Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Straf-, Strafprozeß- und Ordnungswidrigkeitenrecht sowie Kriminologie

Moderator: Verwaltung

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Eagnai
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von Eagnai »

Samson hat geschrieben:Dass ich mich zuletzt mit der Frage befasst habe, ob Sitzblockaden "Gewalt" im Sinne des § 240 StGB sind, ist etwas her, aber wenn ich mich recht erinnere, ist das doch der Fall, oder?
Das kann man so nicht sagen.

Es hängt vom konkreten Einzelfall ab - u.a. davon, gegen wen sich die Blockade richtet (gegen andere Fußgänger, gegen Autofahrer in erster und/oder auch in zweiter Reihe, vgl. die "Zweite-Reihe-Rechtsprechung" des BVerfG), in welcher Form die Blockierer konkret agieren (ob sie sich einfach nur passiv auf den Boden setzen oder sich aktiv irgendwo anketten, gegenseitig unterhaken o.ä.) und ob die Blockade für die potentiell Genötigten rein physisch überwindbar ist oder nicht.
Samson hat geschrieben:Kann mir dann jemand erklären, wieso Blockaden angesichts des AFD-Parteitags immer wieder als "friedlich" bezeichnet werden?
Unabhängig davon, ob im konkreten Einzelfall nun rein rechtlich eine Nötigung vorliegt oder nicht: Der im Strafrecht beim Nötigungstatbestand verwendete Gewaltbegriff stimmt eben nicht komplett mit dem im allgemeinen Sprachgebrauch verwendeten überein. Der Normalmensch versteht unter "Gewalt" im Normalfall eher ein Verhalten, das den Tatbestand der Körperverletzung oder der Freiheitsberaubung erfüllt (z.B. wenn A dem B eine reinhaut), aber nicht ein Verhalten wie das Festketten an Gleisen, das niemandem direkt schadet.

In ähnlicher Weise wird ja in der Öffentlichkeit auch oft von "Raub" gesprochen, wenn tatsächlich nur Diebstahl vorliegt, oder werden Begriffe wie "Eigentum" und "Besitz" vermischt.
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Urs Blank
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von Urs Blank »

Berliner Zeitung hat geschrieben:Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) und Polizeipräsident Klaus Kandt haben die Entscheidung verteidigt, die „Revolutionäre 1. Mai Demonstration“ durch Berlin-Kreuzberg ziehen zu lassen, obwohl sie nicht angemeldet war. Die Route der rund 8000 Demonstranten führte auch über Teile des Myfestes. „Wir haben vermieden einzugreifen, um keine Eskalation auf das Fest zu tragen“, sagte Kandt.
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Urs Blank
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von Urs Blank »

Heute Abend: Nicht besonders erhellende, aber sehr unterhaltsame Panorama-Sendung zu den Cum-Ex-Geschäften, sicherlich jetzt in der ARD-Mediathek.

Spoiler: Am Schluss Kameraschwenk auf Rechtsanwalt Hanno Berger, wie er vom Balkon seiner Schweizer Exilwohnung die Journalisten mit einem Opernglas ins Visier nimmt.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von [enigma] »

Urs Blank hat geschrieben:Heute Abend: Nicht besonders erhellende, aber sehr unterhaltsame Panorama-Sendung zu den Cum-Ex-Geschäften, sicherlich jetzt in der ARD-Mediathek.

Spoiler: Am Schluss Kameraschwenk auf Rechtsanwalt Hanno Berger, wie er vom Balkon seiner Schweizer Exilwohnung die Journalisten mit einem Opernglas ins Visier nimmt.
Dazu gab es erst vor ein paar Tagen nen lesenswerten Artikel auf Zeit Online, afaik sogar begleitend zur Panorama Sendung.

