Ein Lichtblick aus der Wissenschaft: Erb, NStZ 2011, 186

Straf-, Strafprozeß- und Ordnungswidrigkeitenrecht sowie Kriminologie

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T0bi
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Ein Lichtblick aus der Wissenschaft: Erb, NStZ 2011, 186

Beitrag von T0bi »

Hallo!

Hitzig haben wir diskutiert über den Fall "Sven G.". In aller Kürze: Ein nicht vorbestrafter Informatikstudent, der nachts an einem Bahnhof von einem alkoholisierten und kampferprobten Schläger angegriffen wird, sticht zur Verteidigung mit einem mitgeführten Messerchen lebensgefährlich zu. Nicht der Angreifer wird verurteilt, sondern bekommt letztlich sogar noch ein Schmerzensgeld zugesprochen. Der Angegriffene hingegen wandert in Haft. Kein § 32 StGB. Kein § 33 StGB. Nicht mal § 213 StGB. Leider hat sich Swanns Hoffnung, dass am Ende des Verfahrens eine Bewährungsstrafe steht, nicht bewahrheitet: Der Angegriffene wurde zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 3 Monaten verurteilt. Nach wie vor finde ich diesen Fall und die Entscheidungen von LG München I und BGH einen Hohn auf das Notwehrrecht. Mit welcher Arroganz sich die Justiz der Lebenswirklichkeit entzieht, hat mich damals wirklich betroffen gemacht.

Nun endlich ein Echo aus der Wissenschaft: In der aktuellen NStZ zerreißt Prof. Erb (Kommentator von §§ 32 ff. StGB im MüKo) die Urteile in aller Deutlichkeit. Für alle, die damals an der Diskussion teilgenommen haben, aber auch alle anderen, möchte ich hier eine Leseempfehlung aussprechen. Der Artikel enthält eine Analyse des ersten Urteils des LG München I, die noch Schlimmeres zu Tage fördert (nämlich das, auch nach sachverständiger Auffassung, schon die Erforderlichkeit gegeben war) als noch die Lektüre des Revisionsurteils vermuten ließ.
Die Entscheidung ist in jeder Hinsicht unhaltbar und führt im Ergebnis zu einer gesetzeswidrigen Vertauschung der Rollen von Täter und Opfer. (..) Die bayerische Justizministerin ist aufgefordert, die Staatsanwaltschaft anzuweisen, ein [Wiederaufnahmeverfahren] zur Ausräumung des offenkundigen Justizunrechts unverzüglich und mit größtem Nachdruck von Amts wegen zu betreiben.
Hoffentlich findet der Artikel ein breites Echo. Denn so kann es mit dem Notwehrrecht definitiv nicht weitergehen.

Grüße
Tobi
"die Bezeichnung Penner hat nicht...stets beleidigenden...Charakter. So werden etwa im Einzelhandel umgangssprachlich schlecht verkäufliche Artikel...im Gegensatz zum Renner auch als Penner bezeichnet (wikipedia.de)" (BayVGH NZA-RR 2012, 302)
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Re: Ein Lichtblick aus der Wissenschaft: Erb, NStZ 2011, 186

Beitrag von Swann »

Ich fand es auch ermutigend, diesen Aufsatz zu lesen. Deine düstere Prognose kann ich allerdings nicht ganz teilen. In dem Fall waren ja für den der Gerechtigkeit spottenden Ausgang des Verfahrens die skandalösen Feststellungen des LG München verantwortlich. Da kann der BGH wenig machen.

Wenn du dir, mal wahllos ausgesucht, zB diese unlängst ergangene Entscheidung ansiehst, wirst du feststellen, dass das Notwehrrecht nicht ganz verloren ist:

http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-b ... lank=1.pdf
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Re: Ein Lichtblick aus der Wissenschaft: Erb, NStZ 2011, 186

Beitrag von T0bi »

Nun, wie Erb nachweist, hätte der BGH im Lichte seiner Rspr das Urteil auch hinsichtlich des Schuldspruches aufheben müssen (ebenda, S. 192); er hat aber vielmehr das Rechtsmittel insoweit für offensichtlich unbegründet gehalten. Unabhängig davon: Verloren ist das Notwehrrecht sicherlich nicht, das stimmt. Aber so lange es solche Urteile gibt, kann man die bestenfalls als tatrichterlich-abenteuerlich zu bezeichnende Entwicklung nicht auf sich beruhen lassen. Das klingt auch bei Erb an, der insoweit ja auch allgemeine Missstände bei der Behandlung der Notwehr aufgreift.
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Re: Ein Lichtblick aus der Wissenschaft: Erb, NStZ 2011, 186

