Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Straf-, Strafprozeß- und Ordnungswidrigkeitenrecht sowie Kriminologie

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[enigma]
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von [enigma] »

julée hat geschrieben:
[enigma] hat geschrieben:Solange sich die Praxis dann tatsächlich auf die geeigneten Fälle beschränkt, hätte ich damit wie gesagt auch kein Problem. Ich sehe wie gesagt nur das Risiko, dass die Initiative dann in den meisten Fällen von der Polizei ausgeht und die StA nur noch abnickt.
Für die wirklich problematischen Fälle lohnt sich der Blick in § 163 IV StPO n. F. - und im Übrigen ist es doch unerheblich, ob die Polizei irgendetwas vorschlägt, solange die StA die Sachentscheidung zu verantworten hat - was sicherlich mehr als ein reines Abnicken voraussetzt, insbesondere mit auf die Prüfung nach § 163 IV.
Das setzt erstmal voraus, dass der mit der Vernehmung beauftragte Polizist den Konflikt erkennt und die Vernehmung aussetzt, um die StA einzuschalten. Schätzt der Polizist die Lage falsch ein (was zB. bei der Frage zur Beschuldigteneigenschaft oder § 55 StPO auch schnell mal versehentlich passieren kann, da das ja jeweils eine juristische Bewertung erfordert), läuft § 163 IV nF. leer. Von Fällen, in denen der Beschuldigte nach § 55 zu belehren wäre, dieser aber absichtlich nur als Zeuge vernommen wird, ganz zu schweigen. Die Aussage wäre dann ggfs. (wenn der Fehler nachweisbar ist) nicht verwertbar, dieses Risiko liegt dann aber erstens beim Zeugen/Beschuldigten und zweitens macht das auch wieder jede Menge Arbeit, läuft dem Sinn der ganzen Reform also völlig zuwider.
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non-liquet
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von non-liquet »

[enigma] hat geschrieben:Ja, der Richter muss sich dann aber in den meisten Fällen immerhin noch mit einem Verteidiger auseinandersetzen, der Polizist in der Regel nicht.
Regelmäßig auch der Richter nicht - die meisten Strafverfahren laufen am Amtsgericht und dort als Cs-Sachen ab. Da ist eine Verteidigung die Ausnahme.
Jedenfalls bin ich von der StPO-Reform ja auch ganz grundsätzlich enttäuscht, die Vorladungssache ist da mit Abstand noch das geringste Problem. Es geht fast ausschließlich um die Erweiterung von Befugnissen des Gerichts oder der StA, teilweise auf möglicherweise verfassungswidrige Weise (zB. Staatstrojaner). Verteidigungsrechte, für die schon seit Jahren geworben wird, werden entweder nur halbherzig (opening statement) oder gar nicht (eigenes Antragsrecht bei §§ 140 ff. StPO) umgesetzt.
Es gibt in der Tat eine Tendenz in die von Dir beschriebene Richtung - ich halte sie keineswegs für grundsätzlich falsch, sondern für dringend notwendig. Aber unabhängig davon, wie man zu den einzelnen Änderungen steht, lohnt sich doch durchaus eine Frage nach den Ursachen:

Die gesammelten Einwände - bis hin zur mittlerweile ubiquitären Warnung vor dem größten Eingriff ins Strafprozessrecht seit anno 1933 - sind ja schon im Gesetzgebungsverfahren angebracht worden. Wer es wissen will, muss sich nur mal die Stellungnahmen ansehen, die an den Rechtsausschuss des Bundestags gerichtet wurden.

Im Rechtsausschuss des Bundestages, der für die Endfassung maßgeblich verantwortlich ist, sitzen keine durchgeknallten Kriminalbeamten oder frustrierte Strafkämmerer. Vielmehr haben wir da eine erkleckliche Zahl an Rechtsanwälten (einschließlich der Vorsitzenden). Wenn es dann der organsierten Anwaltschaft trotz aller Bemühungen nicht einmal in diesem Kreis gelingt, solche Veränderungen abzuwenden, ist das durchaus bemerkenswert. Dass im Rechtsausschuss nur strafwütige Eisenfresser sitzen, ist bei der personellen Zusammensetzung wirklich keine Erklärung; ebenso wenig nahende Wahlen. Gesamtgesellschaftlich sind das nun eher Nischenthemen.