EDIT: http://www.zeit.de/2017/24/cum-ex-steue ... mittlungen
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von Eagnai »

Weil?
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von [enigma] »

Eagnai hat geschrieben:Weil?
Weil es in der Praxis dazu führen wird, dass die Polizei mit Generalauftrag der StA wild drauf los laden wird und es faktisch kaum noch eine Möglichkeit geben wird, sich der Zeugenvernehmung bei der Polizei zu entziehen. Etwa, weil man selbst in die Sache verwickelt ist, aber noch nicht als Beschuldigter geführt wird und nicht ohne Not an seiner eigenen Überführung mitwirken möchte. Es hat ja Gründe, warum Zeugen in der Regel davon abzuraten ist, einer polizeilichen Einladung nachzukommen, vor allem ohne Anwalt. Für Strafverteidiger dürfte die Neuregelung allerdings durchaus lukrativ sein.
Zuletzt geändert von [enigma] am Samstag 24. Juni 2017, 18:07, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von thh »

Sympathiebeamter hat geschrieben:Ich möchte hier mal insbesondere die Neuregelung des § 163 III StPO zur Diskussion stellen:

http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/112/1811277.pdf

Ich persönlich halte das für ganz groben Unfug.
Im Gegenteil - seitdem (nicht nur online) gerne dazu geraten wird, grundsätzlich nicht bei der Polizei zu erscheinen, nimmt die entsprechende Weigerung von Zeugen zu; diese müssen dann dementsprechend staatsanwaltschaftlich vernommen werden. Das skaliert aber nicht; wollte man das beibehalten, müsste man (noch deutlich mehr) zusätzliche Stellen bei der Staatsanwaltschaft schaffen, nur damit dann teure und einerseits völlig überqualifizierte Juristen, die andererseits aber das Vernehmen nie gelernt haben, das anstelle der Polizei zu tun (oder, in der Praxis gerne, dabeizusitzen, während die Polizei die Vernehmung führt).

Insofern war diese lang diskutierte Änderung überfällig, mag sie auch ihre Schwächen haben; die behaupteten Probleme sehe ich aber bisher nicht als besonders praxisrelevant.

(Das ist übrigens einmal wieder ein schönes Beispiel dafür, wie die exzessive Nutzung bestehender Rechte dazu führt, dass die Rechtslage geändert werden muss, mit allen damit potentiell verbundenen Nachteilen. Gleiches gilt übrigens auch für die Änderungen hinsichtlich des Ablehnungsverfahrens und des Beweisantragsrechts.)
[enigma] hat geschrieben:Weil es in der Praxis dazu führen wird, dass die Polizei mit Generalauftrag der StA wild drauf los laden wird und es faktisch kaum noch eine Möglichkeit geben wird, sich der Zeugenvernehmung bei der Polizei zu entziehen.
Ersteres ist eine Frage der verantwortlichen Handhabung, letzteres ja gerade das Ziel: die Polizei soll (und muss) im Regelfall die Zeugenvernehmungen führen.
[enigma] hat geschrieben:Etwa, weil man selbst in die Sache verwickelt ist, aber noch nicht als Beschuldigter geführt wird und nicht ohne Not an seiner eigenen Überführung mitwirken möchte.
Dann beruft man sich auf sein Recht aus § 55 StPO, über das belehrt werden muss; ist das zu schwierig, zieht man einen Anwalt hinzu.

Das wäre in einer staatsanwaltschaftlichen Vernehmung nicht anders.
[enigma] hat geschrieben:Es hat ja Gründe, warum Zeugen in der Regel davon abzuraten ist, einer polizeilichen Einladung nachzukommen,
Die Ladung ist auch bisher schon keine "Einladung", sondern eine Vorladung. Und genau dieser Rat, der zunehmend befolgt wird, hat - vorhersehbar - nun zu der schon länger diskutierten Änderung geführt.
[enigma] hat geschrieben: Für Strafverteidiger dürfte die Neuregelung allerdings durchaus lukrativ sein.
Eher weniger. Die wären ja vermutlich - auch und gerade! - zu einer staatsanwaltschaftlichen Vernehmung hinzugezogen worden.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von [enigma] »

