Rechtliches Gehör vor Anklageerhebung

Straf-, Strafprozeß- und Ordnungswidrigkeitenrecht sowie Kriminologie

Moderator: Verwaltung

Antworten
Sebast1an
Power User
Power User
Beiträge: 662
Registriert: Sonntag 5. August 2012, 19:37
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Rechtliches Gehör vor Anklageerhebung

Beitrag von Sebast1an »

Der Beschuldigte ist ein Serien-Betrüger, 20x Betrug in Tatmehrheit.

Zunächst wird der Beschuldigte zu den Taten 1-10 vorgeladen und vernommen. Kurz danach begeht er nochmal 6 Taten, zu denen er dann erneut vorgeladen und vernommen wird. Während der weiteren Ermittlungen stellt sich heraus, dass er vor der letzten Vernehmung 4 weitere Taten begangen hat.

Ist dem Beschuldigte erneut rechtliches Gehör zu gewähren?

Mein Ausbilder meint: Nein, direkt Anklage. Er wurde doch vernommen. Und im Zweifel wird ihm rechtliches Gehör im Zwischenverfahren gewährt.
Ich meine: Rechtliches Gehör wurde ihm bzgl der 4 weiteren Taten nicht gewährt. Und da schon die Anklageerhebung selbst ein belastender Akt ist, ist er vorab erneut vorzuladen (und zu vernehmen). Zudem soll § 163a StPO dem Beschuldigten die Möglichkeiten geben, Einfluss auf das Ermittlungsergebnis zu nehmen. Das ist im Zwischenverfahren nicht mehr heilbar.
Ich bin auch nur ein Mensch. Genauso wie ein Weißer Hai auch nur ein Fisch ist. (Zlatan Ibrahimović)
Benutzeravatar
Urs Blank
Mega Power User
Mega Power User
Beiträge: 1741
Registriert: Samstag 31. Januar 2009, 12:38
Ausbildungslevel: Anderes

Re: Rechtliches Gehör vor Anklageerhebung

Beitrag von Urs Blank »

Nach verbreitetem Verständnis ist der Beschuldigte zu allen „Taten“ zu vernehmen, die Gegenstand des Verfahrens sind, sofern keine Einstellungsreife besteht. Gemeint ist dabei die prozessuale, nicht die materiell-rechtliche Tat. Ergeben sich nach Vernehmung des Beschuldigten im Rahmen derselben prozessualen Tat neue Umstände, ist eine erneute Vernehmung nicht erforderlich (so z. B. Meyer-Goßner). Wie dein Fall liegt, kann anhand deiner Sachverhaltsangaben nicht beurteilt werden. Denn bei Tatserien kann trotz materiell-rechtlicher Selbständigkeit unter Umständen nur eine Tat im prozessualen Sinne vorliegen.

Sich über diese formalen Gesichtspunkte vertiefte Gedanken zu machen, lohnt nicht. Dein Ausbilder hält es anscheinend für pragmatisch, rasch Anklage zu erheben. Das kann man aber auch anders sehen. Möglicher Kompromiss: Schriftliche Anhörung mit kurzer Frist gemäß § 163a Abs. 1 S. 2 StPO:
"Cats exit the room in a hurry when oysters are opened."
Benutzeravatar
thh
Super Mega Power User
Super Mega Power User
Beiträge: 5278
Registriert: Dienstag 18. August 2009, 15:04
Ausbildungslevel: Interessierter Laie

Re: Rechtliches Gehör vor Anklageerhebung

Beitrag von thh »

Sebast1an hat geschrieben:Der Beschuldigte ist ein Serien-Betrüger, 20x Betrug in Tatmehrheit.

Zunächst wird der Beschuldigte zu den Taten 1-10 vorgeladen und vernommen. Kurz danach begeht er nochmal 6 Taten, zu denen er dann erneut vorgeladen und vernommen wird. Während der weiteren Ermittlungen stellt sich heraus, dass er vor der letzten Vernehmung 4 weitere Taten begangen hat.

