Gesetzesvorbehalte). Zum Teil führt man hier wie bei Art 4 I und II GG sogar erbitterte Auseinandersetzungen, ob es sich um ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht handelt oder nicht.

In einer Klausur kann es sich daher eben schon empfehlen, kurz etwas dazu zu sagen, insbesondere wenn es um Art 2 I GG geht.
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Urs Blank
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Re: Verhältnismäßigkeit: Angemessenheit

Beitrag von Urs Blank »

Honigkuchenpferd hat geschrieben:Im Übrigen gibt es - um auch noch diesen Teil der Frage des TE zu beantworten - hier letztlich keine (wirklich) "objektiven" Maßstäbe. Das höchste der Gefühl ist, die eigenen Wertungen für andere möglichst transparent und nachvollziehbar zu machen.
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