thh hat geschrieben:
[enigma] hat geschrieben:Es hat ja Gründe, warum Zeugen in der Regel davon abzuraten ist, einer polizeilichen Einladung nachzukommen,
Die Ladung ist auch bisher schon keine "Einladung", sondern eine Vorladung. Und genau dieser Rat, der zunehmend befolgt wird, hat - vorhersehbar - nun zu der schon länger diskutierten Änderung geführt.
Dass Zeugen von Anwälten regelmäßig dazu geraten wurde, nicht zur polizeilichen Vernehmung zu gehen, kam ja nicht von ungefähr. Ich verfüge zugegebenermaßen nur über geringe praktische Berufs- bzw. Ausbildungserfahrung im Strafrecht, habe in den Stationen bei Gericht, Strafverteidiger und StA aber mehrere Fälle mitbekommen, in denen die Polizei extremen Druck auf unerfahrene und nicht anwaltlich vertretene Zeugen aufgebaut hat und in denen die Zeugen am Ende hoch und heilig geschworen haben, dass der Inhalt des Protokolls kaum etwas mit ihrer Aussage zu tun hatte. Das führte auch in den Hauptverhandlungen häufig eher nicht zu einer Vereinfachung oder Verkürzung des Verfahrens. Und wenn man sich mal anschaut, wie leger StA und Polizei teilweise mit ihren Eilkompetenzen umgehen, teile ich deinen Optimismus eher nicht.

Ich verstehe auch nicht, warum die Tatsache, dass Zeugen von ihrem Recht Gebrauch machen, nicht zur polizeilichen Vernehmung zu erscheinen, dafür sprechen sollte, ihnen dieses Recht zu nehmen.

Es ist im Übrigen auch gerade nicht der Fall, dass die StA bisher einfach alle Zeugen geladen hat, die nicht zur Polizei gekommen sind und man nur diesen Weg verkürzt. Gerade die angespannte Personalsituation in der Justiz hatte ja den ungewollten aber nicht unbedingt verkehrten Nebeneffekt, dass man sich vor der Ladung durch die StA eher zweimal überlegt hat, ob man den Zeugen denn nun braucht oder nicht.
[enigma] hat geschrieben:
Eher weniger. Die wären ja vermutlich - auch und gerade! - zu einer staatsanwaltschaftlichen Vernehmung hinzugezogen worden.
Siehe oben. Es ist damit zu rechnen, dass aufgrund der Neuregelung deutlich mehr Zeugen zur Aussage verpflichtet sein werden als zuvor.
(Das ist übrigens einmal wieder ein schönes Beispiel dafür, wie die exzessive Nutzung bestehender Rechte dazu führt, dass die Rechtslage geändert werden muss, mit allen damit potentiell verbundenen Nachteilen. Gleiches gilt übrigens auch für die Änderungen hinsichtlich des Ablehnungsverfahrens und des Beweisantragsrechts.)
Wie gesagt, dass Rechte exzessiv wahrgenommen werden und teilweise auch missbraucht werden mögen, kann schlecht alleine als Begründung zur Aberkennung dieses Rechts dienen. Zeugnisverweigerungsrechte sind auch ziemlich lästig für die Justiz, da sägt ja aus gutem Grund auch keiner dran. Welchen Sinn sollen die Zeugen- und Beschuldigtenrechte denn haben, wenn man sie nur gewährt, solange sie der Justiz keine Probleme auf dem Weg zur Verurteilung machen? Die Gegenseite der angeblich zu exzessiven Nutzung von Verteidigungsrechten ist übrigens beispielsweise die zu exzessive Ablehnung von Beweisanträgen durch die Gerichte oder die Berücksichtigung apokrypher Haftgründe. Ist ja nicht so, als würden immer nur die bösen Angeklagten und Verteidiger unfair spielen. Trotzdem bin ich nicht der Meinung, dass die Gerichte jedem Beweisantrag stattgeben müssten oder man Untersuchungshaft abschaffen sollte.
Zuletzt geändert von [enigma] am Samstag 24. Juni 2017, 19:06, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von thh »

