Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Straf-, Strafprozeß- und Ordnungswidrigkeitenrecht sowie Kriminologie

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[enigma]
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von [enigma] »

julée hat geschrieben:Der falsche Schluss ist es m. E. jedoch, den Status Quo, nach dem es im Belieben der Zeugen steht, staatliche Ressourcen sinnlos zu verschwenden, selbst wenn sie nur als völlig Unbeteiligte aussagen sollen, ob zuerst der A den B geschlagen hat oder umgekehrt, für erhaltenswert zu halten.
Wenn sie wirklich völlig unbeteiligt waren, dürfte ihre Bereitschaft zur Polizei zu gehen (abgesehen von den von thh angesprochenen "Szenezeugen") schon jetzt nicht allzu niedrig zu sein. Ich bin letztes Jahr als Unfallzeuge einer polizeilichen Vorladung selbstverständlich nachgekommen, obwohl ich wusste, dass ich das gar nicht muss.

Ein falscher Schluss ist es m.E. wie gesagt eher, Zeugen- und Beschuldigtenrechte deshalb einzuschränken, weil sie in der Praxis viel Arbeit machen.
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non-liquet
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von non-liquet »

Sympathiebeamter hat geschrieben:Die aber aktuell durchaus Anlass dazu bietet, dass dadurch ein "Generalauftrag" durch den StA erfolgt.
Das habe ich jetzt hier schon mehrfach gelesen - und frage mich zunehmend, wie so ein Generalauftrag in der Praxis aussehen soll.

Stellen wir uns mal ein Ermittlungsverfahren mittlerer Art und Güte vor: Die Polizei wird angerufen, nimmt die Ermittlungen auf, sichert vielleicht Spuren, erhebt Beweismittel und verschickt dazu u. a. auch Ladungen. Dann kommen die Zeugen und äußern sich - oder eben nicht. Bis hier hin gibt es noch keinen Kontakt zur Staatsanwaltschaft, sodass auch keine Anordnung ergangen sein kann, irgendwen zu laden. Jetzt erst wandert die Akte zur StA. Wenn dann die Aussage eines oder einer Anzahl weiterer Zeugen fehlt, die der Dezernent für wichtig hält, erteilt er einen ausdrücklichen Auftrag, diese(n) Zeugen zu vernehmen. Und fügt meist noch hinzu, welche Fragen in der Vernehmung thematisiert werden sollen (und dass ggf. Belehrungen über Zeugnis- bzw. Auskunftsverweigerungsrechte erfolgen sollen).

Und am Ablauf bis hier her ändert sich nichts: In der ersten Phase der polizeilichen Ermittlungen gibt auch die neue Rechtslage keine Erscheinenspflicht eines Zeugen her. Danach ist die ganze Sache durch den Staatsanwalt geprüft und die noch erforderlichen Vernehmungen eingekreist.

Für ein wildes Drauflosladen oder gar eine Überrumpelung gibt es da keinen Raum; von der allgemeinen Schwachsinnigkeit solcher Versuche mal ganz abgesehen.

In Fällen größeren Umfangs oder mit schweren Tatvorwürfen (z. B. vorsätzliche Tötungsdelikte, Vergewaltigungen, Brandstiftungen) erfolgt sehr rasch die direkte Rücksprache mit dem Staatsanwalt, um das Vorgehen abzustimmen und es wird gleichfalls auf neue Ermittlungsergebnisse (z. B. Benennung weiterer Zeugen) im Einzelfall reagiert und z. B. in bestimmten Fällen auch einnmal die Vernehmung durch den Ermittlungsrichter veranlasst. Auch bei solchen Ermittlungene, besonders dann, wenn die Zeit drängt, wäre eine Anordnung der Art "vernehmen Sie halt mal alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist" erst recht hirnrissig (und m. E. auch kaum von der Norm gedeckt).

Ein weiterer Punkt noch: Bitte nicht die Rechnung ohne die oberbehördliche und ministeriale Bürokratie machen - für alles Mögliche gibt es da Dienstvorschriften der Innenministerien und Erlasse der Generalstaatsanwälte, in denen haarklein geregelt ist, wie Polizei und StA in solchen Fällen vorzugehen haben. Art, Inhalt, Umfang und Zeitpunkt einer solchen Anordnung werden da sicherlich auch sehr bald davon erfasst sein. Schon allein, um bei den zu erwartenden gerichtlichen Auseinandersetzungen nicht nackig dazustehen.