Nein, mir scheint, dass sich hier zweierlei zeigt.

Zum einen ist die Politik zusehends nicht mehr bereit, vordergründig prozessordnungskonforme Versuche, die Strafjustiz lahmzulegen, als rechtsstaatliche Großtat einzustufen. Der BGH hat solche Methoden in den vergangenen Jahren mehrfach gerügt und vor möglichen Gegenreaktionen des Gesetzgebers gewarnt und auch das Verfassungsgericht hat, durchaus entgegen seiner sonstigen Übung, die eine oder andere kreative Übung bei der Anwendung der StPO unbeanstandet gelassen oder gar mit Missbrauchsgebühren auf gewisse Eingaben reagiert.

Und von daher erkläre ich mir manche aufgeregte Stellungnahme hierzu: Da sind manche einfach sauer, weil man ihnen jetzt ihr Spielzeug weggenommen hat. Etwas ganz ähnliches haben wir vor ca. 15 Jahren in einem ganz anderen Bereich schon einmal gesehen, als es um die Schuldrechtsreform geht. Aber: Selbst schuld - hätte man halt mal eher auf die roten Roben gehört.

Zum anderen sehen wir hier aber möglicherweise den Effekt, dass sich schrille Alarmrufe der Art, es brächen braune Zeiten über uns herein, inzwischen aufgrund ihrer Frequenz und des hier regelmäßig herrschenden Missverhältnisses zum Anlass so weit abgenutzt haben, dass sie kein Gehör mehr finden. Ich finde das nicht gut; wovor will man noch warnen, wenn mal einer wirklich am Rad dreht? Und man sehe sich einige Auch-EU-Staaten und die Pressionen auf die Justiz dort an. Gerade deshalb halte ich nichts davon, hier mit schmissig formulierten Parolen der Marke Candor um sich zu werfen.
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non-liquet
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von non-liquet »

thh hat geschrieben:
Candor hat geschrieben:Wie sagt man so schön: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. So viel gesundes Misstrauen sollte jeder mündige Bürger haben, dass er auch Kontrollorgane kontrolliert haben will.
Das ist einerseits völlig unstrittig und andererseits nicht das Thema.

Woher kommen eigentlich immer diese Platitüden und Allgemeinplätze, die wenig zur Sache beitragen?
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julée
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von julée »

[enigma] hat geschrieben:
julée hat geschrieben:
[enigma] hat geschrieben:Solange sich die Praxis dann tatsächlich auf die geeigneten Fälle beschränkt, hätte ich damit wie gesagt auch kein Problem. Ich sehe wie gesagt nur das Risiko, dass die Initiative dann in den meisten Fällen von der Polizei ausgeht und die StA nur noch abnickt.
Für die wirklich problematischen Fälle lohnt sich der Blick in § 163 IV StPO n. F. - und im Übrigen ist es doch unerheblich, ob die Polizei irgendetwas vorschlägt, solange die StA die Sachentscheidung zu verantworten hat - was sicherlich mehr als ein reines Abnicken voraussetzt, insbesondere mit auf die Prüfung nach § 163 IV.
Das setzt erstmal voraus, dass der mit der Vernehmung beauftragte Polizist den Konflikt erkennt und die Vernehmung aussetzt, um die StA einzuschalten. Schätzt der Polizist die Lage falsch ein (was zB. bei der Frage zur Beschuldigteneigenschaft oder § 55 StPO auch schnell mal versehentlich passieren kann), läuft § 163 IV nF. leer. Die Aussage wäre dann ggfs. nicht verwertbar, dieses Risiko liegt dann aber erstens beim Zeugen/Beschuldigten und zweitens macht das auch wieder jede Menge Arbeit, läuft dem Sinn der ganzen Reform also völlig zuwider.
Aber der erste Punkt ist ja bereits, dass die StA bereits hinschauen muss, wenn sie die Ladung veranlasst, ob dort ein potentielles Problem besteht. Und wenn es wirklich kritisch wird, dürfte aus Sicht der StA einiges dafür sprechen, diese Vernehmung lieber selbst zu machen - wofür aber auch Zeit wäre, wenn die Polizei dafür 100 völlig unproblematische (lediglich unwillige) Zeugen selbstständig vernehmen kann.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von non-liquet »