Beitrag von Torquemada »

1) So sieht übrigens das "Messerchen" aus. (Verwaister Link http://images.knifecenter.com/knifecenter/randallking/images/RAK4.jpg automatisch entfernt)

2) Hat sowas heutzutage jeder um den Hals? Und, wenn nein, wollen wir wirklich, dass sich das unter jungen Leuten einbürgert? Wollen wir wirklich, dass nach jeder Diskothekenschlägerei einer tot daliegt und der Messerstecher freigesprochen werden muss, weil - wie es in der Regel der Fall ist - nicht mehr geklärt werden kann, wer angefangen hat? Rechtspolitisch sind daher Entscheidungen wie BGH 5 StR 530/10 sehr bedenklich.

3) Um mal eine klare Gegenposition einzunehmen: Soweit sich das ohne persönlichen Eindruck von den Akteuren (den Herr Erb aber vermutlich auch nicht hat) sagen lässt, ist das Urteil vertretbar. Herr Erb greift in der Sache und im Ton massiv daneben.
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Re: Ein Lichtblick aus der Wissenschaft: Erb, NStZ 2011, 186

Beitrag von Quietsche-Ente »

Swann hat geschrieben: Wenn du dir, mal wahllos ausgesucht, zB diese unlängst ergangene Entscheidung ansiehst, wirst du feststellen, dass das Notwehrrecht nicht ganz verloren ist:

http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-b ... lank=1.pdf
Vorallem: Der GBA hat sich der Revision der StA Berlin nicht angeschlossen... Das will was heißen.
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Re: Ein Lichtblick aus der Wissenschaft: Erb, NStZ 2011, 186

Beitrag von Quietsche-Ente »

Torquemada hat geschrieben:1) So sieht übrigens das "Messerchen" aus. (Verwaister Link http://images.knifecenter.com/knifecenter/randallking/images/RAK4.jpg automatisch entfernt)

2) Hat sowas heutzutage jeder um den Hals? Und, wenn nein, wollen wir wirklich, dass sich das unter jungen Leuten einbürgert?
Nein, das will niemand. Aber darauf kommt es eben de lege lata nicht an.
Hervorragend insofern der 5. Strafsenat (siehe die hier schon angeführte Entscheidung), der das Notwehrrecht wieder auf dessen originären Inhalt zurückführt. Und dieser Inhalt lautet schlicht und einfach: Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen.

PS: Ich nehme gerne resolut die Gegen-Gegenposition ein: Das Urteil ist absolut unvertretbar.
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Re: Ein Lichtblick aus der Wissenschaft: Erb, NStZ 2011, 186

Beitrag von Torquemada »

Quietsche-Ente hat geschrieben:
Torquemada hat geschrieben:1) So sieht übrigens das "Messerchen" aus. (Verwaister Link http://images.knifecenter.com/knifecenter/randallking/images/RAK4.jpg automatisch entfernt)

2) Hat sowas heutzutage jeder um den Hals? Und, wenn nein, wollen wir wirklich, dass sich das unter jungen Leuten einbürgert?
Nein, das will niemand. Aber darauf kommt es eben de lege lata nicht an.
Hervorragend insofern der 5. Strafsenat (siehe die hier schon angeführte Entscheidung), der das Notwehrrecht wieder auf dessen originären Inhalt zurückführt. Und dieser Inhalt lautet schlicht und einfach: Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen.
De lege lata? In meiner Ausgabe des StGB steht, dass nur derjenige durch Notwehr gerechtfertigt ist, dessen Verteidigung nach Art und Intensität „erforderlich” ist. In meinem Gesetzestext steht nicht, dass es „erforderlich” ist, wenn sich ein kräftiger erwachsener Mann (mit drei ebenfalls erwachsenen Freunden bzw. Bekannten an seiner Seite) gegen den mit bloßen Händen durchgeführten und obendrein zunächst erfolglosen Angriff eines angetrunkenen jugendlichen Randalierers, der nur seinen Frust in etwas Krawall umsetzen will, gleich durch einen auf geradezu hinterhältige Art* ausgeführten, potentiell tödlichen Messerstich zur Wehr setzt.

(Das Gegenteil ergibt sich auch nicht aus der zitierten Entscheidung BGH 5 StR 530/10, so bedenklich diese ist - da war der Angegriffene auf sich allein gestellt, und er war, was noch wichtiger ist, durch einen erfolgreichen Überraschungsangriff schon in eine schlechte Verteidigungsposition gebracht worden.)

