Nicht generell, sondern regelmäßig. Wenn man sich die wiedergegeben Ergebnisse der genannten Dissertation anschaut, ist diese Annahme auch faktisch gut begründet.[enigma] hat geschrieben:Der Hemmschwellentheorie kommt doch zu Recht kaum noch eine konkrete Bedeutung bei der Beweiswürdigung zum Vorsatz zu. Letztendlich ist und bleibt § 261 StPO der Maßstab, nur dieser erlaubt es, dem Einzelfall hinreichend Rechnung zu tragen. Würde man bei Fußtritten gegen den Kopf generell von Tötungsvorsatz ausgehen, müssten diese Tritte auch stets zu einer Verurteilung wegen versuchten Totschlags führen, wenn das Opfer überlebt. Das mag bei besonders brutalen Tritten gegen wehrlose Opfer sicher angemessen sein, aber eben nicht bei jedem Tritt gegen den Kopf, damit würdest du jede heftige aber folgenlose Schlägerei zum Tötungsdelikt machen.
Fall Niklas und fragliche Tritte gegen den Kopf
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Re: Fall Niklas und fragliche Tritte gegen den Kopf
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Re: Fall Niklas und fragliche Tritte gegen den Kopf
Ich habe die Dissertation nicht gelesen und habe gewisse Bedenken, eine derart grundsätzliche Frage von einem FAZ-Zitat aus der Qualifikationsarbeit eines mir unbekannten Juristen abhängig zu machen. Zumal ich die Beweisführung "ein Drittel der Befragten (wer?) erwartet sogar eine tödliche Verletzung -> voluntatives Element regelmäßig (+)" zumindest anhand des Zitates nicht für sonderlich gelungen halte. Nur weil ein Verhalten von der Mehrheit der Bevölkerung abstrakt als Lebensgefährlich erkannt wird, bedeutet das noch lange nicht, dass ein Täter in der konkreten Tatsituation das auch so einordnet.Honigkuchenpferd hat geschrieben:Nicht generell, sondern regelmäßig. Wenn man sich die wiedergegeben Ergebnisse der genannten Dissertation anschaut, ist diese Annahme auch faktisch gut begründet.[enigma] hat geschrieben:Der Hemmschwellentheorie kommt doch zu Recht kaum noch eine konkrete Bedeutung bei der Beweiswürdigung zum Vorsatz zu. Letztendlich ist und bleibt § 261 StPO der Maßstab, nur dieser erlaubt es, dem Einzelfall hinreichend Rechnung zu tragen. Würde man bei Fußtritten gegen den Kopf generell von Tötungsvorsatz ausgehen, müssten diese Tritte auch stets zu einer Verurteilung wegen versuchten Totschlags führen, wenn das Opfer überlebt. Das mag bei besonders brutalen Tritten gegen wehrlose Opfer sicher angemessen sein, aber eben nicht bei jedem Tritt gegen den Kopf, damit würdest du jede heftige aber folgenlose Schlägerei zum Tötungsdelikt machen.
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Re: Fall Niklas und fragliche Tritte gegen den Kopf
Von mir aus. Aber ich halte es auch sonst für einzig plausibel, dass Menschen, die andere Menschen mit beschuhtem Fuß gegen den Kopf treten, den Tod ihres Opfers in der Regel für möglich, wenn nicht wahrscheinlich halten. Wenn jemand dennoch zutritt, zeugt das deshalb allemal von einer gravierenden Missachtung menschlichen Lebens, so dass es m.E. auch naheliegt, das voluntative Element regelmäßig zu bejahen. In den meisten Fällen tritt die Lust an der Gewalt hinzu.[enigma] hat geschrieben:Ich habe die Dissertation nicht gelesen und habe gewisse Bedenken, eine derart grundsätzliche Frage von einem FAZ-Zitat aus der Qualifikationsarbeit eines mir unbekannten Juristen abhängig zu machen. Zumal ich die Beweisführung "ein Drittel der Befragten (wer?) will sogar töten -> voluntatives Element grundsätzlich (+)" zumindest anhand des Zitates nicht für sonderlich gelungen halte.Honigkuchenpferd hat geschrieben:Nicht generell, sondern regelmäßig. Wenn man sich die wiedergegeben Ergebnisse der genannten Dissertation anschaut, ist diese Annahme auch faktisch gut begründet.[enigma] hat geschrieben:Der Hemmschwellentheorie kommt doch zu Recht kaum noch eine konkrete Bedeutung bei der Beweiswürdigung zum Vorsatz zu. Letztendlich ist und bleibt § 261 StPO der Maßstab, nur dieser erlaubt es, dem Einzelfall hinreichend Rechnung zu tragen. Würde man bei Fußtritten gegen den Kopf generell von Tötungsvorsatz ausgehen, müssten diese Tritte auch stets zu einer Verurteilung wegen versuchten Totschlags führen, wenn das Opfer überlebt. Das mag bei besonders brutalen Tritten gegen wehrlose Opfer sicher angemessen sein, aber eben nicht bei jedem Tritt gegen den Kopf, damit würdest du jede heftige aber folgenlose Schlägerei zum Tötungsdelikt machen.