[enigma] hat geschrieben:Und klar kann man das Protokoll lesen und ggfs. korrigieren. Die wenigsten von der Polizei vernommenen Zeugen haben aber Jura studiert oder auch nur Abitur bzw. Geld, einen Anwalt zu bezahlen.
Man muss aber nicht Jura studiert oder einen Anwalt bezahlt haben, um ein Protokoll durchzulesen und zu korrigieren. Ja, ganz normale Leute tun das wirklich, und die Vernehmungsniederschriften mit den handschriftlichen Zusätzen der Zeugen sind nicht so selten.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von thh »

non-liquet hat geschrieben:
[enigma] hat geschrieben:Und klar kann man das Protokoll lesen und ggfs. korrigieren. Die wenigsten von der Polizei vernommenen Zeugen haben aber Jura studiert oder auch nur Abitur bzw. Geld, einen Anwalt zu bezahlen.
Man muss aber nicht Jura studiert oder einen Anwalt bezahlt haben, um ein Protokoll durchzulesen und zu korrigieren. Ja, ganz normale Leute tun das wirklich, und die Vernehmungsniederschriften mit den handschriftlichen Zusätzen der Zeugen sind nicht so selten.
Und die allermeisten Vernehmungsniederschriften der Kripo sind gut. (Bei der Schutzpolizei sieht das alles etwas anders aus, aber auch die sind weniger böswillig als vielmehr überfordert.)

Freilich gibt es auch Gegenbeispiele, aber andererseits kennt man seine Pappenheimer mit der Zeit und weiß, wo man genauer hingucken muss.
Deutsches Bundesrecht? https://www.buzer.de/ - tagesaktuell, samt Änderungsgesetzen und Synopsen
Gesetze mit Rechtsprechungsnachweisen und Querverweisen? https://dejure.org/ - pers. Merkliste u. Suchverlauf
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Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von Tibor »

[enigma] hat geschrieben:
Tibor hat geschrieben:
[enigma] hat geschrieben: ...Ich würde mich als Beschuldigter ganz sicher nicht darauf verlassen, dass mich die Polizei in meiner Vernehmung fair und unvoreingenommen vernimmt und sich im Protokoll - auf welche Weise auch immer - keine Unrichtigkeiten einschleichen können, die mir später schaden. ...
Wir reden schon über Zeugenvernehmungen, oder? ...
Meine ursprüngliche Aussage, mit der wir zum Thema Vertrauen Misstrauen kamen war, dass ich als Beschuldigter nicht auf die Unvoreingenommenheit der Polizei vertrauen würde. Als Zeuge habe ich selbst schon bei der Polizei wegen eines Verkehrsunfalls ausgesagt. Die Wahrscheinlichkeit, hier unfair behandelt zu werden, ist bei tatsächlich nicht in die Sache involvierten Zeugen natürlich sehr viel geringer als bei Beschuldigten. ...
Entschuldige, das ich diesen - entschuldige gleich nochmals - Winkelzug nicht erkannt habe. Es geht hier über zig Beiträge um Zeugenvernehmung bei der Polizei, dann einfach mal eine ganz andere Baustelle aufzumachen - wie auch Candor es getan hat - ist einfach nur nervig.
"Just blame it on the guy who doesn't speak English. Ahh, Tibor, how many times you've saved my butt."
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von [enigma] »

@non-liquet: Danke für den interessanten Beitrag.
non-liquet hat geschrieben:Im Rechtsausschuss des Bundestages, der für die Endfassung maßgeblich verantwortlich ist, sitzen keine durchgeknallten Kriminalbeamten oder frustrierte Strafkämmerer. Vielmehr haben wir da eine erkleckliche Zahl an Rechtsanwälten (einschließlich der Vorsitzenden). Wenn es dann der organsierten Anwaltschaft trotz aller Bemühungen nicht einmal in diesem Kreis gelingt, solche Veränderungen abzuwenden, ist das durchaus bemerkenswert. Dass im Rechtsausschuss nur strafwütige Eisenfresser sitzen, ist bei der personellen Zusammensetzung wirklich keine Erklärung; ebenso wenig nahende Wahlen. Gesamtgesellschaftlich sind das nun eher Nischenthemen.
Ich habe die Stellungnahmen des Deutschen Richterbundes und der DAV gelesen. Ich behaupte natürlich nicht, dass die Reform auf "durchgeknallte Kriminalbeamte oder frustrierte Strafkämmerer" zurückzuführen sei, auch wenn das ein schönes Bild ist :D