[enigma] hat geschrieben:Dass Zeugen von Anwälten regelmäßig dazu geraten wurde, nicht zur polizeilichen Vernehmung zu gehen, kam ja nicht von ungefähr. Ich verfüge zugegebenermaßen nur über geringe Berufs- bzw. Ausbildungserfahrung im Strafrecht, habe in den Stationen bei Gericht, Strafverteidiger und StA aber mehrere Fälle mitbekommen, in denen die Polizei extremen Druck auf unerfahrene und nicht anwaltlich vertretene Zeugen aufgebaut hat und in denen die Zeugen am Ende hoch und heilig geschworen haben, dass der Inhalt des Protokolls kaum etwas mit ihrer Aussage zu tun hatte.
Ja, das hatte ich auch schon. Bei Vernehmungen, bei denen ich durchgehend anwesend war und die ich im Wesentlichen selbst geführt und protokolliert habe. - Insofern stellt sich dann eben die Frage, ob die Darstellung des Zeugen, der nicht gelten lassen will, was er gesagt haben soll, stimmt oder nicht.

(Oh, und ich kenne freilich auch einige Fälle - und Beamte -, bei denen ich ganz Deiner Meinung bin.)
[enigma] hat geschrieben:Ich verstehe auch nicht, warum die Tatsache, dass Zeugen von ihrem Recht Gebrauch machen, nicht zur polizeilichen Vernehmung zu erscheinen, dafür sprechen sollte, ihnen dieses Recht zu nehmen.
Weil sie dann staatsanwaltschaftlich - oder gar richterlich - zu vernehmen sind und das in der Regel, wenn eine auch nur geringe Relevanz besteht, auch geschieht.

Es ist aber weder bezahlbar noch sinnvoll, auch nur einen wesentlichen Anteil von Zeugenvernehmungen durch Staatsanwälte statt Polizeibeamte durchführen zu lassen. Nicht bezahlbar, weil zu den bereits jetzt fehlenden mehreren hundert Stellen bei den Staatsanwaltschaften im Bundesgebiet nochmal etliche hundert fehlende Stellen hinzukommen würden - nicht sinnvoll, weil die Kernkompetenz eines Juristen gewisslich nicht das Führen von Vernehmungen ist (manche können das, weil sie es sich beigebracht haben, aber es ist nun einmal kein Bestandteil der Ausbildung).

Nur in seltenen Ausnahmefällen ist es tatsächlich zielführend, dass einen Vernehmung durch den Staatsanwalt oder Richter geführt wird, nämlich vor allem dann, wenn sich schwierige(re) Rechtsfragen, namentlich um Auskunftss- und Zeugnisverweigerungsrechte herum, stellen. Das ist in der ganz überwiegenden Mehrzahl der Fälle aber nicht so, weshalb der Gesetzentwurf ja auch vorsieht, dass nur eine auf Anordnung der Staatsanwaltschaft erfolgte Ladung erzwungen werden kann. Die staatsanwaltschaftliche Vernehmung wird also durch die staatsanwaltschaftlich veranlasste Vernehmung ersetzt. Das ist konsequent und folgerichtig.

An dem Recht, sich eines Beistands zu bedienen, ändert sich dadurch ja nichts.
[enigma] hat geschrieben:Es ist im Übrigen auch gerade nicht der Fall, dass die StA bisher einfach alle Zeugen geladen hat, die nicht zur Polizei gekommen sind und man nur diesen Weg verkürzt.
Das mag regional - und sachlich - unterschiedlich sein.
[enigma] hat geschrieben:Gerade die angespannte Personalsituation in der Justiz hatte ja den ungewollten aber nicht unbedingt verkehrten Nebeneffekt, dass man sich vor der Ladung durch die StA eher zweimal überlegt hat, ob man den Zeugen denn nun braucht oder nicht.
Fehlende Ressourcen - die der Staat aber zur Verfügung bereitzustellen verpflichtet wäre - können kein Argument sein. Ansonsten müsste man auch dafür plädieren, die Verteidigervergütung mit der Länge der Hauptverhandlung nicht steigen, sondern sinken zu lassen, um dann den (ungewollten, aber nicht verkehrten :)) Effekt zu erhalten, dass die Hauptverhandlung plötzlich viel zügiger verläuft. :)