Zu dem dir unbekannten Autor: http://www.uni-bremen.de/universitaet/p ... 0a9b549725
Und genau auf diese Weise kommt man dann zu der gegenläufigen Tendenz.Nur weil ein Verhalten von der Mehrheit der Bevölkerung abstrakt als Lebensgefährlich erkannt wird, bedeutet das noch lange nicht, dass ein Täter in der konkreten Tatsituation das auch so einordnet.
Zuletzt geändert von Honigkuchenpferd am Montag 22. August 2016, 22:27, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Fall Niklas und fragliche Tritte gegen den Kopf
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Re: Fall Niklas und fragliche Tritte gegen den Kopf
Das halte ich in dieser Pauschalität eben für ebenso falsch wie die über lange Zeit falsche Anwendung der Hemmschwellentheorie durch die Instanzgerichte. Solche Fälle spielen sich ja nicht im Vakuum ab, es gibt zig Umstände die bei der Beurteilung des Tötungsvorsatzes eine Rolle spielen können und müssen. Insbesondere natürlich die Heftigkeit des Tritts, die Verteidigungsfähigkeit des Opfers, etc. pp. Gerade bei derart schweren Tatvorwürfen müssen eben sämtliche Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden. Fehlurteile (die es leider immer wieder, gerade auch in solchen Fällen gibt), verhindert man nicht, indem man die vollumfängliche Beweiswürdigung durch das Gericht entwertet.Honigkuchenpferd hat geschrieben:
Von mir aus. Aber ich halte es auch sonst für einzig plausibel, dass Menschen, die andere Menschen mit beschuhtem Fuß gegen den Kopf treten, den Tod ihres Opfers in der Regel für möglich, wenn nicht wahrscheinlich halten.
Nein, man kommt damit eher zum Grundsätz, dass die Schuld und der Vorsatz im konkreten Einzelfall anhand einer umfassenden Beweiswürdigung und eben nicht aufgrund irgendwelcher pauschaler Vermutungen festgestellt wird. Das mag zu Fehlurteilen führen, die aufgrund des Zweifelgrundsatzes richtigerweise häufig zugunsten der Angeklagten ausgehen. Das ist der Preis des Rechtsstaats. Umgekehrt würden die Fehlurteile eben andersrum ausfallen.Honigkuchenpferd hat geschrieben:Und genau auf diese Weise kommt man dann zu der gegenläufigen Tendenz.Nur weil ein Verhalten von der Mehrheit der Bevölkerung abstrakt als Lebensgefährlich erkannt wird, bedeutet das noch lange nicht, dass ein Täter in der konkreten Tatsituation das auch so einordnet.
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Re: Fall Niklas und fragliche Tritte gegen den Kopf
Aber irgendeinen Ausgangspunkt muss es ja geben. Das kann m.E. nur die mit solchen Gewalthandlungen regelmäßig verknüpfte Lebensgefahr sein. Wobei sich der Zusammenfassung der genannten Dissertation sogar ausdrücklich entnehmen lässt:Das halte ich in dieser Pauschalität eben für ebenso falsch wie die über lange Zeit falsche Anwendung der Hemmschwellentheorie durch die Instanzgerichte. Solche Fälle spielen sich ja nicht im Vakuum ab, es gibt zig Umstände die bei der Beurteilung des Tötungsvorsatzes eine Rolle spielen können und müssen. Insbesondere natürlich die Heftigkeit des Tritts, die Verteidigungsfähigkeit des Opfers, etc. pp. Gerade bei derart schweren Tatvorwürfen müssen eben sämtliche Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden. Fehlurteile (die es leider immer wieder, gerade auch in solchen Fällen gibt), verhindert man nicht, indem man die vollumfängliche Beweiswürdigung durch das Gericht entwertet.