Natürlich müssen es sich die Anwälte selbst vorwerfen lassen, dass sie sich nicht durchsetzen konnten. Mir geht es da weniger um Schuldzuweisungen, als vielmehr um das Ergebnis. Und die Warnungen vor "braunen Zeiten" sind mE genauso einseitig und übertrieben wie die Begründung immer weiter beschnittener Verteidigungsrechte mit ihrem Missbrauch. Als Missbrauch und Prozessverschleppung gilt es häufig schon, wenn die Verteidigung von ihren Rechten zu einem für das Gericht ungünstigen Zeitpunkt Gebrauch macht oder das Gericht die Zweckmäßigkeit der Verteidigungsmaßnahme bezweifelt, obwohl diese Prüfung grundsätzlich nicht Sache des Gerichts ist.

Die Strafverteidiger, die ich in der Ausbildung kennengelernt habe, gehen nie mit der Absicht in das Verfahren, das Gericht bis zum äußersten zu provozieren oder das Verfahren zu verschleppen. Schon alleine, weil das in der Regel nicht im Interesse des Mandanten ist. Es kommt aber nun mal vor, dass die Atmosphäre vor Gericht umschlägt und dann auf harte Konfliktverteidigung umgeschaltet wird. Der Anlass dafür kann von beiden Seiten kommen, das liegt ja nicht immer an den auf Krawall gebürsteten Konfliktverteidigern.

Dass es echten Missbrauch gibt, will ich nicht bestreiten. Aber es ist unmöglich, diesen Missbrauch in einem Rechtsstaat wirksam auszuschließen, ohne dabei auch die Wahrnehmung berechtigter Interessen durch die gleichen Mittel zu beschneiden. Deshalb muss der Rechtsstaat mE bis zu einem gewissen Grad mit diesem Missbrauch leben. Die Rechtsprechung hat den Gerichten in der Vergangenheit ja immer wieder Möglichkeiten der Selbstverteidigung gegen Missbrauch zugebilligt, die teilweise deutlich über den Wortlaut der StPO hinaus gingen, zB. durch die Fristsetzung für Beweisanträge. Revisionen gegen abgelehnte Beweisanträge sind - wenn das Gericht sich nicht ganz dämlich anstellt - selten erfolgreich. Ich habe den Eindruck, man will das nun fortsetzen, bis überhaupt keine Möglichkeiten den Missbrauchs mehr übrig bleiben. Dann verschiebt sich aber auch das Kräfteverhältnis stark zu Lasten der Verteidigung und die Waffengleichheit, die ja eigentlich Grundlage des rechtsstaatlichen Strafverfahrens sein soll, ist nicht mehr gewährleistet.

So sehr ich also den Frust über den Missbrauch von Verteidigungsrechten und das Lahmlegen von Verhandlungen nachvollziehen kann, sehe ich keinen Anlass dafür, der Justiz immer mehr Befugnisse zuzubilligen, die dann übrigens auch wieder missbraucht werden können.
Zuletzt geändert von [enigma] am Montag 26. Juni 2017, 23:17, insgesamt 3-mal geändert.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von [enigma] »

Tibor hat geschrieben: Entschuldige, das ich diesen - entschuldige gleich nochmals - Winkelzug nicht erkannt habe. Es geht hier über zig Beiträge um Zeugenvernehmung bei der Polizei, dann einfach mal eine ganz andere Baustelle aufzumachen - wie auch Candor es getan hat - ist einfach nur nervig.
Genau genommen ging es um die Gefahr, dass Beschuldigte vor der Polizei als Zeugen vernommen werden. Die ganze Argumentation mit den Freiheitsrechten war nur ein sehr nebensächliches von vielen Argumenten, an dem sich aber die Gemüter erhitzt haben.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von Gelöschter Nutzer »

