Bedingter Vorsatz - ist die "Billigungstheorie" korrekt?

Straf-, Strafprozeß- und Ordnungswidrigkeitenrecht sowie Kriminologie

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Micha79
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Bedingter Vorsatz - ist die "Billigungstheorie" korrekt?

Beitrag von Micha79 »

Der Raserfall und die Schwierigkeiten bieten vielleicht Anlass, über Vorsatztheorien nachzudenken.

Die Billigungstheorie leidet mE an methodischer Unehrlichkeit:

Zum einen ist "Billigung" ein schlechtes Wort, weil es nach allgemeinem Sprachgebrauch eben "gutheißen" bedeutet, im Sinne der Formel aber mit einem "sich abfinden, mag der Erfolg auch höchst unerwünscht sein" interpretiert wird. Dies ist rein terminologisch und insoweit unkritisch.

Darüber hinaus hält sie aber der prozessualen Realität wohl nicht stand:
In der Praxis wird der Vorsatz (sofern nicht gestanden) auf Grund objektiver Umstände nachgewiesen (vereinfacht gesprochen). So schrieb TF in seiner Kolumne zu Recht, dass man demjenigen nicht glaube, der aus nächster Nähe einem anderen in den Kopf schieße.

Aber selbst wenn jemand in einem solchen Fall an das "wird schon gut gehen" glaubt, würde er niemals gewinnen (man behauptet dann, man glaube ihm nicht; wer so etwas tue, wisse, dass es nicht gut gehen könne). De facto leitet man aber doch aus der objektiven Gefahr den Vorsatz ab: Ab einer gewissen Schwelle der Gefahr glauben wir dem Angeklagten nicht mehr. Dies ist wohl rechtspolitisch motiviert; man möchte den Leuten bei bestimmten gefährlichen Handlungen (zB Schuss in eine Menge mit Schrotflinte ohne Absicht/Wissentlichkeit) nicht diese Verteidigungslinie einräumen. Dann sollte man aber doch ehrlicherweise darüber nachdenken, ob man nicht auch materiellrechtlich das definiert, was man prozessual ohnehin tut, so wie zB Herzberg es vorgeschlagen hat (unabgeschirmtes Risiko).

Wer nun einwendet, dass das eine materiell und das andere prozessual sei, mag formal Recht haben. Wenn aber de facto stets die äußeren Umstände über die Bejahung des Vorsatzes entscheiden, sollte man sich doch fragen, ob die materielle Formel von der angeblichen Billigung nicht nur Feigenblattcharakter hat.

Der Raserfall bleibt damit immer noch ein Grenzfall; auch andere Grenzfälle werden nicht verschwinden. Aber dann wären die materiellen Kriterien vielleicht ehrlicher.
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thh
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Re: Bedingter Vorsatz - ist die "Billigungstheorie" korrekt?

Beitrag von thh »

Micha79 hat geschrieben:In der Praxis wird der Vorsatz (sofern nicht gestanden) auf Grund objektiver Umstände nachgewiesen (vereinfacht gesprochen).
Wie auch sonst?
Micha79 hat geschrieben:So schrieb TF in seiner Kolumne zu Recht, dass man demjenigen nicht glaube, der aus nächster Nähe einem anderen in den Kopf schieße.
Das dürfte allerdings eher ein Fall direkten Vorsatzes in der Form sicheren Wissens sein ...
Micha79 hat geschrieben:De facto leitet man aber doch aus der objektiven Gefahr den Vorsatz ab: Ab einer gewissen Schwelle der Gefahr glauben wir dem Angeklagten nicht mehr.
Nein, die hohe objektive Gefahr kann den Vorsatz indizieren; es muss jedoch immer noch eine subjektive Komponente hinzutreten. (Die ist allerdings regelmäßig schnell festgestellt ...)
Micha79 hat geschrieben:Dies ist wohl rechtspolitisch motiviert; man möchte den Leuten bei bestimmten gefährlichen Handlungen (zB Schuss in eine Menge mit Schrotflinte ohne Absicht/Wissentlichkeit) nicht diese Verteidigungslinie einräumen. Dann sollte man aber doch ehrlicherweise darüber nachdenken, ob man nicht auch materiellrechtlich das definiert, was man prozessual ohnehin tut, so wie zB Herzberg es vorgeschlagen hat (unabgeschirmtes Risiko).
Das ist weniger rechtspolitisch motiviert als eine grundsätzliche Frage der Feststellung innerer Tatsachen: was glaubt man dem Angeklagten und was nicht? Beim Vorsatz tritt es nur besonders deutlich zutage. Letztlich liegt die Sache aber bei der Zueignungsabsicht ("Ich wollte die goldene Rolex nicht stehlen, sondern nur ausleihen!") oder bei der - insbesondere konkludenten! - Täuschung ("Als ich das bestellt habe, dachte ich, ich könne es auch bezahlen!") nicht anders.

