Inklusion - postfaktische Welt?

"Off-Topic"-Forum. Die Themen können von den Usern frei bestimmt werden.
Es gelten auch hier die Foren-Regeln!

Moderator: Verwaltung

Antworten
Benutzeravatar
Tibor
Fossil
Fossil
Beiträge: 16446
Registriert: Mittwoch 9. Januar 2013, 23:09
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Tibor »

j_laurentius hat geschrieben:Ich finde den Ansatz, Kinder in den Schulen möglichst nicht voneinander zu separieren (das gilt übrigens nicht nur hinsichtlich Behinderung/Nichtbehinderung, sondern z.B. auch hinsichtlich des generellen Leistungsvermögens oder der Herkunft), richtig. ...
Ich nehme an, dass du ab der 5./7. Klasse durchgängig ein grundständiges Gymnasium besucht hast, oder?

Hinsichtlich des o.g. Punktes bin ich bspw. ganz anderer Meinung. Wenn man so will, bin ich nämlich fast Opfer dieser "Leistungsgleichmacherei" in den 90er Jahren in einem Sozi-Land geworden. Das Gymnasium wurde ausgehungert (nur 2 zügig bis Klasse 10) und die meisten Kinder mussten zur Gesamtschule. Dort landete ich auch. Als Kind ist es mir natürlich nicht negativ aufgefallen, das ich immer zu den Besten der Klasse gehörte, weil alle anderen "weniger schlau" waren. Das dicke Ende kam dann beim Übergang auf das Gymnasium, denn ich konnte überhaupt nicht mit denjenigen Schülern mithalten, die eben 4 Jahre auf dem Gymnasium waren (unter sich) und nicht mit Haupt- und Förderschülern in eine Klasse gesteckt wurden. Die 11. Klasse war das härteste Schuljahr, dass ich je erlebt hatte und ich spielte mit dem Gedanken aufzugeben. Ich musste also mit 16 Jahren ausbaden, was schulpolitisch vorher fehlgelenkt wurde. Und auch jetzt sehe ich die selben Probleme bei meinen Kindern. In der Kita wird in altersheterogenen Gruppen betreut, von einer frühkindlichen Erziehung oder "Bildung" kann aber keine Rede sein, wenn mein Kind ausversehen das zweitälteste in der Gruppe ist. Nein, die Erzieher sind überfordert und weisen den "großen Kindern" noch "kleine Kinder" als "Paten" zu. Mein Kind sollte möglichst also den kleinen Kindern beim anziehen, essen klein schneiden etc helfen. Das ist "Inklusion" auf Kosten der Kinder, nicht auf Kosten der Gesellschaft. In der Grundschule stellen sich die gleichen Probleme, wenn hier von 25 Schülern 15 mit Migrationshintergrund sind und davon 5 Kinder auch in Klasse 3 kaum der deutschen Sprache mächtig sind. Der Förderungseffekt (Bildung = Weiterung der bestehenden geistigen Fähigkeiten) bleibt bei den besseren Kindern hinter den Möglichkeiten zurück. Inklusion wird durch mangelnde Kapazitäten zur Farce, denn nicht die geistig oder körperlich behinderten Kinder werden inkludiert, vielmehr werden die anderen Kinder in ihrer möglichen Entwicklung ausgebremst.
"Just blame it on the guy who doesn't speak English. Ahh, Tibor, how many times you've saved my butt."
Benutzeravatar
Tibor
Fossil
Fossil
Beiträge: 16446
Registriert: Mittwoch 9. Januar 2013, 23:09
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Tibor »

Und apropos Bildungsinklusion, war nicht Levi derjenige, der seine Kinder auf die Privatschule schickt? Werden dort auch entsprechend viele behinderte Kinder aufgenommen und in Inklusionsklassen beschult?
"Just blame it on the guy who doesn't speak English. Ahh, Tibor, how many times you've saved my butt."
Benutzeravatar
Vortex
Super Power User
Super Power User
Beiträge: 905
Registriert: Dienstag 13. Dezember 2011, 20:21
Ausbildungslevel: Au-was?