non-liquet hat geschrieben:Zum anderen sehen wir hier aber möglicherweise den Effekt, dass sich schrille Alarmrufe der Art, es brächen braune Zeiten über uns herein, inzwischen aufgrund ihrer Frequenz und des hier regelmäßig herrschenden Missverhältnisses zum Anlass so weit abgenutzt haben, dass sie kein Gehör mehr finden. Ich finde das nicht gut; wovor will man noch warnen, wenn mal einer wirklich am Rad dreht? Und man sehe sich einige Auch-EU-Staaten und die Pressionen auf die Justiz dort an. Gerade deshalb halte ich nichts davon, hier mit schmissig formulierten Parolen der Marke Candor um sich zu werfen.
Da dreht kein Einzelner am Rad, sondern es geht um übergeordnete Entwicklungen und Tendenzen, die dann ein solches Raddrehen erst ermöglichen. Deshalb halte ich es für unabdingbar, kritische Stimmen (gerade auch unter Juristen) als selbstregulierende Katalysatoren der Justiz anzunehmen und sie nicht in dieser Vehemenz anzugreifen, wie ich es in diesem Thread erlebt habe. DAS hat mich gestört, dass Enigma derart angegangen wurde, obwohl er ein gesundes Misstrauen an den Tag legt, das eigentlich jeder haben sollte, gerade auch Juristen. Deshalb bin ich auch ein Fan von Thomas Fischer, weil er das gewährleistet, auch wenn er leider als Nestbeschmutzer hingestellt wird, aber das Gegenteil ist der Fall. Solche Juristen sind notwendig, damit das Rechtssystem gesund bleibt und sich keine Einseitigkeiten einschleichen.
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Einwendungsduschgriff
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von Einwendungsduschgriff »

Der Gegensatz Vertrauen / Misstrauen ist auch ein schwieriger. Der Regelfall der (Erst-)Begegnung mit anderen Menschen ist bei den meisten Menschen die Neutralität. Diese grundsätzliche Neutralitätshaltung sorgt auch für eine gewisse Skepsis und Vorsicht, aber Misstrauen intendiert mehr, hat mehr Konsequenzen, ist ein stark negativ konnotiertes Gefühl. Selbst nachdem ich letztes Jahr ausgeraubt worden bin, würde ich nicht von Misstrauen anderen, unbekannten Menschen gegenüber ausgehen, sondern ich begegne ihnen weiterhin neutral.

Das Misstrauen von Enigma finde ich leider - ich schätze ihn sehr - nicht mehr für gesund. Es prägt die Gedanken vor und fördert tendenziöse Aussagen zu rechtlichen Themen, die man sonst überlegter treffen würde.
Hier gibt's nichts zu lachen, erst recht nichts zu feiern.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von julée »

Candor hat geschrieben:
non-liquet hat geschrieben:Zum anderen sehen wir hier aber möglicherweise den Effekt, dass sich schrille Alarmrufe der Art, es brächen braune Zeiten über uns herein, inzwischen aufgrund ihrer Frequenz und des hier regelmäßig herrschenden Missverhältnisses zum Anlass so weit abgenutzt haben, dass sie kein Gehör mehr finden. Ich finde das nicht gut; wovor will man noch warnen, wenn mal einer wirklich am Rad dreht? Und man sehe sich einige Auch-EU-Staaten und die Pressionen auf die Justiz dort an. Gerade deshalb halte ich nichts davon, hier mit schmissig formulierten Parolen der Marke Candor um sich zu werfen.
Da dreht kein Einzelner am Rad, sondern es geht um übergeordnete Entwicklungen und Tendenzen, die dann ein solches Raddrehen erst ermöglichen. Deshalb halte ich es für unabdingbar, kritische Stimmen (gerade auch unter Juristen) als selbstregulierende Katalysatoren der Justiz anzunehmen und sie nicht in dieser Vehemenz anzugreifen, wie ich es in diesem Thread erlebt habe. DAS hat mich gestört, dass Enigma derart angegangen wurde, obwohl er ein gesundes Misstrauen an den Tag legt, das eigentlich jeder haben sollte, gerade auch Juristen. Deshalb bin ich auch ein Fan von Thomas Fischer, weil er das gewährleistet, auch wenn er leider als Nestbeschmutzer hingestellt wird, aber das Gegenteil ist der Fall. Solche Juristen sind notwendig, damit das Rechtssystem gesund bleibt und sich keine Einseitigkeiten einschleichen.
Es scheint mir schwierig zu sein, Diskussionen zu kritisieren, an denen man sich selbst nur durch mehr oder weniger zusammenhangslose Einwürfe beteiligt hat. Es geht hier nicht darum, dass niemand Enigmas Sorge versteht bzw. teilt, dass ein Beschuldigter bei der Polizei unter die Räder kommen könnte, weil er - aus welchen Gründen auch immer - nicht rechtzeitig belehrt worden ist; es werden nur unterschiedliche Schlüsse hieraus gezogen. Und abgesehen davon, dass die diesbezügliche Sorge Enigmas tlw. auf der (eher abwegigen, gesetzesfernen) Prämisse gründet, die StA werde der Polizei künftig einen Freibrief erteilen, alles verpflichtend zu laden, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, muten seine weiteren Einwände gegen eine staatsanwaltschaftlich moderierte Erscheinenspflicht bei der Polizei mehr oder weniger absurd an.


