Die Angst des Anwalts vor dem örtlichen Gericht

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Syd26
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Die Angst des Anwalts vor dem örtlichen Gericht

Beitrag von Syd26 »

Bis vor wenigen Wochen war ich mehrere Jahre in einer bayerischen Großstadt als Anwältin tätig. AG, LG und OLG vorhanden nebst ArbG und LAG etc. Dass man kurz hintereinander 2 mal auf den selben Richter traf, war eher unwahrscheinlich.

Demnach kannte ich eigentlich keine/n Kollegen/in, der/die Skrupel davor hatte, auch aussichtslose Anträge einzureichen. Ggf. mit dem Risiko, sich zu blamieren, aber aufgrund der Größe des Gerichts lief das eher unter "was soll's, am nächsten Tag kommt einer, der "Schlimmeres" macht". :D

Nun bin ich in der Provinz gelandet. Stadt mit LG und AG sowie ArbG. Die Kollegen hier sind wirklich sehr zurückhaltend mit dem, was sie tun. Ich verstehe natürlich, dass man sich hier seinen guten Ruf nicht ruinieren will und man bei einem kleineren Gericht eher darauf achtet, was man wie tut.

Aber woher kommt diese Angst? Was wäre denn so tragisch, wenn man tatsächlich mal "untergeht"? Das Haftungsrisiko liegt allein beim Anwalt und letztendlich ist es dessen Sache und die des Mandanten. Ich gehe davon aus, dass den meisten Richtern bewusst ist, warum der Rechtsanwalt so handelt (nämlich, weil es der Mandant so wünscht und dieser beratungsresistent ist).

Man scheut sich sogar, Klagen zu erheben, weil es zur relevanten Rechtsfrage (noch) keine Rechtsprechung gibt.

Mir fehlt da etwas das Verständnis. Klärt mich bitte auf. Vielleicht bin ich großstadtgeschädigt. ;)
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joee78
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Re: Die Angst des Anwalts vor dem örtlichen Gericht

Beitrag von joee78 »

Seh ich genauso. Das Ziel des Anwalts ist es Geld zu verdienen. Dies geschieht folgendermaßen:

- Mandant kommt zum Anwalt
- Anwalt berät ihn und rät anschließend zur Klage oder davon ab
- Die Hälfte der Mandanten sind rational und folgen dem Rat des Anwalts. Die andere Hälfte sagt: "Ich klage auf jeden Fall".

Ich könnte also jetzt auf 50 % meiner Einnahmen verzichten. Meine Entscheidung dürfe klar sein.

Jetzt zu deiner Frage: Ja, den Richtern ist das oben beschriebene Muster klar. :alright
Sind Sie ein Mensch? Sowas Ähnliches, ich bin Anwalt.

Blade II
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Mr_Black
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Re: Die Angst des Anwalts vor dem örtlichen Gericht

Beitrag von Mr_Black »

Solange Du nicht reihenweise Dienstaufsichtsbeschwerden und Befangenheitsanträge einreichst, dürfte es den Richtern herzlich egal sein.

Legen Deine Kollegen auch keine Berufungen ein, weil der örtliche Dorfrichter dann beleidigt sein könnte?
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Re: AW: Die Angst des Anwalts vor dem örtlichen Gericht

Beitrag von Thandor79 »

Mr_Black hat geschrieben: Legen Deine Kollegen auch keine Berufungen ein, weil der örtliche Dorfrichter dann beleidigt sein könnte?
das würde ich für früherer Zeiten nicht mal ausschliessen :D
Syd26
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Re: Die Angst des Anwalts vor dem örtlichen Gericht

Beitrag von Syd26 »

Mr_Black hat geschrieben:Solange Du nicht reihenweise Dienstaufsichtsbeschwerden und Befangenheitsanträge einreichst, dürfte es den Richtern herzlich egal sein.