Dass trotz allem anfangs Graubereiche bleiben werden, ist eine Binse. Für deren Klärung sind dann, siehe soeben, die Gerichte da.
[enigma] hat geschrieben:Es ist aber ein Schritt in die falsche Richtung, der sich dann beispielsweise mit den von dir abgesprochenen Einschränkungen bei Ablehnungs- und Beweisantragsrechten fortsetzt.
Keineswegs. Der Gesetzgeber bläst der Rechtsordnung hier schlicht etwas Realismus ein, was sich auch unbedingt zur Fortsetzung empfiehlt. Beispiele: Die Streichung des längst aus der Zeit gefallenen Zeugnisverweigerungsrechts kraft Verlöbnisses. Oder auch die Ersetzung der Gesamtstrafenregeln durch eine Einheitsstrafe, wie es sie ja im JGG längst gibt.
[enigma] hat geschrieben:
julée hat geschrieben:Der richtige Hebel dürfte es dort allerdings vielmehr sein, einerseits dafür zu sorgen, dass die Polizei die Vernehmungen ordnungsgemäß durchführt, und andererseits gegebenenfalls über schärfere Verwertungsverboten nachzudenken, wenn sich ein nicht anwaltlich vertretener Zeuge bei der Polizei aufgrund einer nicht ordnungsgemäßen Belehrung um Kopf und Kragen geredet hat.
Der Trend in der Rechtsprechung geht aber doch in die genau entgegen gesetzte Richtung.
Mir ist aus den letzten Jahren keine obergerichtliche Entscheidung bekannt, wonach der Inhalt von Vernehmungen, die unter bewusster Missachtung eines Schweige- oder Zeugnisverweigerungsrechts (oder einer entsprechenden Belehrungspflicht) geführt wurden, verwertbar sein soll. Hingegen zeigt die jüngere Entscheidungspraxis jedenfalls des 2. Strafsenates des BGH sowie diverser Oberlandesgerichte eine nicht bloß zaghafte Hinwendung zur Annahme von Verwertungsverboten.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von julée »

[enigma] hat geschrieben:
Ein falscher Schluss ist es m.E. wie gesagt eher, Zeugen- und Beschuldigtenrechte deshalb einzuschränken, weil sie in der Praxis viel Arbeit machen.
Dies setzt voraus, dass allein der Status Quo geeignet ist, Zeugen- und Beschuldigtenrechte zu gewährleisten, nur dann kann man von einer "Einschränkung" von Rechten sprechen.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von [enigma] »

non liquet hat geschrieben:
[enigma] hat geschrieben:Es ist aber ein Schritt in die falsche Richtung, der sich dann beispielsweise mit den von dir abgesprochenen Einschränkungen bei Ablehnungs- und Beweisantragsrechten fortsetzt.
Keineswegs. Der Gesetzgeber bläst der Rechtsordnung hier schlicht etwas Realismus ein, was sich auch unbedingt zur Fortsetzung empfiehlt. Beispiele: Die Streichung des längst aus der Zeit gefallenen Zeugnisverweigerungsrechts kraft Verlöbnisses. Oder auch die Ersetzung der Gesamtstrafenregeln durch eine Einheitsstrafe, wie es sie ja im JGG längst gibt.
Ist beides zu begrüßen. Es gibt aber nun mal gute Gründe für das Recht eines Zeugen, der polizeilichen Vernehmung fern zu bleiben. Und es überzeugt mich nicht, nun dennoch hierzu zu verpflichten, weil das halt einfacher ist und der überlasteten Justiz entgegen kommt.
non liquet hat geschrieben:Mir ist aus den letzten Jahren keine obergerichtliche Entscheidung bekannt, wonach der Inhalt von Vernehmungen, die unter bewusster Missachtung eines Schweige- oder Zeugnisverweigerungsrechts (oder einer entsprechenden Belehrungspflicht) geführt wurden, verwertbar sein soll. Hingegen zeigt die jüngere Entscheidungspraxis jedenfalls des 2. Strafsenates des BGH sowie diverser Oberlandesgerichte eine nicht bloß zaghafte Hinwendung zur Annahme von Verwertungsverboten.
Der 2. Strafsenat tanzt da aber auch regelmäßig aus der Reihe. Und natürlich sind Vernehmungen unter bewusster Missachtung der Zeugen- oder Beschuldigtenrechte nicht verwertbar, dass die Obergerichte das anerkennen, bedarf ja wohl keiner Erwähnung. Es geht eher um die hohen Hürden, die die Obergerichte aufstellen, bevor überhaupt von einer solchen (absichtlichen) Missachtung ausgegangen wird.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von [enigma] »

