Mildestes Mittel/Geiselnahme

Straf-, Strafprozeß- und Ordnungswidrigkeitenrecht sowie Kriminologie

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Deus Ex Machina
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Mildestes Mittel/Geiselnahme

Beitrag von Deus Ex Machina »

Hallo,

folgendes Problem:
Jemand hat eine Straftat begangen, die von einem anderen beobachtet wurde. Der Täter glaubt, der Augenzeuge werde wohl vor der Gerichtsverhandlung gegen ihn aussagen wollen - was zutrifft - und entführt deshalb dessen Tochter (15 Jahre), mit dem Hinweis, der Zeuge würde sie erst wiedersehen, wenn er vor der Gerichtsverhandlung in 2 Wochen zu seinen Gunsten ausgesagt hätte. Dieser schaltet nicht die Polizei ein, weil er meint, "die können eh nichts tun", und sagt für den Täter aus, der dann freigesprochen wird.

Eigentlich ein klassischer Fall des Nötigungsnotstandes, ich frag mich aber, ob es nicht für den Augenzeugen das mildere Mittel gewesen wäre, einfach die Polizei zu benachrichtigen. Grundsätzlich gilt ja der Vorrang der behördlichen Hilfe, die auch sicherlich erreichbar war und eingegriffen hätte, aber wer weiß, was dann passiert wäre. Allerdings bin ich skeptisch, ob man sich nur mit der potenziellen Gefährlichkeit einer Geiselbefreiung einfach so über den staatlichen Schutzvorrang hinwegsetzen kann. Denn die Polizei und ihre Leute sind ja schließlich für sowas zuständig...
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BuggerT
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Beitrag von BuggerT »

Sagt dir das Problem der "Notwehr gegen Chantage" was? Auch dort stellt sich die Frage, ob sich der Betroffene nicht staatlicher Hilfe bedienen muss. Entscheidende Gründe sprechen dagegen, insb. dass der Betroffene die kompromittierenden Tatsachen offenlegen müsste.

Ähnlich könnte man hier wohl argumentieren. Du schlägst diese Richtung ja selbst schon ein.

Nötigungsnotstand allein ist schon umstritten genug :wink2:. Je nach Ansicht kommst du auch gar nicht soweit in der Prüfung, was taktisch natürlich nicht so klug wäre :-$.


grtz
BuggerT
Deus Ex Machina
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Beitrag von Deus Ex Machina »

Da ich glaube, dass das Problem sich spätestens bei der Ranghöhe der Interessen erledigen würde - Freiheit der Tochter gegen die staatliche Rechtspflege - bedürfte es eigentlich nicht mal der Problematik des Nötigungsnotstandes, um die Interessenabwägung zu Ungunsten des Zeugen ausfallen zu lassen... :-k
Gelöschter Nutzer

Beitrag von Gelöschter Nutzer »

aber ist denn die entführumg ein gegenwärtige gefahr? wie würdet ihr das denn bejahen?

was versteht man darunter? "Notwehr gegen Chantage"
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BuggerT
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Beitrag von BuggerT »

@Deus Ex Machina
Die Besonderheit beim Nötigungsnotstand liegt ja darin, dass der Täter zum Handlanger des Nötigenden wird. Ob hier § 34 überhaupt anwendbar ist, ist schon umstritten.

Eine Meinung hält hier § 34 a priori für unanwendbar. Man kommt allenfalls über § 35 zur Entschuldigung, wenn dessen strengeren Voraussetzungen (Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit!) vorliegen.
Begründet wird das im Wesentlichen damit, dass der Täter hier selbst auf die Seite des Unrechts tritt. Außerdem könne eine Straftat niemals angemessenes Mittel iSd § 34 S.2 sein.

Eine andere Ansicht will eine sachliche Prüfung des § 34 vornehmen, allerdings ein zusätzliches Kriterium der "Wahrung der Rechtsordnung" mit berücksichtigen. Aus dieser Aufwertung des Eingriffsgutes folgert diese Ansicht, dass eine Rechtfertigung nur dann möglich ist, wenn bedeutungsvolle Erhaltungsgüter betroffen sind, namentlich die in § 35 genannten Leben, Leib oder Freiheit.

Dann wird noch vertreten, dass § 34 ohne die Besonderheiten des Nötigungsnotstandes zu beachten anzuwenden sei.
Arg: Wortlaut, Schutzbedürfnis des Genötigten.


Wie du siehst, kannst du da nicht so ohne weiteres darüberhinweg gehen. In der Prüfung muss du halt sehen, ob hier ein Schwerpunkt liegt (dann darfst du richtig ausholen) oder nicht.



@larzerrus1
"Notwehr gegen Chantage": darunter versteht man das Problem, inwiefern jemandem gegen einen Schweigegelderpresser ein Notwehrrecht zusteht. Das ganze ist irre umstritten; man kann da in der Prüfung fast alles vertreten.