@[enigma]: Sicherlich, die Einschränkung von Beschuldigtenrechte ist kritisch. Allerdings muss man sich bei manchen Blüten, die die Strafverteidigung treibt, fragen, ob dies noch zur Erzielung eines rechtsstaatlichen Ergebnisses in irgendeiner Form erforderlich ist oder ob es schlichtweg darum geht, ein faires, fehlerfrei zur Entscheidungsreife gelangtes Verfahren zu verschleppen und möglicherweise doch noch in eine neue Runde zu befördern. Hier dürfte es doch die ein oder andere Spitze geben, die man kappen kann, ohne dass tatsächlich irgendein Fall einer nichtmissbräuchlichen Verteidigung hiervon betroffen ist. Zumal nicht zu vergessen ist, dass es hier zunächst einmal um ein Regel-Ausnahme-Verhältnis geht, d. h. wenn man ein Verhalten, das in 99,9999 % der Fälle klar missbräuchlich ist, verbieten, muss man in den verbleibenden 0,0001 % der Fälle darüber sprechen, ob das Verhalten ausnahmsweise doch zulässig ist, obwohl es nach den Buchstaben des Gesetzes unzulässig ist. Und die Kodifizierung von bisherigen "Notbehelfen" der Rechtsprechung halte ich für überaus wichtig.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von Gelöschter Nutzer »

Einwendungsduschgriff hat geschrieben:Der Gegensatz Vertrauen / Misstrauen ist auch ein schwieriger. Der Regelfall der (Erst-)Begegnung mit anderen Menschen ist bei den meisten Menschen die Neutralität. Diese grundsätzliche Neutralitätshaltung sorgt auch für eine gewisse Skepsis und Vorsicht, aber Misstrauen intendiert mehr, hat mehr Konsequenzen, ist ein stark negativ konnotiertes Gefühl. Selbst nachdem ich letztes Jahr ausgeraubt worden bin, würde ich nicht von Misstrauen anderen, unbekannten Menschen gegenüber ausgehen, sondern ich begegne ihnen weiterhin neutral.

Das Misstrauen von Enigma finde ich leider - ich schätze ihn sehr - nicht mehr für gesund. Es prägt die Gedanken vor und fördert tendenziöse Aussagen zu rechtlichen Themen, die man sonst überlegter treffen würde.
Ja, Skepsis wäre der bessere Begriff, eine gesunde Skepsis. Ich persönlich verstehe Enigma so, dass ein möglicher Missbrauch nicht unnötig begünstigst werden soll. Auch er hat ja wiederholt darauf hingewiesen, dass ein solcher in den meisten Fällen nicht stattfinden wird und er an sich gute Erfahrungen mit der Justiz gemacht hat. Ich denke, dass es eher grundsätzlich um die Machtverteilung geht und Enigma sie in professionellen Händen sehen will, um möglichen (versehentlichen) Missbrauch (aus Unwissen) gar nicht erst zu ermöglichen bzw. zu reduzieren und der befragte Zeuge/Verdächtige eine optimale Rechtsbelehrung erhält, um sich z. B. nicht unwissentlich selbst zu belasten. Und das ist nachvollziehbar, auch wenn ich ebenfalls der Ansicht bin, dass Zeugen zu einer gewissen Mitwirkungspflicht angehalten sind und es nicht allein dem subjektiven Gutdünken des aufgeforderten Zeugen überlassen werden darf, ob seine Aussage von Bedeutung ist oder nicht.
Zuletzt geändert von Gelöschter Nutzer am Dienstag 27. Juni 2017, 12:13, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von Gelöschter Nutzer »