Bei nicht-tödlich verlaufenen Angriffen wird häufig fälschlich von einer geringeren Intensität der Angriffe ausgegangen. Angesichts der Empfindlichkeit der betroffenen Körperpartien Kopf, Hals und Oberkörper hängt es aber häufig nur vom Zufall ab, ob ein Tritt Knochenbrüche oder Organzerreißungen hervorruft oder „nur“ schmerzhafte Hämatome verursacht. Aus rechtsmedizinischer Sicht nicht haltbar ist damit der nicht selten gezogene Schluss, dass in den Fällen, in denen keine äußerlich sichtbaren Verletzungen verursacht wurden, die Tritte auch weniger gefährlich waren.
Es trifft im Übrigen auch nicht zu, dass die Lösung, regelmäßig von Tötungsvorsatz auszugehen, es ausschließen würde, tatsächlich (!) gegebene Umstände zu berücksichtigen, die diesen widerlegen oder ernsthaft in Zweifel ziehen. Bei Regelbeispielen ist das ja auch nicht der Fall.
Letztlich geht es hier um nicht anderes als eine "umfassende Beweiswürdigung", aber auch sie basiert im Kern auf der Unterstellung bestimmter (innerer) Abläufe. Allerüdngs dürfte man, wenn man sich tatsächlich konsequent von allem mit der Hemmschwellentheorie verknüpften Ballast löst, auch so zum richtigen Ergebnis kommen. Nur ist zweifelhaft, ob und inwieweit das wirklich geschieht. Der "Preis des Rechtsstaates" ist es jedenfalls nicht, beliebig zum Vorteil von brutalen Tätern noch so unwahrscheinliche Annahmen zu unterstellen.Nein, man kommt damit eher zum Grundsätz, dass die Schuld und der Vorsatz im konkreten Einzelfall anhand einer umfassenden Beweiswürdigung und eben nicht aufgrund irgendwelcher pauschaler Vermutungen festgestellt wird. Das mag zu Fehlurteilen führen, die aufgrund des Zweifelgrundsatzes richtigerweise häufig zugunsten der Angeklagten ausgehen. Das ist der Preis des Rechtsstaats.
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Re: Fall Niklas und fragliche Tritte gegen den Kopf
Natürlich nicht, und das macht zumindest der BGH auch nicht. Es macht mE nur wenig Sinn und lässt sich auch kaum mit § 261 StPO vereinbaren, bei Tritten gegen den Kopf regelmäßig von Tötungsvorsatz auszugehen. Es wird im Einzelfall häufig darum gehen, ob der Täter Anlauf genommen hat, Zeit zum Überlegen hatte oder den Tritt im Rahmen einer chaotischen und beiderseitigen Schlägerei abgegeben hat, ob das Opfer erkennbar wehrlos war, am Boden lag, den Kopf geschützt hat, usw.Honigkuchenpferd hat geschrieben: Der "Preis des Rechtsstaates" ist es jedenfalls nicht, beliebig zum Vorteil von brutalen Tätern noch so unwahrscheinliche Annahmen zu unterstellen.
"Tritte gegen den Kopf" kommen in der Realität nunmal in unzähligen Abstufungen an Gefährlichkeit daher. Und es mag ja sein, dass die abstrakte Gefährlichkeit von Tritten gegen den Kopf auf der Hand liegt. Selbst bei denjenigen, die das in einer Befragungssituation bejahen, wird man aber nicht zwingend davon ausgehen können, dass sie im Rahmen einer Schlägerei auch an diese Gefahr denken.