Es gibt dazu eine recht aktuelle Dissertation von Frau Antje Kroß:

Kroß, Antje - Notwehr gegen Schweigegelderpressung, Berlin 2004. Siehe zB hier: KLICK



grtz
BuggerT
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Beitrag von Deus Ex Machina »

@ BuggerT

Den Meinungsstand kenn ich - so ungefähr - aber der Nötigungsnotstand wird doch in der Regel erst bei der Angemessenheit (bzw. frühestens bei der Interessenabwägung) relevant. Wenn die erste Meinung sagt, dass sie § 34 kategorisch ablehnt und nur § 35 in Betracht kommt, das andere Extrem den Nötigungsnotstand überhaupt nicht berücksichtigt und die vermittelnde Meinung - ich glaub u.a. Roxin - den § 34 nicht ablehnt, aber die Interessenabwägung verschärft, würde doch selbst die hier "moderateste" Ansicht, nämlich die Zweite, zumindest auch das wesentlich überwiegende Interesse voraussetzen, weil dieses ja schon vom Wortlaut her immer dazu gehört. Wenn man jenes aber von vornherein nicht für gegeben hält: Wie kommt man dann zur Angemessenheit und dem Nötigungsproblem - was wohl sehr wichtig ist?

Ehrlich gesagt fällt es mir nämlich schwer, einem so universellen Rechtsgut wie dem Interesse des Gerichtes an der Zuverlässigkeit einer Zeugenaussage einen "wesentlich geringeren" Status einzuräumen, als dem Individualrechtsgut "Freiheit" der Tochter. Gerade bei diesen abstrakten staatlichen Sachen bin ich immer sehr vorsichtig...

](*,)
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BuggerT
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Beitrag von BuggerT »

Deus Ex Machina hat geschrieben:Ehrlich gesagt fällt es mir nämlich schwer, einem so universellen Rechtsgut wie dem Interesse des Gerichtes an der Zuverlässigkeit einer Zeugenaussage einen "wesentlich geringeren" Status einzuräumen, als dem Individualrechtsgut "Freiheit" der Tochter.
Brauchst du ja nicht; stell den Meinungsstand dar und entscheide dich - soweit nötig - gegen eine Rechtfertigung nach § 34.

Dann kommst du zu § 35 und haust den armen Papa da aus der Patsche :D .


grtz
BuggerT
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Beitrag von Deus Ex Machina »

Ok, danke.

Allerdings wachsen meine Bedenken bezüglich des mildesten Mittels wieder. Wenn man hier sagt, es war für den Zeugen das mildeste und sicherste Mittel, einfach nur brav die Anweisungen vom Onkel Geiselnehmer zu befolgen und eine Straftat zu begehen, statt zumindest die Behörden mal zu informieren, welche Funktion hat dann eine Polizei noch? Führt das nicht deren Sinn ad absurdum?
Wenn man es einigermaßen lebensnah interpretiert - was natürlich mangels Angaben immer so ein Problem ist - kann man davon ausgehen, dass die Polizei Spezialisten hat, die eine solche Entführung in nullkommanix beenden, ohne dass die Geisel Schaden nimmt. Es gibt auch keinerlei Hinweise, dass der Geiselnehmer ein Profi ist, anders wäre es wohl, wenn die Mafia oder eine terroristische Organisation dahinterstecken würde. Also gute Argumente hab ich irgendwie keine, ich will nur nicht, dass der arme Vater voll strafbar ist...

Vorausgesetzt, die Polizei zu rufen wäre das mildere Mittel: Gäbe es eine Möglichkeit, für den Zeugen einen Irrtum anzunehmen, da er ja davon ausging, er könne mit der Alarmierung der Polizei seiner Tochter nicht helfen? Oder muss dazu die Irrtumslage eindeutig aus der Problemstellung zu erkennen sein? - denn es kann ja nicht bewiesen werden, ob die Polizei ihr hätte helfen können.
Deus Ex Machina
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Beitrag von Deus Ex Machina »

Hat der Zeuge sich nicht trotz Nötigungsnotstand wegen Nichtanzeige geplanter Straftaten strafbar gemacht? Denn die "Ausführung" der Geiselnahme endet erst mit Freilassung der Tochter und kann zum Tatzeitpunkt noch unterbunden werden...eben auch durch Anzeige bei der Polizei. Und diesbezüglich wurde er ja nicht genötigt, also nix mit "keine Polizei!" oder sowas, das war ja sein ureigener Entschluss, die nicht zu rufen.

Oder greift gar der Ausschlussgrund des § 139 IV, wonach straffrei bleibt, wer die Gefahr "auf andere Weise" (eben durch Falschaussage) als durch Anzeige abwendet? Was allerdings irgendwie absurd wäre...
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