Fast niemand, der bei Sinnen ist, wird jemals einräumen, er habe einen - und sei es auch nur bedingten - Tötungsvorsatz gehabt. Das wäre angesichts der hohen Strafdrohungen für Tötungsdelikte ja nun auch wirklich eine schlechte Idee. Nun kann man das entweder grundsätzlich glauben, oder man kann sich bemühen, aus dem Handeln (und damit insbesondere der objektiven Gefährlichkeit) Rückschlüsse auf das Wissen und Wollen zu ziehen, letzteres insbesondere in Form eines Rückschluss auf die Motivlage. Diese Schlüsse sind dann letztlich notwendig in gewisser Weise "spekulativ".
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Re: Bedingter Vorsatz - ist die "Billigungstheorie" korrekt?

Beitrag von Micha79 »

thh hat geschrieben:
Micha79 hat geschrieben:So schrieb TF in seiner Kolumne zu Recht, dass man demjenigen nicht glaube, der aus nächster Nähe einem anderen in den Kopf schieße.
Das dürfte allerdings eher ein Fall direkten Vorsatzes in der Form sicheren Wissens sein ...
Nein, ich bilde den Fall hypothetisch so, dass der Schießende denkt: "Es wird schon gut gehen. Schließlich kann das Opfer Glück haben und eine nicht tödliche Kopfverletzung erleiden, so wie es manchmal eben tatsächlich läuft." Klar denkt kein vernünftiger Mensch so; aber ein völlig unvernünftiges Auf-das-Ausbleiben-Vertrauen kommt eben durchaus vor.
thh hat geschrieben:
Micha79 hat geschrieben:De facto leitet man aber doch aus der objektiven Gefahr den Vorsatz ab: Ab einer gewissen Schwelle der Gefahr glauben wir dem Angeklagten nicht mehr.
Nein, die hohe objektive Gefahr kann den Vorsatz indizieren; es muss jedoch immer noch eine subjektive Komponente hinzutreten. (Die ist allerdings regelmäßig schnell festgestellt ...)
In der Tat schnell festgestellt, wenn die objektiven Umstände stimmen. Ist dann der Verweis auf die subjektive Komponente nicht ein Lippenbekenntnis?
thh hat geschrieben:
Micha79 hat geschrieben:Dies ist wohl rechtspolitisch motiviert; man möchte den Leuten bei bestimmten gefährlichen Handlungen (zB Schuss in eine Menge mit Schrotflinte ohne Absicht/Wissentlichkeit) nicht diese Verteidigungslinie einräumen. Dann sollte man aber doch ehrlicherweise darüber nachdenken, ob man nicht auch materiellrechtlich das definiert, was man prozessual ohnehin tut, so wie zB Herzberg es vorgeschlagen hat (unabgeschirmtes Risiko).
Das ist weniger rechtspolitisch motiviert als eine grundsätzliche Frage der Feststellung innerer Tatsachen: was glaubt man dem Angeklagten und was nicht? Beim Vorsatz tritt es nur besonders deutlich zutage. Letztlich liegt die Sache aber bei der Zueignungsabsicht ("Ich wollte die goldene Rolex nicht stehlen, sondern nur ausleihen!") oder bei der - insbesondere konkludenten! - Täuschung ("Als ich das bestellt habe, dachte ich, ich könne es auch bezahlen!") nicht anders.