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Vortex »

j_laurentius hat geschrieben:Ich finde den Ansatz, Kinder in den Schulen möglichst nicht voneinander zu separieren (das gilt übrigens nicht nur hinsichtlich Behinderung/Nichtbehinderung, sondern z.B. auch hinsichtlich des generellen Leistungsvermögens oder der Herkunft), richtig.
Also Hauptschüler und Gymnasiasten in dieselbe Klasse? Und wie sieht es nach der Schule aus: Sollte man diese Politik dann konsequent fortsetzen oder wirft man die Leute danach einfach ins kalte Wasser der Leistungsgesellschaft, so als ob nichts gewesen wäre?
Benutzeravatar
Levi
Super Power User
Super Power User
Beiträge: 1584
Registriert: Dienstag 2. März 2010, 19:55
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Levi »

@Tibor
Müssen wir uns jetzt wirklich auf das Niveau eines argumentum ad personam begeben?

Im Übrigen hat meine Schulentscheidung nichts mit Inklusion zu tun, sondern mit dem Schulsystem Berlins im Allgemeinen. In München oder Stuttgart würden meine Kinder zweifellos ein staatliches Gymnasium besuchen.
Zuletzt geändert von Levi am Mittwoch 31. Mai 2017, 09:24, insgesamt 1-mal geändert.
Honigkuchenpferd
Super Mega Power User
Super Mega Power User
Beiträge: 4770
Registriert: Freitag 9. August 2013, 12:32
Ausbildungslevel: Au-was?

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Honigkuchenpferd »

Tibor hat geschrieben:Und apropos Bildungsinklusion, war nicht Levi derjenige, der seine Kinder auf die Privatschule schickt? Werden dort auch entsprechend viele behinderte Kinder aufgenommen und in Inklusionsklassen beschult?
Eine gute Frage. Realiter darf man wohl davon ausgehen, dass gerade die Privatschulen, die Schulgeld verlangen, wenig erpicht sein werden, geistig behinderte Kinder aufzunehmen, was sie aber so natürlich nie sagen würden. Denn die zahlende Kundschaft könnte sich beschweren.

Ganz allgemein kann man sagen, dass das, was weite Teile der Politik als "Inklusion" verkaufen, realiter vor allem darauf hinausläuft, zulasten behinderter wie nicht-behinderter Kinder Einsparungen vorzunehmen. Plötzlich werden Menschen, die einen besonderen Förderbedarf haben, der in speziellen Schulen oftmals besser befriedigt werden kann, in gewöhnliche Klassen gesteckt, und man erwartet von regulären Lehrern, die sich damit kaum oder auch überhaupt nicht auskennen, mit regelmäßig minimaler Unterstützung, auch ihnen gerecht zu werden. Tatsächlich verursachen die speziellen Förderschulen nämlich ganz erhebliche Kosten.

Insofern ist es eine Ironie, dass diejenigen, die die Inklusion geradezu für sakrosankt erklären, in ihrer konkreten Gestalt gerade eine Maßnahme verteidigen, die Art. 3 III 2 GG eher zuwiderläuft und in Wahrheit vor allem auf Kostenvermeidung abzielt.
"Honey, I forgot to duck."
Benutzeravatar
Tibor
Fossil
Fossil
Beiträge: 16446
Registriert: Mittwoch 9. Januar 2013, 23:09
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Tibor »

Levi hat geschrieben:Müssen wir uns jetzt wirklich auf das Niveau eines argumentum ad personam begeben?
Im Übrigen hat meine Schulentscheidung nichts mit Inklusion zu tun, sondern mit dem Schulsystem Berlins im Allgemeinen. In München oder Stuttgart würden meine Kinder zweifellos ein staatliches Gymnasium besuchen.
Ach komm, es hat so schön gepasst, weil J-Laurentius hier ins Einheitsschulhorn geblasen hat und du dich zugleich für Totalinklusion ausgesprochen hast. Das beißt sich und ich sehe es wie Honigkuchenpferd. Inklusion geht idR an Gymnasien und auch an Privatschulen vorbei. Ich nehm dir die persönliche Entscheidung ja auch nicht Übel, denn ich werde auch versuchen meine Kinder ab der 5. Klasse in ein Gymnasium zu bringen. Das ist eben die natürliche Elternreaktion, wenn Inklusion eben nicht funktioniert. Die Gesellschaft ist eben auf Leistung ausgerichtet. Altersheterogene Kitas, Gemeinschaftsschulen, Abiturdurchschnittsnoten von 1,5, Fachhochschulen die nun "University of applied science" heißen und Summa Cum Laude Inflation bei der Promotion sind nur die Spitze des Gleichmachereisbergs. Warum? Weil zu lasten der leistungsfähigeren keine Differenzierung mehr stattfindet. Die Kita muss dann eben in Waldorf oder auf Englisch, die Schule privat, die universitäre Ausbildung möglichst im Ausland stattfinden. Das Ergebnis ist dann eine Separierung nach finanzieller Leistungsfähigkeit der Eltern, nicht nach individueller Leistungsfähigkeit der Kinder selbst.
"Just blame it on the guy who doesn't speak English. Ahh, Tibor, how many times you've saved my butt."
julée
Fossil
Fossil
Beiträge: 13077
Registriert: Freitag 2. April 2004, 18:13
Ausbildungslevel: Au-was?