Äußere Verletzungen sind auch nur ein Indiz im Rahmen der Gesamtwürdigung. Hat der Tritt wie im Fall Brunner einen Abdruck auf der Schläfe hinterlassen, kann man wohl davon ausgehen, dass er heftig war. Ein Tritt ohne sichtbare Verletzungen ist nicht grundsätzlich ungefährlich. Sagt allerdings ein Zeuge aus, der Täter habe dem bewusstlosen Opfer mit voller Wucht ins Gesicht getreten, können fehlende oberflächlichliche Verletzungen natürlich dagegen sprechen. Es macht im Ergebnis also keinen Sinn, bestimmte Indizien für den Tötungsvorsatz pauschal und ohne Rücksicht auf den Einzelfall zu bewerten. Deshalb ist es falsch, wenn die Instranzgerichte in - wie gesagt falsch verstandener - Anwendung der Hemmschwellentheorie davon ausgehen, an das voluntative Element seien beim Tötungsvorsatz ungeachtet der objektiv gefährlichen Begehungsweise extrem hohe Anforderungen zu stellen. Genauso falsch ist es aber, alleine durch den Tritt gegen einen Kopf erstmal von einem Tötungsvorsatz auszugehen, den der Angeklagte widerlegen muss.
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Re: Fall Niklas und fragliche Tritte gegen den Kopf
Ich würde eher sagen, dass sie in der Realität in fast allen denkbaren Konstellationen das veritable Risiko tödlicher Verletzungen bergen. In jedem Fall spricht das nicht gegen eine Systematisierung, um die Rechtsprechung nachvollziehbar(er) zu machen.[enigma] hat geschrieben:"Tritte gegen den Kopf" kommen in der Realität nunmal in unzähligen Abstufungen an Gefährlichkeit daher.
Ich möchte bezweifeln, dass es tatsächlich möglich ist - wenn man die gedanklichen Schritte einmal offen legt - überhaupt anders zu verfahren, wenn man (1) allein aus der äußeren Gefährlichkeit einer Handlung auf die innere Tatseite schließen muss und (2) eine Verurteilung nicht ausgeschlossen sein soll.Genauso falsch ist es aber, alleine durch den Tritt gegen einen Kopf erstmal von einem Tötungsvorsatz auszugehen, den der Angeklagte widerlegen muss.
Im Übrigen trifft es ja auch nicht zu, dass der Angeklagte im Strafprozess nun etwas widerlegen müsste. Natürlich muss ein Gericht die Frage, ob ein atypischer Fall vorliegt, dennoch selbst stellen und beantworten.
Letztlich denke ich übrigens, dass die Herangehensweise des BGH, der sich von der Hemmschwellentheorie bekanntlich selbst distanziert hat, auf nichts anderes hinausläuft - nur dass es eben nicht in dieser Deutlichkeit gesagt wird.
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Re: Fall Niklas und fragliche Tritte gegen den Kopf
Jede Systematisierung schränkt - wenn sie praktisch überhaupt irgend eine Relevanz haben soll - die freie richterliche Beweiswürdigung ein.Honigkuchenpferd hat geschrieben:Ich würde eher sagen, dass sie in der Realität in fast allen denkbaren Konstellationen das veritable Risiko tödlicher Verletzungen bergen. In jedem Fall spricht das nicht gegen eine Systematisierung, um die Rechtsprechung nachvollziehbar(er) zu machen.[enigma] hat geschrieben:"Tritte gegen den Kopf" kommen in der Realität nunmal in unzähligen Abstufungen an Gefährlichkeit daher.
Bei einer freien richterlichen Beweiswürdigung, die sich von vorne herein auf sämtliche Tatumstände bezieht, kann der Vorsatz natürlich auch aufgrund der äußeren Gefährlichkeit bejaht werden und dies schließt eine Verurteilung auch nicht aus.Honigkuchenpferd hat geschrieben:Ich möchte bezweifeln, dass es tatsächlich möglich ist - wenn man die gedanklichen Schritte einmal offen legt - überhaupt anders zu verfahren, wenn man (1) allein aus der äußeren Gefährlichkeit einer Handlung auf die innere Tatseite schließen muss und (2) eine Verurteilung nicht ausgeschlossen sein soll.Genauso falsch ist es aber, alleine durch den Tritt gegen einen Kopf erstmal von einem Tötungsvorsatz auszugehen, den der Angeklagte widerlegen muss.