julée hat geschrieben:
[enigma] hat geschrieben:
Ein falscher Schluss ist es m.E. wie gesagt eher, Zeugen- und Beschuldigtenrechte deshalb einzuschränken, weil sie in der Praxis viel Arbeit machen.
Dies setzt voraus, dass allein der Status Quo geeignet ist, Zeugen- und Beschuldigtenrechte zu gewährleisten, nur dann kann man von einer "Einschränkung" von Rechten sprechen.
Der status quo ist auf jeden Fall besser dazu geeignet, Zeugen- und Beschuldigtenrechte im Ermittlungsverfahren zu gewährleisten. Eine Einschränkung setzt natürlich nicht voraus, dass der Schutz danach überhaupt nicht mehr gewährleistet wird.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von julée »

[enigma] hat geschrieben:
Der status quo ist auf jeden Fall besser dazu geeignet, Zeugen- und Beschuldigtenrechte im Ermittlungsverfahren zu gewährleisten. Eine Einschränkung setzt natürlich nicht voraus, dass der Schutz danach überhaupt nicht mehr gewährleistet wird.
Nein, er ist nicht besser dazu geeignet, weil er nicht das eigentliche Problem (ggf. unzureichende Belehrung / Ausbildung) adressiert, sondern zum einen jede Menge Aufwand produziert (in der Zeit, in der irgendjemand vergeblich auf Zeugen wartet, könnte man jede Menge anderer Fälle ordentlich bearbeiten) und zum anderen diejenigen aus den Augen verliert, die brav auf Vorladung bei der Polizei erscheinen.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von Eagnai »

[enigma] hat geschrieben: Wenn sie wirklich völlig unbeteiligt waren, dürfte ihre Bereitschaft zur Polizei zu gehen (abgesehen von den von thh angesprochenen "Szenezeugen") schon jetzt nicht allzu niedrig zu sein. Ich bin letztes Jahr als Unfallzeuge einer polizeilichen Vorladung selbstverständlich nachgekommen, obwohl ich wusste, dass ich das gar nicht muss.
Das ehrt dich, ist aber leider keineswegs der Regelfall.

Ich habe es ja weiter oben schon geschrieben: Nach meinen Erfahrungen in der Praxis gibt es - jedenfalls hier im Bezirk - ganze Gruppen von Leuten (insbesondere Angehörige der rechten und linken Szene), die sich schon aus Prinzip weigern, als Zeugen bei der Polizei zu erscheinen, weil man mit "denen" halt nicht zusammenarbeitet, solange man nicht gezwungen wird. Dazu kommen eine Menge "normaler" Leute, die einfach keine Lust haben zu erscheinen, obwohl sie ersichtlich völlig unbeteiligt an jeglichen Straftaten sind. Wenn sie dann nachher ganz empört darüber sind, dass die Polizei sie zur StA-Vernehmung abgeholt hat, und man sie fragt, warum sie denn nicht freiwillig gekommen sind, hört man gerne Sachen wie "Habe die Ladung nicht gelesen", "Hatte kein Geld für die U-Bahn zum Termin", "Der Termin war mir zu früh am Morgen", "Ich kann doch eh nix dazu sagen" oder schlicht "Och, weiß nicht" oder "Ich hatte keine Lust". Das nervt einen nach einer Weile schon ziemlich.