[*geändert - natürlich nicht "Heimtücke" iSv § 211 StGB]
Zuletzt geändert von Torquemada am Samstag 26. März 2011, 07:46, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Ein Lichtblick aus der Wissenschaft: Erb, NStZ 2011, 186

Beitrag von Quietsche-Ente »

Torquemada hat geschrieben: In meiner Ausgabe des StGB steht, dass nur derjenige durch Notwehr gerechtfertigt ist, dessen Verteidigung nach Art und Intensität „erforderlich” ist. In meinem Gesetzestext steht nicht, dass es „erforderlich” ist, wenn sich ein kräftiger erwachsener Mann (mit drei ebenfalls erwachsenen Freunden bzw. Bekannten an seiner Seite) gegen den mit bloßen Händen durchgeführten und obendrein zunächst erfolglosen Angriff eines angetrunkenen jugendlichen Randalierers, der nur seinen Frust in etwas Krawall umsetzen will, gleich durch einen offenbar geradezu mit Heimtücke ausgeführten, potentiell tödlichen Messerstich zur Wehr setzt.
Was Du behauptest, steht allerdings nicht in meiner Ausgabe des StGB. Dort steht nicht, dass

1) man sich seiner vermeintlichen Unterstützer bemächtigen muss, um einen Angriff abzuwehren.
2) man erst mit dem Messer imponieren muss, um in einer akuten Notwehrlage tätig zu werden.
3) man erst mit dem angetrunkenen Gewohnheitstäter diskutieren muss. (Ex-ante-Sicht!)

Der Heimtückevorwurf ist absurd. Heimtücke = Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit. Das scheidet erkennbar aus.
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Re: Ein Lichtblick aus der Wissenschaft: Erb, NStZ 2011, 186

Beitrag von T0bi »

Torquemada hat geschrieben:2) Hat sowas heutzutage jeder um den Hals? Und, wenn nein, wollen wir wirklich, dass sich das unter jungen Leuten einbürgert? Wollen wir wirklich, dass nach jeder Diskothekenschlägerei einer tot daliegt und der Messerstecher freigesprochen werden muss, weil - wie es in der Regel der Fall ist - nicht mehr geklärt werden kann, wer angefangen hat?
Das ist rechtlich etwas diffus. Was schwebt dir vor: Eine Verschärfung des Waffenrechts? Eine Ausweitung des Tatbestandes des § 231 StGB? Eine restriktivere Auslegung der Erforderlichkeit und der asthenischen Exzessmerkmale? Eine noch stärkere Betonung der sozialethischen Schranken der Notwehr?

De lege lata und nach stRspr zur Auslegung des § 32 StGB jedenfalls ist deine Auffassung mit dieser Begründung nicht haltbar.
Torquemada hat geschrieben:In meinem Gesetzestext steht nicht, dass es „erforderlich” ist, wenn sich ein kräftiger erwachsener Mann (mit drei ebenfalls erwachsenen Freunden bzw. Bekannten an seiner Seite) gegen den mit bloßen Händen durchgeführten und obendrein zunächst erfolglosen Angriff eines angetrunkenen jugendlichen Randalierers, der nur seinen Frust in etwas Krawall umsetzen will, gleich durch einen auf geradezu hinterhältige Art* ausgeführten, potentiell tödlichen Messerstich zur Wehr setzt.
Jetzt möchtest du dich - beinahe noch schlimmer als das LG München, das insoweit keinen Beweis erhob - über die sachverständige Auffassung der Einsatztrainer der hessischen Polizei erheben? Was qualifiziert dich dazu, deine Erfahrung bei der Selbstverteidigung, dein gesunder Menschenverstand?
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Re: Ein Lichtblick aus der Wissenschaft: Erb, NStZ 2011, 186

Beitrag von Torquemada »

T0bi hat geschrieben:De lege lata und nach stRspr zur Auslegung des § 32 StGB jedenfalls ist deine Auffassung mit dieser Begründung nicht haltbar.
Ah ja. Und den an diesem Fall beteiligten Justizjuristen, darunter einem kompletten Strafsenat des BGH (der die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erklärt hat), ist das Gesetz und die „ständige Rechtsprechung zu § 32 StGB” unbekannt? Wenn man nicht - wie dies allerdings Herr Erb in seinem grotesken Furor offenbar tun will - davon ausgeht, dass die allesamt in einer geradezu rechtsbeugerischen Diskriminierungstendenz gegenüber 30jährigen, unbescholtenen und noch bei Mutti wohnenden deutschen Informatikstudenten befangen waren, scheint doch der Rechtsbegriff der „Erforderlichkeit” auch nach Ansicht des BGH durchaus gewisse Differenzierungen zu ermöglichen.