Der BGH hat sich von der Hermmschwellentheorie nicht wirklich distanziert, sondern von dessen teilweise fehlerhaften Anwendung durch die Instanzgerichte. Dass an die Feststellung des Tötungsvorsatzes grundsätzlich höhere Anforderungen zu stellen sind, als zB an einen Körperverletzungsvorsatz, bestreitet der BGH ja nicht. Allerdings kann eben auch dieser alleine aufgrund äußerer Umstände festgestellt werden, wenn diese in ihrer Gesamtheit für den Tötungsvorsatz sprechen. Es reicht also nicht, wenn das Gericht sagt "Der Angeklagte hat zwar auf den Kopf des bewusstlosen Opfers eingetreten, aber aufgrund der hohen Hemmschwelle bei Tötungsdelikten können wir nicht verurteilen". Umgekehrt reicht es auch nicht, wenn sich die Sachverhaltsdarstellung darauf beschränkt, dass der Täter dem am Boden liegenden Opfer mit dem beschuhten Fuß gegen den Kopf getreten hat, um daraus einen Tötungsvorsatz abzuleiten.Honigkuchenpferd hat geschrieben:Letztlich denke ich übrigens, dass die Herangehensweise des BGH, der sich von der Hemmschwellentheorie bekanntlich selbst distanziert hat, auf nichts anderes hinausläuft - nur dass es eben nicht in dieser Deutlichkeit gesagt wird.
Letztendlich stellt der BGH also völlig zurecht darauf ab, dass es einzig und allein auf die freie richterliche Beweiswürdigung ankommt. Dabei muss der Tritt gegen den Kopf natürlich berücksichtigt werden. Ob dieser aber im Einzelfall ausreicht, um einen Tötungsvorsatz nahe zu legen, muss das Gericht eben im Rahmen dieser freien Würdigung feststellen. Deine Lösung würde letztendlich dazu führen, dass jeder Tritt gegen den Kopf mit dem beschuhten Fuß zwingend zum Tötungsvorsatz führen müsste, wenn es keine Umstände gibt, die aktiv dagegen sprechen. Stattdessen müssen die konkrete (!) Lebensgefährlichkeit des Tritts, das Wissenselement für den Täter und das billigende Inkaufnehmen aber positiv festgestellt werden, und zwar aus guten Gründen. Das mag Verurteilungen wegen Tötungsdelikten erschweren, macht sie aber natürlich nicht unmöglich. Insbesondere genügt für die Feststellung ja die Überzeugung des Gerichts, ein Vollbeweis - der in solchen Fällen ohne Geständnis nie möglich sein wird - wird gerade nicht gefordert. Und dass an eine Beweisführung, die zu einer Verurteilung wegen Totschlag oder sogar Mord führen soll, erhöhte Anforderungen gestellt werden, finde hoffentlich nicht nur ich grundsätzlich gut und richtig.
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Re: Fall Niklas und fragliche Tritte gegen den Kopf
Das ist unhaltbar. Systematisierungen bewirken keine Verkürzung der Möglichkeit der Beweiswürdigung, sie sind aber geeignet, deren Rationalität zu erhöhen. Im Übrigen ist es doch ebenso bereits eine Systematisierung, an besonders gefährliche Handlungsweisen u.Ä. anzuknüpfen. Das geschieht aber wiederum ganz selbstverständlich.[enigma] hat geschrieben:Jede Systematisierung schränkt - wenn sie praktisch überhaupt irgend eine Relevanz haben soll - die freie richterliche Beweiswürdigung ein.
Und was, wenn man tatsächlich nur das feststellen kann? Wenn es keinerlei Anhaltspunkte gibt, die trotz höchster Gefährlichkeit der Tathandlung (unterstellen wir auch mehr als eine minimale Wucht) gegen den Tötungsvorsatz sprechen?Umgekehrt reicht es auch nicht, wenn sich die Sachverhaltsdarstellung darauf beschränkt, dass der Täter dem am Boden liegenden Opfer mit dem beschuhten Fuß gegen den Kopf getreten hat, um daraus einen Tötungsvorsatz abzuleiten.
Nimmt man den BGH beim Wort, dürfte das auch bei ihm der Fall sein. Im Übrigen möchte ich schon zu bedenken geben, dass "meine" Lösung derjenigen entspricht, die in der genannten Dissertation - als das Resultat intensiver empirischer Auseinandersetzung mit der Problematik - vertreten wird.Deine Lösung würde letztendlich dazu führen, dass jeder Tritt gegen den Kopf mit dem beschuhten Fuß zwingend zum Tötungsvorsatz führen müsste, wenn es keine Umstände gibt, die aktiv dagegen sprechen.
