Die elektronische Akte

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non-liquet
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Re: Die elektronische Akte

Beitrag von non-liquet »

Syd26 hat geschrieben:
Atropos hat geschrieben:Und vielleicht braucht man für so Riesenprozesse auch in anderen Rechtsgebieten ein anderes Verfahrensrecht:
- NSU Prozess in München läuft seit Mai 2013
- Heute kam OLG Beschluss raus, dass Loveparade Unglück von 2010 (2014 angeklagt) doch noch vors LG muss
- HSH Nordbank Prozess zu Finanzgeschäften aus dem Jahr 2007/2008 wurde Mitte 2014 nach 61 Hauptverhandlungstagen freigesprochen - Ende 2016 kassiert der BGH den Freispruch und verweist ans LG Hamburg zurück. Soweit ich weiß läuft noch kein neues Verfahren am LG.

Klar sind das alles besonders große / komplexe Fälle, aber ist das für Angeklagte und Opfer wirklich noch zumutbar?
Das sind sicherlich gute Beispiele, um die Forderung nach Sonderzuständigkeiten zu begründen.
Diese Sonderzuständigkeiten gibt es längst (Terrorismus -> OLG; Wirtschaft -> Spezialstrafkammern für den OLG-Bezirk usw.).

Auch die Forderung nach einem anderen Verfahrensrecht erhebt sich natürlich schnell. Und es ist schon so, dass etwa Kollegen aus der Schweiz ungläubig den Kopf schütteln, wenn man ihnen schildert, was im real existierenden deutschen Strafprozess so alles möglich ist. Aber es hat keinen Sinn, die Klagen darüber bei der Justiz abzuladen.

Anlässlich des gerade beratenen StPO-Reförmchens hat sich ja gezeigt, dass Änderungen, die über leichte Akzentverschiebungen hinaus reichen, politisch nicht durchsetzbar sind. Sogar diese ausgesprochen maßvollen Vorschläge haben ja teilweise Reaktionen ausgelöst, als stünde die Wiederrichtung des Volksgerichtshofes bevor.

Richtig ist allerdings auch: Wenn man ein Prozedieren wie in anderen Rechtsordnungen haben will, muss man eben auch die Weiterungen in Kauf nehmen, die das dann haben würde. TANSTAAFL.
Herr Schraeg hat geschrieben:Von meiner Profession her müsste ich eigentlich für eine Priorisierung von Rechtsstreiten mit hohem Streitwert sein. Ich fürchte aber, dass das Vertrauen in den Rechtsstaat bei "schnelles Recht nur für Reiche" massiv Schaden nehmen würde, zumal es auf der Hand liegt, dass für den Fliesenleger 10.000 Euro eine weitaus höhere Bedeutung haben können als 10 Mio. Euro für Siemens. Eine solche Erosion, nicht unbedingt des Rechtsstaats, aber des Vertrauens der Bevölkerung in den Rechtsstaat, ist mir die bevorzugte Behandlung der "gewichtigen" Rechtsstreitigkeiten nicht wert.
+1
Tibor hat geschrieben:Wie wäre es, wenn man die 5.000€ Grenze für Abgrenzung AG/LG einfach mal auf 8-10.000 € anpasst?
Ich würde sagen: Die Amtsgerichte werden sich bedanken. :-w
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Tibor
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Re: Die elektronische Akte

Beitrag von Tibor »

Natürlich, aber wenn am LG die Masse der Verfahren am Ende doch ein ERi macht, dann kann das doch gleich nach AG Regeln gemacht werden. § 495a könnte man dann ja auch gleich anpassen. Für den Bürger ist das AG auch "eher" erreichbar, weil der Weg zum Anwalt erspart bleibt. Freilich müsste man dann zukünftig auch mal an den Amtsgerichten personell nachlegen.

PS Mir ging es ja eher um die Freihaltung von Kapazitäten am LG.
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Re: Die elektronische Akte

Beitrag von julée »

Eine Verschiebung der Wertgrenze deutlich Richtung 10.000 € dürfte mehr Probleme verursachen, als sie löst, z. B. bei den Spezialzuständigkeiten. Die Arzthaftungssache, in der ein Schmerzensgeld von 5.001-10.000 € begehrt wird, dürfte am Landgericht deutlich besser aufgehoben sein, als am Amtsgericht zwischen zwei Mietsachen an einem Verhandlungstag mit 8 Sachen. Insbesondere ist der Einzelrichter zwar am Landgericht oftmals die Regel, allerdings besteht ja immer die Möglichkeit Verfahren auch als Kammer zu verhandeln. Hier verkürzte man letztlich im mittleren Streitwertbereich die Rechtsschutzqualität (Spezialkammern; weniger Verhandlungen pro Sitzungstag), ohne dass dem innerhalb der Justiz ein echter Effizienzvorteil gegenüberstünde. Sinnvoller dürfte es demgegenüber sein, die Landgerichte personell aufzustocken und darüber nachzudenken, nach welchen objektiven Kriterien ein ausreichender Belastungsausgleich für arbeitsintensive Verfahren geschaffen werden kann bzw. nach welchen objektiven Kriterien solche Verfahren möglicherweise in Spezialkammern konzentriert werden können.
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Re: Die elektronische Akte