Die Zahl der nicht erschienenen Zeugen, bei denen tatsächlich die Möglichkeit einer eigenen Strafbarkeit im Raum steht, ist meiner persönlichen Erfahrung nach gegenüber den "Keine Lust"-Zeugen verschwindend gering.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von [enigma] »

Es geht ja nicht nur (aber natürlich auch) um die Zeugen, bei denen eine Strafbarkeit im Raum steht. Es geht auch schlicht um die Freiheit, gegenüber der Polizei keine Angaben zu Sachverhalten zu machen, mag man nun persönlich beteiligt sein, oder nicht. Je schwerer die im Raum stehende Straftat oder das Anliegen, desto eher überwiegt das Aufklärungsinteresse natürlich die persönliche Freiheit. Das soll dann aber bitte die StA/das Gericht entscheiden, nicht der POM, der sich missbilligt fühlt, weil die Zeugen seiner Ladung nicht nachkommen wollen.

Und anders als non liquet gehe ich davon aus, dass es in der Praxis der Regelfall sein wird, dass die Polizei die StA einfach um den - wohl formlos und völlig unkomplizierten - Auftrag bitten und dieser erteilt wird. Denn wo kämen wir denn da hin, wenn Bürger nicht alles stehen und liegen würden, weil die Polizei gerade wegen irgend einer Bagatelle mit ihnen sprechen will?

Und natürlich nimmt man sich eher einen Anwalt, wenn die StA oder ein Richter reden wollen, als bei der Polizei, und zwar schon schlicht aus Kostengründen. Es geht mir hier auch keineswegs um Polizeibashing, es gibt eine Menge Polizisten, die ihren Job gerne und gut machen und sich an die Regeln halten. In der Praxis werden die meisten Fehler und absichtlichen Verfahrensverstöße aber nun mal bei polizeilichen Verhören begangen, sei es aus Ermittlungseifer, verletztem Stolz, schlechter Ausbildung oder schlicht Überlastung. Und es ist eben nicht so einfach, dass das alles ja kein Problem sei, weil die Aussage dann ja nicht verwertbar sei. Wenn zB. die inhaltliche Richtigkeit des Vernehmungsprotokolls bestritten wird, hat man da in der Praxis ganz schlechte Karten.
Zuletzt geändert von [enigma] am Sonntag 25. Juni 2017, 01:11, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von Gelöschter Nutzer »

Dass Leute aus den jeweiligen Szenen nicht freiwillig mitmachen, ist klar, weil das gegen die Regeln der Szenen verstößt, wenn nicht speziell gewichtige Gründe dafür sprechen, es doch zu tun.

Aber auch beim Normalbürger kann man nicht unbedingt von einem großen Verantwortungsbewusstsein ausgehen, zu viele fahren vorbei bei Unfällen. Warum sollte es bei Zeugenaussagen anders sein. Man will sich in nichts reinziehen lassen.
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Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von Tibor »

@Enigma: Du hast wirklich eine komische Einstellung zum Staat und insbesondere zur Polizei! Das hatten wir ja neulich schon im anderen Fred. Wenn die Polizei einen Unfallzeugen lädt, weil irgendein Raser über ne rote Ampel gemäht ist und dabei Kinder angefahren hat, welchen Grund soll es Bitteschön geben, dass der Zeuge (Fußgänger whatever) nicht auf Zuruf des POM, aber auf Zuruf des StA erscheint? Unterliegst du als Jurist hier einer falschen Überbewertung der juristischen Ausbildung oder ist es doch - siehe Eingangssatz - eine verquere Einstellung zur Polizei?
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von [enigma] »

Tibor hat geschrieben:@Enigma: Du hast wirklich eine komische Einstellung zum Staat und insbesondere zur Polizei! Das hatten wir ja neulich schon im anderen Fred. Wenn die Polizei einen Unfallzeugen lädt, weil irgendein Raser über ne rote Ampel gemäht ist und dabei Kinder angefahren hat, welchen Grund soll es Bitteschön geben, dass der Zeuge (Fußgänger whatever) nicht auf Zuruf des POM, aber auf Zuruf des StA erscheint? Unterliegst du als Jurist hier einer falschen Überbewertung der juristischen Ausbildung oder ist es doch - siehe Eingangssatz - eine verquere Einstellung zur Polizei?
Es war ja klar, dass der Vorwurf kommen würde. Nein, ich habe keine komische Einstellung zum Staat und insbesondere der Polizei. Es sei denn, fehlende bedingungslose Obrigkeitshörigkeit gilt hier schon als komisch. Ich erinnere daran, dass ich hier monatelang die Verteufelung der Vorratsdatenspeicherung in Frage gestellt habe. Es geht hier auch nicht um Fälle, in denen Kinder durch einen Raser angefahren wurden. In solchen Fällen wird die Vernehmung doch ohnehin durch StA oder Gericht vorgenommen und diese Fälle sind wichtig genug, um sich da nicht über die Mehrarbeit beschweren zu müssen. Den größten Unterschied wird die neue Regelung bei Bagatellsachen machen und - in Einzelfällen, die schlimm genug aber für den Beschuldigten sehr schwer zu beweisen sind - als Trick der Ermittlungsbehörden, um den formalen Beschuldigtenstatus möglichst lange hinaus zu zögern.