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Re: Fall Niklas und fragliche Tritte gegen den Kopf
Allerdings eben im Rahmen einer umfassenden Gesamtwürdigung, nicht als ein dieser vorgelagerter Schritt.Honigkuchenpferd hat geschrieben:Das ist unhaltbar. Systematisierungen bewirken keine Verkürzung der Möglichkeit der Beweiswürdigung, sie sind aber geeignet, deren Rationalität zu erhöhen. Im Übrigen ist es doch ebenso bereits eine Systematisierung, an besonders gefährliche Handlungsweisen u.Ä. anzuknüpfen. Das geschieht aber wiederum ganz selbstverständlich.[enigma] hat geschrieben:Jede Systematisierung schränkt - wenn sie praktisch überhaupt irgend eine Relevanz haben soll - die freie richterliche Beweiswürdigung ein.
Honigkuchenpferd hat geschrieben:Nimmt man den BGH beim Wort, dürfte das auch bei ihm der Fall sein.Deine Lösung würde letztendlich dazu führen, dass jeder Tritt gegen den Kopf mit dem beschuhten Fuß zwingend zum Tötungsvorsatz führen müsste, wenn es keine Umstände gibt, die aktiv dagegen sprechen.
Auf welches Zitat beziehst du dich? Der BGH fordert besondere Indizien, die gegen die Annahme des voluntativen Elements sprechen nur dann, wenn die offensichtliche und konkrete (!) Lebensgefährlichkeit der Tathandlung festgestellt wurde. Damit ist aber nichts über irgendwelche regelmäßigen Bewertungen von Fußtritten gegen den Kopf gesagt. Im Fall, der dem Urteil zugrunde liegt, rammt der Täter dem Opfer mit den Worten "Verrecke, du Hurensohn" ein Messer durch den Rücken in die Lunge. Klar spricht das für Tötungsvorsatz und natürlich muss da schon viel passieren, um den bedingten Vorsatz verneinen zu können. Gleichzeitig bedeutet das aber nicht, dass jeder Messerstich in den Rücken den Tötungsvorsatz nahe legt.
Kann ich wie gesagt nicht beurteilen, ich kenne weder die Disseration, noch ihre Methoden, noch den Verfasser. Sollte das so sein, macht es die Lösung nicht richtiger.Im Übrigen möchte ich schon zu bedenken geben, dass "meine" Lösung derjenigen entspricht, die in der genannten Dissertation - als das Resultat intensiver empirischer Auseinandersetzung mit der Problematik - vertreten wird.
Zuletzt geändert von [enigma] am Dienstag 23. August 2016, 01:10, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Fall Niklas und fragliche Tritte gegen den Kopf
Und ich bezweifle eben, dass es in Wahrheit einen Unterschied gibt, insbesondere wenn man den gedanklichen Ablauf aufdröselt. Nur wäre die Wahrscheinlichkeit, dass die Instanzgerichte etwas missverstehen, deutlich geringer, wenn man es anders formulieren würde.[enigma] hat geschrieben:Allerdings eben im Rahmen einer umfassenden Gesamtwürdigung, nicht als ein dieser vorgelagerter Schritt.
Vor allem hierauf:Auf welches Zitat beziehst du dich?
Hervorhebung von mir.Dabei liegt zwar die Annahme einer Billigung des
Todes des Opfers nahe, wenn der Täter sein Vorhaben trotz erkannter Lebensgefährlichkeit
durchführt. Allein aus dem Wissen um den möglichen Erfolgseintritt
oder die Gefährlichkeit des Verhaltens kann aber nicht ohne Berücksichtigung
etwaiger sich aus der Tat und der Persönlichkeit des Täters ergebender
Besonderheiten geschlossen werden, dass auch das Willenselement
des Vorsatzes gegeben ist.
Ich habe doch extra die Zusammenfassung der Uni Bremen mit Angaben zum Verf. verlinkt: seit 2003 in Bremen als Staatsanwalt tätig, zuletzt mehrere Jahre als Sonderdezernent für Kapitalverbrechen (Tötungsdelikte) und Todesursachenermittlungen (u.a. „Fall Kevin“). Dort auch Erläuterungen zu Methoden und Ergebnissen.Kann ich wie gesagt nicht beurteilen, ich kenne weder die Disseration, noch ihre Methoden, noch den Verfasser. Sollte das so sein, macht es die Lösung nicht richtiger.