Beitrag von Tibor »

Natürlich ist das sinnvoller, aber die inflationsmäßige Anpassung von 23 GVG wäre leicht vermittelbar und entspricht mE auch dem Interesse der Allgemeinheit bei Rechtsfragen von durchschnittlich 3-6 Monatsnettogehältern eine schnelle einfache Entscheidung ohne Anwalt zu erlangen.
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Re: Die elektronische Akte

Beitrag von julée »

Eine schnellere Entscheidung erreichte man ja bereits bei einer besseren personellen Ausstattung der Landgerichte. Und wenn es um eine schnelle Entscheidung ohne Anwalt geht, könnte man natürlich auch erwägen, partiell den Anwaltszwang vor dem LG aufzuheben (z. B. bis zu einem Streitwert von 10.000,00 €).
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Re: Die elektronische Akte

Beitrag von [enigma] »

Sind die Verfahren ohne Anwälte denn wirklich so viel schneller? Das Gericht kann doch in der Regel schneller entscheiden, wenn beide Seiten den Prozessstoff juristisch brauchbar vortragen.
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Re: Die elektronische Akte

Beitrag von Tibor »

julée hat geschrieben:Eine schnellere Entscheidung erreichte man ja bereits bei einer besseren personellen Ausstattung der Landgerichte. Und wenn es um eine schnelle Entscheidung ohne Anwalt geht, könnte man natürlich auch erwägen, partiell den Anwaltszwang vor dem LG aufzuheben (z. B. bis zu einem Streitwert von 10.000,00 €).
Das GVG ist vom Bund schneller geändert, als das alle Länder endlich mal adäquat ihr Personal aufstocken. Dies ist doch das eigentliche Problem.
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Re: Die elektronische Akte

Beitrag von Samson »

Das Dumme ist, dass es so viele Sachen gibt, wo die Länder endlich mal aufstocken könnten. Marode Schulen, Straßen (ist Ländersache, oder?); Polizei, Freibier....

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Re: Die elektronische Akte

Beitrag von julée »

[enigma] hat geschrieben:Sind die Verfahren ohne Anwälte denn wirklich so viel schneller? Das Gericht kann doch in der Regel schneller entscheiden, wenn beide Seiten den Prozessstoff juristisch brauchbar vortragen.
Nicht unbedingt schneller, aber günstiger.
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Re: Die elektronische Akte

Beitrag von Samson »

julée hat geschrieben:
[enigma] hat geschrieben:Sind die Verfahren ohne Anwälte denn wirklich so viel schneller? Das Gericht kann doch in der Regel schneller entscheiden, wenn beide Seiten den Prozessstoff juristisch brauchbar vortragen.
Nicht unbedingt schneller, aber günstiger.
Haltet ihr den Anwaltszwang außerhalb des Strafverfahrens überhaupt für so sinnig? Sollte nicht jeder autonom entscheiden, ob er anwaltliche Hilfe in Anspruch nimmt, wenn er sich gegen eine Klage verteidigen möchte? (Ich halte auch wenig vom anwaltlichen Rechtsberatungsmonopol, das geht ineinander über).
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Re: Die elektronische Akte

Beitrag von Tibor »

Samson hat geschrieben:Das Dumme ist, dass es so viele Sachen gibt, wo die Länder endlich mal aufstocken könnten. Marode Schulen, Straßen (ist Ländersache, oder?); Polizei, Freibier....

Man kann jeden Euro nur einmal ausgeben.
Klar, deswegen sollte man eben überlegen, wie man die verteilbaren Ressourcen (Hallo richterliche Unabhängigkeit und Lebenszeiternennung) eben so verteilt ohne Personal aufzustocken oder Proberichterverschickung zu spielen. Ich bin kein Zivilrechtler, aber die Daumenschraube an Wertgrenze für vereinfachtes AG Verfahren, Berufung und Revision könnten entlastend wirken, oder? Es dürfte ebenso entlastend wirken, wenn man ggf das AG Verfahren schlanker hält, als bspw ein ERi-LG Verfahren und erst recht als Kammersachen. Aber wie gesagt, das müssten eigentlich die Praktiker wissen. Sie müssten nur mal mehr verlangen als neue Stellen ;-)
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Re: Die elektronische Akte

Beitrag von julée »