Ich bin nicht dafür, die zunehmende Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen zu verharmlosen: Man muss dringend überlegen, wie man dem wirksam entgegentreten kann - vielleicht muss hier härter und schneller gestraft werden. Es ist aber ganz bestimmt ein Irrweg, statt dessen im Sinne von Herrn Erb (der solchen Stuss ja nicht zum ersten Mal schreibt) „das Notwehrrecht zu stärken” - in dem Sinne, das man die vorhandenen Auslegungsspielräume in extensiver Hinsicht nutzt - mit der Folge, dass aus bloßen Prügeleien unter Beteiligung angetrunkener Halbstarker unter Billigung der Rechtsordnung vermehrt Messerstechereien mit Toten und Schwerstverletzten werden. Die an diesem Fall beteiligten Justizjuristen (s.o.) haben deshalb für meine Begriffe ein gutes Judiz bewiesen - ein besseres jedenfalls, als diejenigen, die hier mit gedankenlos nachgeplapperten Lehrbuchweisheiten à la „das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen” ankommen.
T0bi hat geschrieben:Jetzt möchtest du dich - beinahe noch schlimmer als das LG München, das insoweit keinen Beweis erhob - über die sachverständige Auffassung der Einsatztrainer der hessischen Polizei erheben?
Ich glaube keine Sekunde, dass es „polizeiliche Einsatztrainer” gibt, die im Ernst dafür plädieren, in der gegebenen Situation einen angetrunkenen Jugendlichen, der ein wenig boxen will, ohne Vorwarnung mit einem Messer in den Hals zu stechen.
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Re: Ein Lichtblick aus der Wissenschaft: Erb, NStZ 2011, 186

Beitrag von Swann »

An Torquemada:

In einer Urteilsbesprechung ist es ein schlechtes Argument auf die Befähigung der beteiligten Richter abzuheben. Wenn wir aber schon über die Richter sprechen, dann sollte nicht unerwähnt bleiben, dass der Fall vom 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs entschieden wurde, der - wenn er nicht gerade einen Kreuzzug im Steuerstrafrecht führt - alles hält, was irgendwie noch zu halten ist. Kann man daraus ein Argument ableiten? Eher nicht.

Ich denke weiterhin, dass dein erster Beitrag ehrlicher war als dein zweiter. Der Grund, warum du die Versagung des Notwehrrechts durch das LG München für richtig hältst, ist m. E. weniger im Notwehrrecht selbst, d. i. in der Auslegung des Erforderlichkeitsmerkmals, als vielmehr in policy-Argumenten außerhalb des Notwehrrechts begründet. Nun kann man gerne darüber diskutieren, ob unser scharfes Notwehrrecht, das tödliche Trutzwehr sogar zum Schutz von Sachwerten zulässt, in der Sache noch berechtigt ist; vor allem, weil sich Gerichte offenbar bemüßigt fühlen, das Fehlen einer Angemessenheitsprüfung der Verteidigungshandlung durch überspannte Anforderungen an die Erforderlichkeit zu kompensieren. Das hat aber m. E. in der Auslegung des geltenden Rechts nichts zu suchen.

Es mag sein, dass der Bundesgerichtshof meint, Spielräume bei der Bewertung der Erforderlichkeit zu haben. Das darf aber nicht dazu führen, dass man sich mit Jugendlichen, die - in deinen Worten - ein wenig boxen möchten und Krawall suchen, auf einen Kampf mit ungewissem Ausgang einlassen muss.
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Re: Ein Lichtblick aus der Wissenschaft: Erb, NStZ 2011, 186

Beitrag von T0bi »

Torquemada, dein Vertrauen in die Strafjustiz in allen Ehren, aber gerade im Strafrecht gibt es immer wieder Entscheidungen, die zum Himmel stinken. Zugegeben mögen diese seltener vom LG München ausgehen, was aber nicht heißt, dass sich die dortige Justiz Kritik von Außen nicht auch stellen müsste. Man muss immerhin auch Prof. Erb zugestehen, dass er sicherlich keiner willkürlichen und wahnhaften Verfolgung der bayerischen Strafjustiz erlegen ist.