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Re: Fall Niklas und fragliche Tritte gegen den Kopf
Habe meinen letzten Beitrag editiert, die Fälle sind nicht vergleichbar. Es geht hier gerade um die Feststellung der offensichtlichen, konkreten Lebensgefährlichkeit und der Erkennbarkeit für den Täter, die im Fall auf der Hand lagen, da sprach sogar einiges für direkten Tötungsvorsatz. Dann müssen natürlich Umstände dazukommen, die gegen das billigende Inkaufnehmen sprechen. Im Übrigen spricht dein Zitat ja gerade dafür, dass die Tritte gegen den Kopf nur ein Aspekt innerhalb der Gesamtwürdigung sind.Honigkuchenpferd hat geschrieben:Vor allem hierauf:Auf welches Zitat beziehst du dich?
Dabei liegt zwar die Annahme einer Billigung des
Todes des Opfers nahe, wenn der Täter sein Vorhaben trotz erkannter Lebensgefährlichkeit
durchführt. Allein aus dem Wissen um den möglichen Erfolgseintritt
oder die Gefährlichkeit des Verhaltens kann aber nicht ohne Berücksichtigung
etwaiger sich aus der Tat und der Persönlichkeit des Täters ergebender
Besonderheiten geschlossen werden, dass auch das Willenselement
des Vorsatzes gegeben ist.
Ändert nichts daran, dass ich weder den Verfasser, noch die Arbeit kenne. Dass der Mann Staatsanwalt mit einschlägiger Berufserfahrung ist, ändert daran doch nichts. Zumal ich zu seinen Gunsten davon ausgehe, dass er deine Herangehensweise und Deutung der freien richterlichen Beweiswürdigung im Ergebnis nicht teilt. Sollte ich mich da irren, liegt er eben falsch.Honigkuchenpferd hat geschrieben:Ich habe doch extra die Zusammenfassung der Uni Bremen mit Angaben zum Verf. verlinkt: seit 2003 in Bremen als Staatsanwalt tätig, zuletzt mehrere Jahre als Sonderdezernent für Kapitalverbrechen (Tötungsdelikte) und Todesursachenermittlungen (u.a. „Fall Kevin“).Kann ich wie gesagt nicht beurteilen, ich kenne weder die Disseration, noch ihre Methoden, noch den Verfasser. Sollte das so sein, macht es die Lösung nicht richtiger.
Zuletzt geändert von [enigma] am Dienstag 23. August 2016, 01:21, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Fall Niklas und fragliche Tritte gegen den Kopf
Das ist ein allgemeiner Hinweis, der in der von Ara zitierten Entscheidung aufgegriffen wird (und dieser Fall war durchaus vergleichbar). Wenn dort von "Besonderheiten" die Rede ist, muss es wohl auch eine Regel geben, und diese gründet nun einmal auf der Gefährlichkeit von Tritten gegen den Kopf.[enigma] hat geschrieben:Habe meinen letzten Beitrag editiert, die Fälle sind nicht vergleichbar. Es geht hier gerade um die Feststellung der offensichtlichen, konkreten Lebensgefährlichkeit und der Erkennbarkeit für den Täter, die im Fall auf der Hand lagen, da sprach sogar einiges für direkten Tötungsvorsatz. Dann müssen natürlich Umstände dazukommen, die gegen das billigende Inkaufnehmen sprechen.
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Re: Fall Niklas und fragliche Tritte gegen den Kopf
Und dennoch musst du die konkrete Gefährlichkeit des Tritts gegen den Kopf und das Wissenselement positiv feststellen. Erst das legt den Tötungsvorsatz nahe, erst dann müssen die Besonderheiten hinzutreten, um den bedingten Vorsatz abzulehnen. Du forderst dagegen, dass die abstrakte Gefährlichkeit ausreichen soll. Außerdem soll das Wissen um die abstrakte Gefährlichkeit wohl seinerseits genügen, um das billigende Inkaufnehmen regelmäßig anzunehmen. Und das lässt sich der Entscheidung gerade nicht entnehmen.
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