Im übrigen steht eine solche ressourcenorientierte Entscheidungsweise dem grundsätzlichen Aufklärungsgrundsatz entgegen - was sich insbesondere dann negativ auswirken kann, wenn potentiell entlastende Zeugen nicht erscheinen, zumal die Frage, ob man den Zeugen "braucht" oder nicht, da vermutlich tendentiell eher verneint wird.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von [enigma] »

thh hat geschrieben:
[enigma] hat geschrieben:Gerade die angespannte Personalsituation in der Justiz hatte ja den ungewollten aber nicht unbedingt verkehrten Nebeneffekt, dass man sich vor der Ladung durch die StA eher zweimal überlegt hat, ob man den Zeugen denn nun braucht oder nicht.
Fehlende Ressourcen - die der Staat aber zur Verfügung bereitzustellen verpflichtet wäre - können kein Argument sein. Ansonsten müsste man auch dafür plädieren, die Verteidigervergütung mit der Länge der Hauptverhandlung nicht steigen, sondern sinken zu lassen, um dann den (ungewollten, aber nicht verkehrten :)) Effekt zu erhalten, dass die Hauptverhandlung plötzlich viel zügiger verläuft. :)

Im übrigen steht eine solche ressourcenorientierte Entscheidungsweise dem grundsätzlichen Aufklärungsgrundsatz entgegen - was sich insbesondere dann negativ auswirken kann, wenn potentiell entlastende Zeugen nicht erscheinen, zumal die Frage, ob man den Zeugen "braucht" oder nicht, da vermutlich tendentiell eher verneint wird.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich deine Meinung richtig verstehe. Ich gehe zu deinen Gunsten mal davon aus, dass nicht und bitte um Aufklärung ;) Denn fehlende Ressourcen können natürlich erst recht kein Grund sein, Rechte zu beschneiden oder gar ganz abzuschaffen, weil sie Arbeit machen. Wenn die personelle Situation kein Strafverfahren zulässt, das dem Aufklärungsgrundsatz gerecht wird, muss man eben die Ressourcen drastisch erhöhen und darf nicht Verteidigungsrechte so lange beschneiden, bis man möglichst zeitnah und mit wenig Aufwand verurteilen kann. Zugegeben, das mag hinsichtlich der Frage der Aussagepflicht von Zeugen bei der Polizei noch weniger dramatisch sein. Es ist aber ein Schritt in die falsche Richtung, der sich dann beispielsweise mit den von dir abgesprochenen Einschränkungen bei Ablehnungs- und Beweisantragsrechten fortsetzt.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von Eagnai »

Aus meiner (StA-)Sicht würde die Neuregelung durchaus eine erhebliche Einsparung von personellen Ressourcen bedeuten.

Ich persönlich mache in der Praxis zum Beispiel ständig die Erfahrung, dass (jedenfalls in unserem Bezirk) Zeugen aus dem rechts- oder linksgerichteten Spektrum so gut wie nie zur polizeilichen Vernehmung erscheinen, weil jegliche freiwillige Zusammenarbeit mit der Polizei in ihrer jeweiligen Szene verpönt ist. Habe ich also eine körperliche Auseinandersetzung zwischen Rechten und Linken, bei der es zehn Zeugen gibt, dann hat sich in dem Moment, wo ich die Akte bekomme, in aller Regel schon ein Polizeibeamter an zehn verschiedenen Terminen in sinnloser Zeitverplemperung auf Vernehmungen vorbereitet, die dann natürlich nicht stattfinden konnten, weil die Zeugen nicht erschienen sind. Als nächstes tue ich nochmal genau dasselbe in der Hoffnung, dass die Zeugen nun bei mir endlich erscheinen. Ist es dann auch noch erforderlich, mit den Zeugen im Rahmen ihrer Vernehmung Lichtbildvorlagen durchzuführen, muss ich dabei für jeden einzelnen Vernehmungstermin zum Polizeipräsidium fahren, weil ich in meinem Büro keinen Zugriff auf die polizeiliche Lichtbildkartei habe. Im Zweifel muss ich also in einem einzigen Verfahren zehnmal zur Polizei gurken - oder noch öfter, denn häufig genug erscheinen die Zeugen ja auch auf Ladung der StA nicht sofort, sondern müssen in einem weiteren Termin vorgeführt werden. Und auch dann, wenn ich die Vernehmungen in meinem Büro machen kann, werden außer mir jedesmal noch zwei Polizeibeamte dadurch zeitlich in Anspruch genommen, dass sie mir den Zeugen, der nicht freiwillig kommt, herbringen müssen.