Legen Deine Kollegen auch keine Berufungen ein, weil der örtliche Dorfrichter dann beleidigt sein könnte?
Man könnte das fast so verstehen. ;)
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Re: Die Angst des Anwalts vor dem örtlichen Gericht

Beitrag von j_laurentius »

Woher nimmst Du denn die Erkenntnis, daß die Kollegen "Angst" vor dem Gericht haben? Die Stadt, in der ich arbeite, ist nach Deiner Definition auch "Provinz" (ebenfalls "nur" AG, LG und ArbG vorhanden, alles andere findet sich in der nächsten Großstadt, sehr provinziell komme ich mir aber trotzdem nicht vor), aber hier vor Ort kenne ich keinen Anwalt, der von irgendwelchen Anträgen Abstand nehmen würde, weil er es sich mit dem Gericht nicht verderben will. Daß von vornherein aussichtslose Anträge hier gestellt würden, nur weil der Mandant das so will (ohne daß es sonst triftige Gründe gäbe), erlebe ich allerdings eigentlich auch nicht. Aber nicht aus "Angst" vor dem Gericht, sondern weil die Anwälte sich nicht für alles und jeden hergeben wollen, würde ich sagen.
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Re: Die Angst des Anwalts vor dem örtlichen Gericht

Beitrag von paul321 »

Mir ging es mal so ähnlich wie Syd jetzt - wobei ich AG/LG&ArbG Standort jetzt nicht als Provinz bezeichnen würde - und ich habe auch den Eindruck und teilweise die Bestätigung von Kollegen, dass sie sich "woanders anders aufführen als an ihrem Heimatgericht".

Auch würde ich behaupten wollen, dass viele "Provinzanwälte" eher dazu tendieren den Richtern des örtlichen Dorfgerichtes, sagen wir mal, sehr höflich und konziliant gegenüberzutreten und auch oft versuchen ins persönliche Gespräch zu kommen.

Das ist in größeren Städten eher nicht der Fall.

In Sachen Berufung vor dem örtlichen Landgericht würde ich behaupten wollen, dass die Tendenz zum "Halten" der gefällten Entscheidungen unverkennbar ist. Man kennt sich schließlich ja. Wenn ich in vertretbarer Weise Einfluss nehmen konnte, bin ich deshalb seinerzeit immer ans LG damit die Berufungsinstanz nicht vor Ort ist.
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Re: Die Angst des Anwalts vor dem örtlichen Gericht

Beitrag von Pillendreher »

Könnte diese Zurückhaltung vielleicht auch davon kommen, dass sich Richter und Anwalt u.U. persönlich kennen? Bei meinen Praktika hier (und das ist nun wirklich Provinz; das nächst ArgG dürfte in München und damit 1,5h entfernt sein) bekam ich es öfter mit, dass sich Richter und Anwalt kannten und auch eher "freundschaftlich" miteinander umgingen.
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paul321
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Re: Die Angst des Anwalts vor dem örtlichen Gericht

Beitrag von paul321 »

Klar kann das sein, dort gab es auch einen Golfclub und zwei Ortsvereine von Parteien...

Ich wollte jetzt nicht schreiben, dass der ein oder andere Anwalt auf seiner Schleimspur ausrutscht.
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j_laurentius
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Re: Die Angst des Anwalts vor dem örtlichen Gericht

Beitrag von j_laurentius »

Ich will ja nicht ausschließen, daß der höhere Bekanntheitsgrad unter Anwälten und Richtern die Anwälte zu mehr Vorsicht anhält. Den Begriff "Angst" finde ich da trotzdem nicht passend, jedenfalls nicht für mein Revier. Die Anwälte hier, die so alteingesessen sind, daß sie tatsächlich einen recht vertrauten Umgang mit diversen Richtern der hiesigen Gerichte pflegen, sind allesamt genauso gestandene Juristen wie die Richter auch und da hat keiner vor dem anderen Angst. Daß man sich einen gewissen soliden Ruf, den man sich erarbeitet hat, nicht verderben will, dürfte da schon eher zutreffen.