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von julée »

j_laurentius hat geschrieben:Nur so kann man mehr Zusammenhalt in der Gesellschaft und mehr Bewusstsein dafür, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Bedingungen und Ansprüche haben und nicht alle auf der Gewinnerseite stehen, schaffen.
Natürlich ist das ein erstrebenswertes Ziel; wenn Inklusion machbar ist, dann sollte sie auch stattfinden und nicht z. B. an fehlenden Aufzügen im öffentlichen Raum scheitern. Allerdings muss man auch sehen, wen denn eigentlich die Folgen treffen: In Berlin etwa bleibt man in den wohlhabenderen Bezirken schön unter sich, möglichst noch auf dem Privatgymnasium, während in anderen Stadtteilen 30 Kinder mit 10 verschiedenen Muttersprachen in einer Klasse sitzen.
"Auch eine stehengebliebene Uhr kann noch zweimal am Tag die richtige Zeit anzeigen; es kommt nur darauf an, daß man im richtigen Augenblick hinschaut." (Alfred Polgar)
Benutzeravatar
j_laurentius
Mega Power User
Mega Power User
Beiträge: 1683
Registriert: Freitag 11. Juni 2004, 12:40

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von j_laurentius »

Vortex hat geschrieben:
j_laurentius hat geschrieben:Ich finde den Ansatz, Kinder in den Schulen möglichst nicht voneinander zu separieren (das gilt übrigens nicht nur hinsichtlich Behinderung/Nichtbehinderung, sondern z.B. auch hinsichtlich des generellen Leistungsvermögens oder der Herkunft), richtig.
Also Hauptschüler und Gymnasiasten in dieselbe Klasse? Und wie sieht es nach der Schule aus: Sollte man diese Politik dann konsequent fortsetzen oder wirft man die Leute danach einfach ins kalte Wasser der Leistungsgesellschaft, so als ob nichts gewesen wäre?
Es geht nicht darum, in der Schule keine Leistung zu fordern. Und, @Tibor, ja, ich habe ab der 5. Klasse ein Gymnasium besucht, habe aber vier Geschwister, die Schüler auf einer Waldorfschule waren, ich kenne also auch das "Gegenmodell" der gemeinsamen Beschulung von Kindern unterschiedlichen Leistungs- und Begabungsniveaus (und nein, das waren zum Großteil keine irgendwie privilegierten Kinder reicher Eltern, die es schick fanden, ihre Kinder auf die Waldorfschule zu schicken, meine Eltern - beide Krankenpfleger mit fünf Kindern - auch nicht). Meine Geschwister und deren Schulfreunde, soweit ich deren Lebenswege weiter verfolgen konnte, haben alle ihren Platz im Leben gefunden, in völlig unterschiedlichen Bereichen und auf verschiedenen Wegen, aber sie können sich alle, auch in der "Leistungsgesellschaft", behaupten. Das Problem bei der Waldorfschule ist nach meinem Dafürhalten erstens die völlig unnötige esoterische Aufhängung, zweitens, dass Schüler, die das Abitur anstreben, dort einen Exotenstatus haben; nicht weil sie vom Lernstoff her nicht aufs Abitur vorbereitet würden (das geht schon, wie man bei Schülern sieht, die von einer Waldorfschule auf ein Gymnasium wechseln), sondern weil nach meinem Eindruck die Lehrer selbst das Abi nicht so wichtig finden und den Schülern vermitteln, dass es okay ist, die eigenen Ansprüche nicht so hoch zu schrauben. Aber wenn man diese Problempunkte ausmerzen würde, wäre das nach meinem Eindruck ein gutes Modell. Besser, als neunjährige Kinder in die Töpfe "Hauptschule" oder "Gymnasium" zu stecken und ihnen damit eine Erwartung mitzugeben, die für ihren weiteren Lebensweg von höchster Bedeutung ist, bei der aber keiner weiß, ob sie tatsächlich richtig ist. Und da komme mir keiner mit "Durchlässigkeit des Schulsystems". Jedenfalls hier in NRW funktioniert die nur nach unten, nach oben praktisch nicht.
Benutzeravatar
Tibor
Fossil
Fossil
Beiträge: 16446
Registriert: Mittwoch 9. Januar 2013, 23:09
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Tibor »