Viele Zeugen kommen außerdem auch nicht etwa deshalb nicht zur Polizei, weil sie befürchten, dadurch irgendwelche Nachteile zu erleiden (bei den allermeisten Zeugen steht ja außer Frage, dass sie nur als Zeugen gehört werden sollen und eine eigene Strafbarkeit ersichtlich nicht in Betracht kommt), sondern weil sie schlicht keine Lust haben. Sie lesen, dass sie nicht kommen müssen, und kommen dann eben einfach nicht.

Gerade vor dem Hintergrund dieser "Kein Bock"- oder "Sehe ich gar nicht ein"-Haltung vieler Zeugen finde ich eine grundsätzliche Pflicht zur Aussage bei der Polizei durchaus sinnvoll.

Das Argument, dass damit eine größere Gefahr für Zeugen verbunden wäre, unversehens zum Beschuldigten zu werden und sich selbst zu belasten, halte ich demgegenüber nicht für sehr stichhaltig - diese Gefahr besteht auch heute schon bei Zeugen, die freiwillig-arglos zur Polizei kommen, weil sie gar nicht auf die Idee gekommen sind, jemand könne ihnen etwas anhängen wollen, und ist auch bei Zeugen, die bei der StA vernommen werden, nicht ausgeschlossen. Für diese Fälle ist ja außerdem die - zwingende - Belehrung nach § 55 vorgesehen.

Wenn es den meisten nicht erscheinenden Zeugen tatsächlich um die Wahrung ihrer (Beschuldigten-)Rechte ginge, könnte ich das Argument noch eher nachvollziehen, aber meiner Erfahrung nach haben die allermeisten, die bei der Polizei nicht erscheinen, schlicht keine Lust zu kommen und machen dadurch der Polizei und StA ohne Not doppelte Arbeit.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von [enigma] »

Eagnai hat geschrieben:

Das Argument, dass damit eine größere Gefahr für Zeugen verbunden wäre, unversehens zum Beschuldigten zu werden und sich selbst zu belasten, halte ich demgegenüber nicht für sehr stichhaltig - diese Gefahr besteht auch heute schon bei Zeugen, die freiwillig-arglos zur Polizei kommen, weil sie gar nicht auf die Idee gekommen sind, jemand könne ihnen etwas anhängen wollen, und ist auch bei Zeugen, die bei der StA vernommen werden, nicht ausgeschlossen. Für diese Fälle ist ja außerdem die - zwingende - Belehrung nach § 55 vorgesehen.
Die allerdings bei anwaltlich nicht vertretenen Zeugen nicht wirklich vor Selbstbelastungen schützt. Und ich sehe wie gesagt durchaus die Gefahr, dass der Zeitpunkt, in dem der Zeuge zum Beschuldigten wird, noch weiter als bisher schon verzögert wird. Im Idealfall, bis es für den "Zeugen" zu spät ist. Es behauptet ja niemand, dass das der Regelfall der Zeugenvernehmung durch die Polizei wäre. Auch ein Bruchteil der Fälle kann aber zum Problem werden.
Eagnai hat geschrieben:Wenn es den meisten nicht erscheinenden Zeugen tatsächlich um die Wahrung ihrer (Beschuldigten-)Rechte ginge, könnte ich das Argument noch eher nachvollziehen, aber meiner Erfahrung nach haben die allermeisten, die bei der Polizei nicht erscheinen, schlicht keine Lust zu kommen und machen dadurch der Polizei und StA ohne Not doppelte Arbeit.
Wie gesagt: Die lust- und respektlosen Zeugen können die Rechte nutzen, die für andere (einen deutlich geringeren Teil) zur Wahrung ihrer berechtigten Interessen, (bspw. Beschuldigten-)Rechte gedacht sind. Ich lasse ja gerne mit mir reden und mir erklären, dass es ganz viele tolle Gründe dafür gibt, dieses Recht faktisch abzuschaffen. Ich wehre mich nur dagegen, dass "es ist halt so lästig" tatsächlich eine ausreichende Begründung sein soll.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von julée »