Wenn die Polizei die neuen Möglichkeiten nur nutzen wird, um in Fällen mit einem Unrechtsgehalt von angefahrenen Kindern plus die Aussagepflicht herbei zu führen, habe ich damit wie schon gesagt auch kein allzu großes Problem. In solchen Fällen besteht ohnehin de facto eine Aussagepflicht, wenn auch nicht vor der Polizei. Das wird aber nicht der Fall sein. Wenn schon der Zuruf für den Auftrag der StA genügen soll, wird das eben nicht auf die wirklich wichtigen Zeugen beschränkt, sondern auf alle, mit denen die Polizei einfach mal gerne reden will. Und zwar völlig ungeachtet von der Schwere des Delikts oder Bedeutung des Zeugen oder seinem Anreiseweg. Es macht mich wohl nicht zum linksradikalen Revoluzzer, wenn ich da ein Problem mit der persönlichen Freiheit und die Gefahr von staatlichem Machtmissbrauch sehe.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von Gelöschter Nutzer »

Ein sicher auch bedenkenswerter Aspekt.
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Ara
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von Ara »

Grundsätzlich halte ich jeglichen weiteren Abbau von Beschuldigtenrechte (wozu ich auch die hiesigen Änderungen zähle) für nicht sinnvoll. Das nur vorab.

Ich verstehe tatsächlich, dass hier die Staatsanwälte im Thread die Problematik aus einer anderen Perspektive sehen. Ich hab bei der StA auch selbst erlebt, dass vor allem ein großer Berliner Versandhändler und eine größere Bank auf Anfragen der Polizei entweder gar nicht reagierten oder geantwortet haben, sie beantworten nur Fragen der Staatsanwaltschaft. Erst die Drohung, dass man den Vorstandsvorsitzenden staatsanwaltschaftlich lädt, hat dann gefruchtet. Im nächsten Verfahren haben die das Spiel aber wieder durchgezogen.

Sollte es in der Praxis tatsächlich so ablaufen wie non-liquet es hier umrissen hat, dann wäre die Problematik sicherlich nicht so groß. Die Gesellschaft hat sich nun einmal darauf verständigt, dass es zur Bürgerpflicht gehört, dass man als Zeuge aussagen muss. Ob das nun vor der Polizei, der StA oder dem Gericht erfolgt, ist m.E. erst einmal eine organisatorische Frage. Das Problem ist aber, dass das Gesetz nicht so formuliert ist, dass es tatsächlich nur so ablaufen kann, wie beschrieben.

Ich fürchte auch, dass es sich zum Beispiel einbürgern könnte, dass es entweder eine "Generalermächtigung" gibt oder aber, es formell einfach nun so abläuft, dass der StA das Aktenzeichen mit der Strafanzeige zugeleitet wird und von der StA die Anweisung kommt "Bitte um Vernehmung aller relevanten Zeugen" und damit dann die Pflicht ausgelöst wird.

Das größte Problem dabei ist: Es ist weder eine Ladungsfrist noch sonstiges vorgeschrieben. Faktisch erhält die Polizei damit sogar ein Mittel um jemanden festzuhalten (auch wenn rein formal diese Entscheidung bei der StA liegt, aber die ist ja schnell einzuholen).