Tibor hat geschrieben:Es dürfte ebenso entlastend wirken, wenn man ggf das AG Verfahren schlanker hält, als bspw ein ERi-LG Verfahren und erst recht als Kammersachen. Aber wie gesagt, das müssten eigentlich die Praktiker wissen. Sie müssten nur mal mehr verlangen als neue Stellen ;-)
Das Problem ist schlichtweg: Man kann die Parteien nur begrenzt dazu zwingen, das Verfahren schlank zu halten, d. h. wenn die Parteien z. B. über Stundenlohnarbeiten i. H. v. 4.000,00-6.000,00 € einen ganzen Tag lang Zeugen anhören möchten, dann dürfte es schwierig werden, sich nicht einen ganzen Tag lang die Zeugen anzuhören. An dem Tag hätte man am LG aber 4 andere Zivilsachen verhandeln und möglicherweise sogar erledigen können.
Samson hat geschrieben:
julée hat geschrieben:
[enigma] hat geschrieben:Sind die Verfahren ohne Anwälte denn wirklich so viel schneller? Das Gericht kann doch in der Regel schneller entscheiden, wenn beide Seiten den Prozessstoff juristisch brauchbar vortragen.
Nicht unbedingt schneller, aber günstiger.
Haltet ihr den Anwaltszwang außerhalb des Strafverfahrens überhaupt für so sinnig? Sollte nicht jeder autonom entscheiden, ob er anwaltliche Hilfe in Anspruch nimmt, wenn er sich gegen eine Klage verteidigen möchte? (Ich halte auch wenig vom anwaltlichen Rechtsberatungsmonopol, das geht ineinander über).
Bei manchem Schriftsatz mögen einem ja durchaus leise Zweifel kommen, ob die Partei nicht ohne Anwalt besser dran wäre. Aber im Übrigen halte ich es doch für sinnvoll, die Parteien ein Stück weit vor sich selbst zu schützen, und zugleich dafür Sorge zu tragen, dass auch von Seiten der Parteien ein halbwegs geordneter Prozess stattfindet.
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Re: Die elektronische Akte

Beitrag von Tibor »

Eine Laie dürfte doch idR daran scheitern einen vernünftigen Beweisantrag für den Zeugenbeweis zu formulieren, der weder Ausforschung noch unerheblich ist. Ich wäre da nicht so pessimistisch.
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Re: Die elektronische Akte

Beitrag von Tibor »

Samson hat geschrieben: Haltet ihr den Anwaltszwang außerhalb des Strafverfahrens überhaupt für so sinnig? Sollte nicht jeder autonom entscheiden, ob er anwaltliche Hilfe in Anspruch nimmt, wenn er sich gegen eine Klage verteidigen möchte?
Es geht auch ohne Anwalt, genau aus dem ökonomischen Grund: Wem der Prozess "recht und teuer" ist, der wird sich um Hilfe bemühen. Man könnte bei anderen " existenzgefährdenden" Prozessen an punktuelle Anwaltspflicht denken (bspw Streit um Hausbankdarlehen für das Eigenheim, Verkehrsunfälle mit viel Schäden etc). Das ganze könnte man ggf durch eine richterliche Hinweispflicht flankieren, einen Anwalt zu nehmen. Früher gab es in manchen Prozessordnungen wohl auch Ablehnung von Anwälten bei erwiesener Unfähigkeit, warum also nicht?
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Re: Die elektronische Akte

Beitrag von [enigma] »

Tibor hat geschrieben:
Samson hat geschrieben: Haltet ihr den Anwaltszwang außerhalb des Strafverfahrens überhaupt für so sinnig? Sollte nicht jeder autonom entscheiden, ob er anwaltliche Hilfe in Anspruch nimmt, wenn er sich gegen eine Klage verteidigen möchte?
Es geht auch ohne Anwalt, genau aus dem ökonomischen Grund: Wem der Prozess "recht und teuer" ist, der wird sich um Hilfe bemühen. Man könnte bei anderen " existenzgefährdenden" Prozessen an punktuelle Anwaltspflicht denken (bspw Streit um Hausbankdarlehen für das Eigenheim, Verkehrsunfälle mit viel Schäden etc). Das ganze könnte man ggf durch eine richterliche Hinweispflicht flankieren, einen Anwalt zu nehmen. Früher gab es in manchen Prozessordnungen wohl auch Ablehnung von Anwälten bei erwiesener Unfähigkeit, warum also nicht?
Ein Laie, insbesondere ein Verbraucher, der aus seiner Sicht völlig zu Unrecht verklagt wird, wird aber schon eher aus nachvollziehbaren Gründen auf einen Anwalt verzichten, wenn er es darf. Und hat dann deutlich schlechtere Karten gegenüber dem anwaltlich vertretenen Kläger. Und zwar selbst dann, wenn er tatsächlich im Recht ist. Die Bereitschaft, auf den Anwalt zu verzichten, dürfte so groß sein wie das Vertrauen in den Rechtsstaat. Jetzt könnte man natürlich sagen selbst Schuld. Aber gerade bei beklagten Privatpersonen kann ich durchaus nachvollziehen, warum man es in manchen Situationen nicht für nötig hält, zum Anwalt zu gehen.
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