Aber gut, bei mir ist "hier" ja Bonn, von der Einwohnerzahl her eine Großstadt mit recht hoher Anwaltsdichte, in den ländlichen Regionen Bayerns z.B. mag das Verhältnis Anwalt-Richter wie von Syd geschildert eher zutreffen.
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Re: Die Angst des Anwalts vor dem örtlichen Gericht

Beitrag von julée »

Wobei ich während der Zivilstation (Großstadt ;)) schon den Eindruck hatte, der ein oder andere Anwalt würde sich vielleicht doch etwas anderes benehmen, wenn er weitere 3 Verfahren bei der gleichen Abteilung anhängig hätte und nicht darauf spekulieren könnte, dass die Abteilung bei der nächsten "Begegnung" schon wieder anders besetzt ist oder zumindest die Erinnerung an den letzten Auftritt verblasst ist.

Wenn man hingegen damit rechnen muss, dem Richter zeitnah wieder zu begegnen, macht ein Bemühen um einen freundlichen, seriösen Auftritt ja doch sehr viel Sinn.
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Re: Die Angst des Anwalts vor dem örtlichen Gericht

Beitrag von Stalker »

Ich sehe das ähnlich wie Mr. Black - solange es nicht deutlich Mehrarbeit produziert, interessiert das niemanden.

Zur Gesichtswahrung - bei uns (ebenfalls eher Provinz) ist es unter Anwälten nicht unüblich, unsinnige, aber auf Mandanten-Wunsch verfasste Schriftsätze mit "Mein Mandant ist der Ansicht" o.ä. zu beginnen, aber selbst, wenn das nicht der Fall ist, ist einem in der Regel schon klar, dass der Anwalt nicht hinter etwaigem Blödsinn steht.
Syd26
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Re: Die Angst des Anwalts vor dem örtlichen Gericht

Beitrag von Syd26 »

julée hat geschrieben:Wobei ich während der Zivilstation (Großstadt ;)) schon den Eindruck hatte, der ein oder andere Anwalt würde sich vielleicht doch etwas anderes benehmen, wenn er weitere 3 Verfahren bei der gleichen Abteilung anhängig hätte und nicht darauf spekulieren könnte, dass die Abteilung bei der nächsten "Begegnung" schon wieder anders besetzt ist oder zumindest die Erinnerung an den letzten Auftritt verblasst ist.

Wenn man hingegen damit rechnen muss, dem Richter zeitnah wieder zu begegnen, macht ein Bemühen um einen freundlichen, seriösen Auftritt ja doch sehr viel Sinn.
Ich glaube, genau darum geht es. Angst ist vielleicht zu viel gesagt, nennen wir es mal Vorsicht.
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julée
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Re: Die Angst des Anwalts vor dem örtlichen Gericht

Beitrag von julée »

Wobei ich es nicht für verkehrt halte, sich grds. so zu benehmen, dass man dem Gegenüber (sei es das Gericht, sei es der gegnerische Anwalt) nochmal begegnen kann und dabei immer noch ernst genommen wird.

Und in kleineren Strukturen dürfte sehr schnell klar werden, welcher Anwalt immer komische Ansichten vertritt - so dass der Vertrauensvorschuss "das wollte der Mandant so" verhältnismäßig schnell verspielt sein dürfte. Ebenso dürften seltsame Auftritte (die eher nichts mit dem Mandanten zu tun haben) schneller als "der Anwalt ist wirklich so" entlarvt werden (und sei es beim gemeinsamen Mittagessen der Amtsrichter).
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Herr Schraeg
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Re: Die Angst des Anwalts vor dem örtlichen Gericht

Beitrag von Herr Schraeg »

Den Verzicht auf aussichtslose Klagen ohne triftigen Grund finde ich ebenso löblich wie j_laurentius und julée. Dass das in Provinz, wo sich Anwalt und Richter immer wieder sehen, häufiger praktiziert wird als in der anonymen Metropole, mag auch daran liegen, dass in der Provinz Mandate häufiger durch die Empfehlung des Anwalts durch einen Richter als in der grossen Stadt generiert werden. Wenn ein Teil meines Einkommens davon abhängt, dass der Richter mich als guten Anwalt erachtet und mich empfiehlt, setze ich auch mehr Aufwand ein, dieses Empfehlungspotential zu erhalten und aussichtslose Klagen nicht zu erheben.
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