Das einfache Beispiel ist die Wohnungsdurchsuchung. Hier können alle Mitbewohner oder Angestellte vor Ort festgehalten und von der Polizei vernommen werden. Ein Entziehen dieses "Überraschungsmoments" ist nicht möglich. Diese Vernehmung erfolgt dann übrigens auch nicht im Wortprotokoll, sondern zwischen Tür und Angel auf nem Notizblock.

Ansonsten möchte ich hier übrigens noch in den Raum werfen, dass "Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft" nicht nur die Polizei ist... Auch Steuerfahnder oder Förster sind, je nach Bundesland, Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft. Während Förster sicher seltener den Auftrag der StA erhalten werden, sieht es bei Steuerfahndern möglicherweise schon anders aus.
Die von der Klägerin vertretene Auffassung, die Beeinträchtigung des Wohngebrauchs sei durch das Zumauern der Fenster nur unwesentlich beeinträchtigt, ist so unverständlich, dass es nicht weiter kommentiert werden soll. - AG Tiergarten 606 C 598/11
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von julée »

[enigma] hat geschrieben: Wenn die Polizei die neuen Möglichkeiten nur nutzen wird, um in Fällen mit einem Unrechtsgehalt von angefahrenen Kindern plus die Aussagepflicht herbei zu führen, habe ich damit wie schon gesagt auch kein allzu großes Problem. In solchen Fällen besteht ohnehin de facto eine Aussagepflicht, wenn auch nicht vor der Polizei. Das wird aber nicht der Fall sein. Wenn schon der Zuruf für den Auftrag der StA genügen soll, wird das eben nicht auf die wirklich wichtigen Zeugen beschränkt, sondern auf alle, mit denen die Polizei einfach mal gerne reden will. Und zwar völlig ungeachtet von der Schwere des Delikts oder Bedeutung des Zeugen oder seinem Anreiseweg. Es macht mich wohl nicht zum linksradikalen Revoluzzer, wenn ich da ein Problem mit der persönlichen Freiheit und die Gefahr von staatlichem Machtmissbrauch sehe.
Rein praktisch dürfte auch die Polizei keine Zeit haben, einfach mal alle Zeugen auf Veranlassung der StA vorzuladen, mit denen sie einfach mal gerne plaudern möchte. Aber ob ein Zeuge "wirklich wichtig" ist, weiß man doch erst hinterher. Und eine Generalermächtigung, die dazu führt, dass die Polizei selbst entscheiden kann, welche Zeugen bei ihr erscheinen müssen, dürfte mit dem neuen Gesetzestext nicht in Einklang zu bringen sein. Die Entscheidung, welche Zeugen staatsanwaltschaftlich veranlasst zu vernehmen sind, dürfte (wie bisher) fallen, wenn die Akte das erste Mal bei der StA landet. Dass die StA bislang, wenn die Akte in der zweiten Runde erfolglos von der Polizei wiederkam, weil die Zeugen alle befanden, nicht mit der Polizei reden zu wollen, ggf. nur einen Teil der Zeugen selbst vernommen hat, halte ich für keinen aufrechterhaltenswerten Zustand, weil darunter die (ggf. auch im Beschuldigteninteresse liegende) Tataufklärung leidet. Für denjenigen, der befürchtet, ihm können was "angehängt" werden, weil er irgendwie in der Sache mit drin hängt, wird der Ratschlag künftig eben lauten: Nicht ohne Zeugenbeistand zur Polizei.

@Ara: Das mögen Probleme sein. Allerdings wären das dann die latenten Missbrauchsfälle, auf die Rechtsprechung möglicherweise reagieren müsste. Wenn die StA aber keine Zeit damit verbringen muss, den unwilligen, völlig unbeteiligten Zeugen zu vernehmen, dann bliebe aber möglicherweise auch Zeit, in wirklich wichtigen / kritischen Fällen die Vernehmung selbst durchzuführen.
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Tibor
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von Tibor »

"ein Auftrag" ist bereits sprachlich was ganz anderes als eine Generalermächtigung, eine generelle Beauftragung oder eine allgemeine Aufgabenzuweisung. Das sollte Juristen (StA) eigentlich auffallen, so wie es thh hier schon schrieb. Wenn eine StA hier generelle Delegation von Zeugenvernehmung für einen Katalog an Taten erteilt, dürfte das relativ schnell zu gerichtlichen Beweisverwertubgsproblemen führen.
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