julée hat geschrieben:Es geht hier nicht darum, dass niemand Enigmas Sorge versteht bzw. teilt, dass ein Beschuldigter bei der Polizei unter die Räder kommen könnte, weil er - aus welchen Gründen auch immer - nicht rechtzeitig belehrt worden ist; es werden nur unterschiedliche Schlüsse hieraus gezogen. Und abgesehen davon, dass die diesbezügliche Sorge Enigmas tlw. auf der (eher abwegigen, gesetzesfernen) Prämisse gründet, die StA werde der Polizei künftig einen Freibrief erteilen, alles verpflichtend zu laden, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, muten seine weiteren Einwände gegen eine staatsanwaltschaftlich moderierte Erscheinenspflicht bei der Polizei mehr oder weniger absurd an.
Ein gewisser Formalismus könnte sich schon daraus entwickeln, aber die Kapazitäten der Polizei sind nicht grenzenlos und minimieren dieses Risiko entsprechend. Es ist auch nicht so, dass die Polizei sich unnötige Arbeit aufbürdet. Ich habe eher die Erfahrung gemacht, dass sie Weisungen der Staatsanwaltschaft verschleppt und dies mir auch offen zugegeben wurde, weil einfach die Kapazitäten fehlen.
julée
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von julée »

Candor hat geschrieben:
julée hat geschrieben:Es geht hier nicht darum, dass niemand Enigmas Sorge versteht bzw. teilt, dass ein Beschuldigter bei der Polizei unter die Räder kommen könnte, weil er - aus welchen Gründen auch immer - nicht rechtzeitig belehrt worden ist; es werden nur unterschiedliche Schlüsse hieraus gezogen. Und abgesehen davon, dass die diesbezügliche Sorge Enigmas tlw. auf der (eher abwegigen, gesetzesfernen) Prämisse gründet, die StA werde der Polizei künftig einen Freibrief erteilen, alles verpflichtend zu laden, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, muten seine weiteren Einwände gegen eine staatsanwaltschaftlich moderierte Erscheinenspflicht bei der Polizei mehr oder weniger absurd an.
Ein gewisser Formalismus könnte sich schon daraus entwickeln, aber die Kapazitäten der Polizei sind nicht grenzenlos und minimieren dieses Risiko entsprechend. Es ist auch nicht so, dass die Polizei sich unnötige Arbeit aufbürdet. Ich habe eher die Erfahrung gemacht, dass sie Weisungen der Staatsanwaltschaft verschleppt und dies mir auch offen zugegeben wurde, weil einfach die Kapazitäten fehlen.

Es wird doch schlichtweg so ablaufen, dass die Akte von der Polizei zur StA kommt mit der Bitte, um Prüfung, ob die bislang nicht erschienen Zeugen A, B und C verpflichtend geladen werden können. Wenn ersichtlich ist, warum A, B und C vernommen werden sollten und nichts dagegen spricht, dass die Polizei das macht, dann wird die Antwort naheliegenderweise "ja" lauten - aber davon auszugehen, dass die StA es mitmacht, wenn die Polizei meint, auch noch D-F vernehmen zu wollen, von denen in keinster Weise ersichtlich ist, weshalb sie zur Sache etwas beitragen können sollten, dürfte einigermaßen lebensfremd sein. Jedenfalls ich würde als StA, bevor ich anschließend zig nutzlose Protokolle lesen muss, nach einer kurzen Prüfung der Akte zurückschreiben: "(...) ist bislang nicht ersichtlich, was die Zeugen D-F zur Sachverhaltsaufklärung beitragen können sollten. Es wird binnen (...) um Mitteilung gebeten, weshalb die vorgenannten Zeugen gleichwohl vernommen werden sollten." Ob sich Polizist P, der gegenüber D-F eine dicke Lippe riskiert hat, anschließend blamiert fühlt, weil die Zeugen doch nicht von der StA vorgeladen werden, wäre mir ziemlich schnuppe.
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