[enigma] hat geschrieben:
Eagnai hat geschrieben:

Das Argument, dass damit eine größere Gefahr für Zeugen verbunden wäre, unversehens zum Beschuldigten zu werden und sich selbst zu belasten, halte ich demgegenüber nicht für sehr stichhaltig - diese Gefahr besteht auch heute schon bei Zeugen, die freiwillig-arglos zur Polizei kommen, weil sie gar nicht auf die Idee gekommen sind, jemand könne ihnen etwas anhängen wollen, und ist auch bei Zeugen, die bei der StA vernommen werden, nicht ausgeschlossen. Für diese Fälle ist ja außerdem die - zwingende - Belehrung nach § 55 vorgesehen.
Die allerdings bei anwaltlich nicht vertretenen Zeugen nicht wirklich vor Selbstbelastungen schützt. Und ich sehe wie gesagt durchaus die Gefahr, dass der Zeitpunkt, in dem der Zeuge zum Beschuldigten wird, noch weiter als bisher schon verzögert wird. Im Idealfall, bis es für den "Zeugen" zu spät ist. Es behauptet ja niemand, dass das der Regelfall der Zeugenvernehmung durch die Polizei wäre. Auch ein Bruchteil der Fälle kann aber zum Problem werden.
Der richtige Hebel dürfte es dort allerdings vielmehr sein, einerseits dafür zu sorgen, dass die Polizei die Vernehmungen ordnungsgemäß durchführt, und andererseits gegebenenfalls über schärfere Verwertungsverboten nachzudenken, wenn sich ein nicht anwaltlich vertretener Zeuge bei der Polizei aufgrund einer nicht ordnungsgemäßen Belehrung um Kopf und Kragen geredet hat. Im Grundsatz sehe ich allerdings nicht, weshalb die Polizei nicht in der Lage sein sollte, Zeugenvernehmungen ordnungsgemäß durchzuführen, ohne die Selbstbelastungfreiheit der Zeugen zu gefährden.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von [enigma] »

julée hat geschrieben:
Der richtige Hebel dürfte es dort allerdings vielmehr sein, einerseits dafür zu sorgen, dass die Polizei die Vernehmungen ordnungsgemäß durchführt, und andererseits gegebenenfalls über schärfere Verwertungsverboten nachzudenken, wenn sich ein nicht anwaltlich vertretener Zeuge bei der Polizei aufgrund einer nicht ordnungsgemäßen Belehrung um Kopf und Kragen geredet hat.
Der Trend in der Rechtsprechung geht aber doch in die genau entgegen gesetzte Richtung.
julée hat geschrieben: Im Grundsatz sehe ich allerdings nicht, weshalb die Polizei nicht in der Lage sein sollte, Zeugenvernehmungen ordnungsgemäß durchzuführen, ohne die Selbstbelastungfreiheit der Zeugen zu gefährden.
Ich auch nicht. Umso mehr überrascht es mich dann immer wieder aufs neue ;)
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von julée »

Die Frage ist doch schlichtweg, welche Folgerungen man aus den Einzelfällen zieht, in denen es schief geht; da wird auch die Rechtsprechung künftig die geänderte Rechtslage bedenken müssen. Der falsche Schluss ist es m. E. jedoch, den Status Quo, nach dem es im Belieben der Zeugen steht, staatliche Ressourcen sinnlos zu verschwenden, selbst wenn sie nur als völlig Unbeteiligte aussagen sollen, ob zuerst der A den B geschlagen hat oder umgekehrt, für erhaltenswert zu halten.
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