j_laurentius hat geschrieben:@Tibor, ja, ich habe ab der 5. Klasse ein Gymnasium besucht, habe aber vier Geschwister, die Schüler auf einer Waldorfschule waren, ich kenne also auch das "Gegenmodell" der gemeinsamen Beschulung von Kindern unterschiedlichen Leistungs- und Begabungsniveaus .... Meine Geschwister ..., haben alle ihren Platz im Leben gefunden, in völlig unterschiedlichen Bereichen und auf verschiedenen Wegen, ...
Zwei Punkte: Eine Waldorfschule vor 5-20 Jahren war keine Inklusionsschule wie es eine normale Sekundarschule / Gesamtschule heute ist. Haben deine Geschwister eine universitäre Ausbildung?
"Just blame it on the guy who doesn't speak English. Ahh, Tibor, how many times you've saved my butt."
Benutzeravatar
j_laurentius
Mega Power User
Mega Power User
Beiträge: 1683
Registriert: Freitag 11. Juni 2004, 12:40

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von j_laurentius »

Nein, zwei davon haben aber die unbeschränkte Hochschulzugangsberechtigung und jedenfalls der eine - jetzt Mitte 20 - gedenkt auch noch zu studieren. Einige Schulfreunde meiner Geschwister haben einen Universitätsabschluss. Frag mich jetzt aber nicht nach Statistiken.
Benutzeravatar
Levi
Super Power User
Super Power User
Beiträge: 1584
Registriert: Dienstag 2. März 2010, 19:55
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Levi »

Tibor hat geschrieben:
Levi hat geschrieben:Müssen wir uns jetzt wirklich auf das Niveau eines argumentum ad personam begeben?
Im Übrigen hat meine Schulentscheidung nichts mit Inklusion zu tun, sondern mit dem Schulsystem Berlins im Allgemeinen. In München oder Stuttgart würden meine Kinder zweifellos ein staatliches Gymnasium besuchen.
Ach komm, es hat so schön gepasst, weil J-Laurentius hier ins Einheitsschulhorn geblasen hat und du dich zugleich für Totalinklusion ausgesprochen hast.

Wo habe ich mich für "Totalinklusion" ausgesprochen? Was immer das auch sein mag?

Zutreffend ist allerdings, dass ich den Ansatz der Inklusion für richtig halte: Die Entscheidung über die geeignete schulische Laufbahn für ein Kind - auch und gerade für ein Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf -, sollte nach entsprechender Beratung grundsätzlich bei den Eltern liegen. Will oder kann der Staat diese schulische Laufbahn - nach umfassender Prüfung des Einzelfalls - nicht realisieren, so hat er dies nachvollziehbar zu begründen. Nicht die Eltern stehen in der Pflicht zur Rechtfertigung ihrer Entscheidung, sondern der Staat, der einem seiner Bürger den Zugang zu Bildungswegen verschließt, die anderen Kindern ohne Behinderung offen stehen.

Ich sehe nicht, was an diesem Ansatz falsch sein soll. Jedenfalls entspricht er meinem Verständnis von Freiheit und Gleichheit.

Die frühere Regelung (grundsätzlich Förderschule; nur ausnahmsweise bei entsprechender Begründung Regelschule) transportierte dagegen ein paternalistisches Staatsverständnis, nachdem der Staat besser als die Eltern weiß, was gut ist für ein Kind mit Behinderungen.