Ist dem Beschuldigte erneut rechtliches Gehör zu gewähren?
Richtigerweise wohl schon, nachdem das rechtliche Gehör aber im Zwischenverfahren nachgeholt werden kann und die fehlende Nachvernehmung daher keine Folgen hat, ist der Verzicht darauf verständlich. Wenn immer neue Taten begangen werden, wird man sonst ja nie fertig ...
Deutsches Bundesrecht? https://www.buzer.de/ - tagesaktuell, samt Änderungsgesetzen und Synopsen
Gesetze mit Rechtsprechungsnachweisen und Querverweisen? https://dejure.org/ - pers. Merkliste u. Suchverlauf
Eagnai
Super Mega Power User
Super Mega Power User
Beiträge: 4196
Registriert: Freitag 6. April 2007, 19:12

Re: Rechtliches Gehör vor Anklageerhebung

Beitrag von Eagnai »

Ich halte es für vertretbar, Anklage zu erheben, wenn jemand zu (nur) 4 von 20 gleichgelagerten Taten derselben Serie nicht angehört wurde.

Ganz zu Beginn meiner Tätigkeit bei der StA habe ich das noch anders gehalten, getreu dem Motto "Oh mein Gott, bloß keinen Verfahrensfehler machen" - da hatte ich z.B. mal eine Serienbetrügerin, bei der ich knapp 100 Taten angeklagt habe, und weil sie zu 5 weiteren Taten nicht angehört worden war und ich Hemmungen hatte, diese Taten einfach mit anzuklagen, andererseits aber die Akte vom Tisch haben wollte, habe ich in Bezug auf diese 5 Taten nach § 154 StPO eingestellt (obwohl ich an sich kein großer Fan dieser Einstellungsmöglichkeit bin).

Heute, nach mehr als 5 Jahren im Dienst, würde ich in solch einem Fall wahrscheinlich alle Taten mit anklagen. An sich bin ich absolut der Meinung, dass man sich an die StPO halten sollte, aber man muss auch nicht päpstlicher sein als der Papst und den Formalismus bis ganz auf die Spitze treiben, wenn keinem ein Unrecht droht, wenn man es mal nicht ganz tut.

Denn in so einem Fall wie diesem hier spricht aus meiner Sicht einiges dafür, auf das erneute rechtliche Gehör zu verzichten:

- Dem Beschuldigten geschieht kein nennenswertes Unrecht. Er ist zu der weit überwiegenden Zahl der gleichgelagerten Taten derselben Serie angehört worden, und zu den paar Taten, die noch fehlen, kann er sich sowohl im Zwischenverfahren als auch in der Hauptverhandlung noch so umfassend äußern, wie er möchte. Sebast1ans Argument, dass auch die Anklageerhebung ein belastender Akt wäre, kommt hier meiner Meinung nach kein großes Gewicht zu - denn die Anklage an sich wird ja ohnehin erhoben (zumindest in Bezug auf die 16 Taten, zu denen er bereits angehört wurde), und ob diese Anklage nun 16 oder 20 Taten enthält, ändert an der Belastung des Beschuldigten im Ergebnis sehr wenig.

- Man wird in der Tat nie fertig mit dem Verfahren, wenn man bei jeder einzelnen neuen gleichgelagerten Tat wieder mit einer neuen Anhörung anfängt, und diese Verzögerungen helfen niemandem, auch nicht dem Beschuldigten.

- Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass Beschuldigte gar nicht schon wieder angehört werden will. Die meisten "Serientäter", mit denen ich bisher zu tun hatte, hatten keinerlei Lust, jede Woche wieder zu einem neuen Termin bei der Polizei zu latschen, nur weil alle Taten "kleckerweise" bekannt wurden. Die meisten wollen lieber, dass das Verfahren schnell zu Ende geht und sie dann wissen, woran sie sind.
Sebast1an
Power User
Power User
Beiträge: 662
Registriert: Sonntag 5. August 2012, 19:37
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: Rechtliches Gehör vor Anklageerhebung

Beitrag von Sebast1an »

Danke für die Hinweise.

Ich denke immernoch, dass streng nach § 163a StPO eine erneute Anhörung erfolgen müsste. Da dies aber den Interessen des Beschuldigten eher zuwiderläuft als ihnen zu dienen (siehe Eagnai), ist eine Anklageerhebung wohl gut vertretbar.
Ich bin auch nur ein Mensch. Genauso wie ein Weißer Hai auch nur ein Fisch ist. (Zlatan Ibrahimović)
Antworten