Fast niemand, der bei Sinnen ist, wird jemals einräumen, er habe einen - und sei es auch nur bedingten - Tötungsvorsatz gehabt. Das wäre angesichts der hohen Strafdrohungen für Tötungsdelikte ja nun auch wirklich eine schlechte Idee. Nun kann man das entweder grundsätzlich glauben, oder man kann sich bemühen, aus dem Handeln (und damit insbesondere der objektiven Gefährlichkeit) Rückschlüsse auf das Wissen und Wollen zu ziehen, letzteres insbesondere in Form eines Rückschluss auf die Motivlage. Diese Schlüsse sind dann letztlich notwendig in gewisser Weise "spekulativ".
Und da man beim bedingten Vorsatz eine Möglichkeit hat, die materielle Doktrin an die prozessuale Realität anzupassen, wäre es doch vielleicht richtig, dies zu tun?
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Re: Bedingter Vorsatz - ist die "Billigungstheorie" korrekt?

Beitrag von thh »

Micha79 hat geschrieben:
thh hat geschrieben:
Micha79 hat geschrieben:So schrieb TF in seiner Kolumne zu Recht, dass man demjenigen nicht glaube, der aus nächster Nähe einem anderen in den Kopf schieße.
Das dürfte allerdings eher ein Fall direkten Vorsatzes in der Form sicheren Wissens sein ...
Nein, ich bilde den Fall hypothetisch so, dass der Schießende denkt: "Es wird schon gut gehen. Schließlich kann das Opfer Glück haben und eine nicht tödliche Kopfverletzung erleiden, so wie es manchmal eben tatsächlich läuft." Klar denkt kein vernünftiger Mensch so; aber ein völlig unvernünftiges Auf-das-Ausbleiben-Vertrauen kommt eben durchaus vor.
Ja, und dann stellt sich eben nicht die Frage, ob die "Billigungstheorie" problematisch ist, sondern ob man solche Einlassungen glauben muss oder kann oder nicht.

Das ist eine generelle Schwierigkeit der Beweiswürdigung, der man sich ohnehin stellen muss - es sei denn, man geht grundsätzlich von der Richtigkeit der Einlassung des Angeklagten aus, wenn sie nicht gesichert widerlegt werden kann -, und der man sich daher auch für den bedingten Vorsatz stellen kann und sollte. Ich sehe daher keinen Änderungsbedarf. Der - auch bedingte - Vorsatz lässt sich ebenso sicher (oder unsicher) feststellen wie alle anderen subjektiven Absichten oder Vorstellungen oder auch der objektive Sachverhalt bei widerstreitenden Angaben dazu.
thh hat geschrieben:
Micha79 hat geschrieben:De facto leitet man aber doch aus der objektiven Gefahr den Vorsatz ab: Ab einer gewissen Schwelle der Gefahr glauben wir dem Angeklagten nicht mehr.
Nein, die hohe objektive Gefahr kann den Vorsatz indizieren; es muss jedoch immer noch eine subjektive Komponente hinzutreten. (Die ist allerdings regelmäßig schnell festgestellt ...)
In der Tat schnell festgestellt, wenn die objektiven Umstände stimmen. Ist dann der Verweis auf die subjektive Komponente nicht ein Lippenbekenntnis?[/quote]

Wenn sie zur Überzeugung des Gerichts feststeht: nein.
Micha79 hat geschrieben:Und da man beim bedingten Vorsatz eine Möglichkeit hat, die materielle Doktrin an die prozessuale Realität anzupassen, wäre es doch vielleicht richtig, dies zu tun?
Die Frage ist doch: an welche Realität? Dass (absolut) sichere Feststellungen zur inneren Tatseite nicht möglich sind? Dann könnte man auch zur Kenntnis nehmen, dass das in gleicher Weise für zumindest weite Teile des objektiven Tatbestandes gilt und sich vom Strafprozess weitgehend verabschieden.

Oder man geht weiter davon aus, dass auch die Vorstellungen zur inneren Tatseite so festgestellt werden können wie die übrigen Tatbestandsmerkmale auch. Dann aber bedarf es keiner "Anpassung der materiellen Doktrin".

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