Die Gesellschaft ist eben auf Leistung ausgerichtet. Altersheterogene Kitas, Gemeinschaftsschulen, Abiturdurchschnittsnoten von 1,5, Fachhochschulen die nun "University of applied science" heißen und Summa Cum Laude Inflation bei der Promotion sind nur die Spitze des Gleichmachereisbergs. Warum? Weil zu lasten der leistungsfähigeren keine Differenzierung mehr stattfindet.

So ganz widerspruchsfrei erscheint mir deine Kritik hier nicht. ;-)

Ich bin ein absoluter Verfechter einer möglichst guten Bildung für alle Schüler. Das ist etwas prinzipiell anderes als eine Leistungskonkurrenz zwischen den Schülern. Andererseits bedeutet das aber auch nicht, die Bildungsansprüche bis auf das Niveau des schwächsten Schülers abzusenken. Das durchschnittliche Leistungsniveau der entsprechenden süd- oder ostdeutschen Schulform sollte schon erreicht werden.
sai
Super Power User
Super Power User
Beiträge: 1579
Registriert: Montag 27. Mai 2013, 10:30
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von sai »

Levi hat geschrieben: Zutreffend ist allerdings, dass ich den Ansatz der Inklusion für richtig halte: Die Entscheidung über die geeignete schulische Laufbahn für ein Kind - auch und gerade für ein Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf -, sollte nach entsprechender Beratung grundsätzlich bei den Eltern liegen. Will oder kann der Staat diese schulische Laufbahn - nach umfassender Prüfung des Einzelfalls - nicht realisieren, so hat er dies nachvollziehbar zu begründen. Nicht die Eltern stehen in der Pflicht zur Rechtfertigung ihrer Entscheidung, sondern der Staat, der einem seiner Bürger den Zugang zu Bildungswegen verschließt, die anderen Kindern ohne Behinderung offen stehen.

Ich sehe nicht, was an diesem Ansatz falsch sein soll. Jedenfalls entspricht er meinem Verständnis von Freiheit und Gleichheit.

Die frühere Regelung (grundsätzlich Förderschule; nur ausnahmsweise bei entsprechender Begründung Regelschule) transportierte dagegen ein paternalistisches Staatsverständnis, nachdem der Staat besser als die Eltern weiß, was gut ist für ein Kind mit Behinderungen.
An dem Ansatz ist falsch, dass du davon ausgehst, dass der Großteil der Eltern tatsächlich in der Lage ist, das sachgerecht zu entscheiden.

Ich kann hier wieder nur von meinem Bruder berichten, der - wie bereits erwähnt - Sonderschullehrer an einer Schule für körperbehinderte Kinder ist. Seiner Aussage nach ist eines der größten Probleme in der Entwicklung und Betreuung dieser Kinder, dass sie ganz regelmäßig Eltern haben, die - wenn die Kinder Glück haben - nur überfordert, in der Vielzahl aber völlig desinteressiert an ihren Kindern sind.

In der Theorie würde ich dir ohne Weiteres zustimmen, dass jeder in seinen Entscheidungen frei sein sollte. In der Praxis setzt das aber voraus, dass die Leute überhaupt in der Lage sind, sachgerecht zu entscheiden.
Benutzeravatar
Levi
Super Power User
Super Power User
Beiträge: 1584
Registriert: Dienstag 2. März 2010, 19:55
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Levi »

sai hat geschrieben:
Levi hat geschrieben: Zutreffend ist allerdings, dass ich den Ansatz der Inklusion für richtig halte: Die Entscheidung über die geeignete schulische Laufbahn für ein Kind - auch und gerade für ein Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf -, sollte nach entsprechender Beratung grundsätzlich bei den Eltern liegen. Will oder kann der Staat diese schulische Laufbahn - nach umfassender Prüfung des Einzelfalls - nicht realisieren, so hat er dies nachvollziehbar zu begründen. Nicht die Eltern stehen in der Pflicht zur Rechtfertigung ihrer Entscheidung, sondern der Staat, der einem seiner Bürger den Zugang zu Bildungswegen verschließt, die anderen Kindern ohne Behinderung offen stehen.