Zur Sache: Ich finde deine Ansicht ist im Ergebnis durchaus vertretbar - aber eben nur de lege ferenda. Natürlich kann man das Rechtsbewährungsprinzip hintanstellen und statt dessen eine Proportionalitätssicht vertreten, schließlich ist das in anderen Rechtsordnungen gerade so der Fall. Aber de lege lata ist dies nun einmal nicht haltbar. Das zeigt gerade auch ein Vergleich zwischen § 32 StGB und §§ 34; 35 StGB, und zwar nicht ein Vergleich anhand der überkommenden Auslegungen, sondern anhand der Buchstaben des Gesetzes. Du kannst § 32 StGB nicht isoliert betrachten und allzu große Auslegungsspielräume sehen. Die gibt es de iure nicht. Das haben Wissenschaft und Praxis schon vor langer Zeit erkannt, als sie die sozialethischen Schranken ersonnen haben.
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Re: Ein Lichtblick aus der Wissenschaft: Erb, NStZ 2011, 186

Beitrag von Urs Blank »

Bemerkenswert an dem Aufsatz von Erb finde ich vor allem den völlig unangemessenen Ton, mit dem er ein durchaus diskutables Urteil zum Skandal erklärt.

Bereits in der Einleitung werden Ressentiments geschürt: Hier der Durchschnittsbürger (der freilich, wie sich dann erweist, nicht nur ein Messer um den Hals trägt, sondern praktischerweise zuhause auch gleich einen Baseballschläger und eine Streitaxt zur Hand hat, um sich weiter zu verteidigen), dort der notorische Schläger. Diese parteiliche Zuschreibung zieht sich durch den gesamten Text.

An die Stelle der Beweiswürdigung der Kammer, die sich in der mündlichen Verhandlung ein ausführliches Bild hatte machen können, setzt Erb seine ganz private Beweiswürdigung vom grünen Tisch. Statt starker Argumente bietet er dabei leider nur starke Worte: Lebensfremd, abenteuerlich, zynisch, ignorant – das ganze Vokabular des Vorstadtverteidigers.

Schließlich als Krönung die Forderung, einen Straftatbestand der „leichtfertigen Verfolgung Unschuldiger“ einzuführen.

Meint Erb, nur auf diese Weise noch Aufmerksamkeit zu erhalten? Ein peinliches Pamphlet, für den Autor ebenso wie für die NStZ.
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Re: Ein Lichtblick aus der Wissenschaft: Erb, NStZ 2011, 186

Beitrag von Swann »

Um mal eine weitere aktuelle Entscheidung zu zitieren. In BGH 3 StR 450/10 hat der 3. Strafsenat ein offenbar schlecht geschriebenes tatrichterliches Urteil aufgehoben, in dem der Angeklagte ohne Vorwarnung auf zwei mehr oder weniger Betrunkene eingestochen hat, die ihn aus einer Wohnung drängen wollte, die der Angeklagte betreten hat, um für Ruhe zu sorgen.


http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-b ... 12&anz=632

Pech für den Angeklagten im Ausgangsfall, dass er das Unglück hatte, in die Zuständigkeit des 1. Strafsenates zu fallen.
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Re: Ein Lichtblick aus der Wissenschaft: Erb, NStZ 2011, 186

Beitrag von T0bi »

Interessant für die Diskussion wiederum:
ebenda, Tz. 16 hat geschrieben:Der Auffassung des Landgerichts, die Messerstiche wären jedenfalls nicht im Sinne von § 32 Abs. 1 StGB geboten gewesen, kann sich der Senat nicht anschließen. Der Angegriffene muss von einer erforderlichen Verteidigungshandlung nicht bereits dann absehen, wenn zwischen der dem Angreifer dadurch drohenden Rechtsgutverletzung und dem angegriffenen eigenen Rechtsgut ein Ungleichgewicht besteht. Rechtsmissbräuchlich und damit nicht mehr geboten ist eine Verteidigungshandlung vielmehr erst dann, wenn die jeweils bedrohten Rechtsgüter zueinander in einem unerträglichen Missverhältnis stehen, etwa wenn die - wie hier - Leib oder Leben des Angreifers gefährdende Handlung der Abwehr eines evident bagatellhaften, bloßem Unfug nahe kom-menden Angriffs dient (vgl. Fischer aaO § 32 Rn. 39). Bei dem vom Angeklagten befürchteten "Hinauskatapultieren" mit der Gefahr nicht unerheblicher Ver-letzungen infolge eines Sturzes oder eines Aufpralls auf der Wand kann davon keine Rede sein.
Wie hier in Bezug auf das Urteil des LG München noch von einem "diskutablen" Urteil gesprochen werden kann, erschließt sich mir nach wie vor nicht. Über den Ton des Aufsatzes kann man trefflich streiten; das ist hier m.E. jedoch das geringste Problem angesichts von 3 Jahren und 3 Monaten Freiheitsstrafe.
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