Ich sehe nicht, was an diesem Ansatz falsch sein soll. Jedenfalls entspricht er meinem Verständnis von Freiheit und Gleichheit.

Die frühere Regelung (grundsätzlich Förderschule; nur ausnahmsweise bei entsprechender Begründung Regelschule) transportierte dagegen ein paternalistisches Staatsverständnis, nachdem der Staat besser als die Eltern weiß, was gut ist für ein Kind mit Behinderungen.
An dem Ansatz ist falsch, dass du davon ausgehst, dass der Großteil der Eltern tatsächlich in der Lage ist, das sachgerecht zu entscheiden.

Ich kann hier wieder nur von meinem Bruder berichten, der - wie bereits erwähnt - Sonderschullehrer an einer Schule für körperbehinderte Kinder ist. Seiner Aussage nach ist eines der größten Probleme in der Entwicklung und Betreuung dieser Kinder, dass sie ganz regelmäßig Eltern haben, die - wenn die Kinder Glück haben - nur überfordert, in der Vielzahl aber völlig desinteressiert an ihren Kindern sind.

In der Theorie würde ich dir ohne Weiteres zustimmen, dass jeder in seinen Entscheidungen frei sein sollte. In der Praxis setzt das aber voraus, dass die Leute überhaupt in der Lage sind, sachgerecht zu entscheiden.
(1) Wenn die Eltern tatsächlich "völlig desinteressiert an ihren Kindern" sein sollten, ist Inklusion doch ohnehin kein Thema. Diese Eltern werden einfach das machen, was ihnen die Schulverwaltung empfiehlt. So wie in der Zeit vor Einführung der Inklusion auch.

Die "Problemfälle" der Inklusion sind jedoch gerade die engagierten (oder über-engagierten) Eltern, die ihr Kind - gegen den Rat der sonderpädagogischen "Experten" - auf eine allgemeine Schule geben wollen, weil sie ihr Kind besser kennen (oder dies zumindest annehmen).

(2) Das mit den reihenweise angeblich überforderten Eltern halte ich im Übrigen für eine Legende. Sicherlich gibt es einzelne solcher Fälle, aber sie sind die Ausnahme. Wäre es anders, müsste man sich ernsthaft die Frage stellen, wie man es überhaupt verantworten kann, dass Menschen Kinder in die Welt setzen und diese erziehen, warum sie wählen dürfen, ihre Steuerklärung machen müssen und Kraftfahrzeuge führen dürfen, wenn sie selbst nach entsprechender Beratung und Empfehlung der Schulbehörden mit der Entscheidung überfordert sind, welche Schulart ihr Kind besuchen soll.
sai
Super Power User
Super Power User
Beiträge: 1579
Registriert: Montag 27. Mai 2013, 10:30
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von sai »

Levi hat geschrieben:


(2) Das mit den reihenweise angeblich überforderten Eltern halte ich im Übrigen für eine Legende. Sicherlich gibt es einzelne solcher Fälle, aber sie sind die Ausnahme. Wäre es anders, müsste man sich ernsthaft die Frage stellen, wie man es überhaupt verantworten kann, dass Menschen Kinder in die Welt setzen und diese erziehen, warum sie wählen dürfen, ihre Steuerklärung machen müssen und Kraftfahrzeuge führen dürfen, wenn sie selbst nach entsprechender Beratung und Empfehlung der Schulbehörden mit der Entscheidung überfordert sind, welche Schulart ihr Kind besuchen soll.
Ich finde es interessant, dass ich dir hier zwei konkrete Aussagen von Leuten aus der Praxis gebe, einem Sonderschullehrer und einem Rollstuhlfahrer, die genau das Gegenteil von deinen Aussagen bestätigen und du tust das als "Legende" ab.

Man kann sich seine rosarote Gutmenschenwelt anscheinend genau so zurecht biegen, wie es einem gerade ins Konzept passt.
julée
Fossil
Fossil
Beiträge: 13077
Registriert: Freitag 2. April 2004, 18:13
Ausbildungslevel: Au-was?

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von julée »

Levi hat geschrieben: (2) Das mit den reihenweise angeblich überforderten Eltern halte ich im Übrigen für eine Legende. Sicherlich gibt es einzelne solcher Fälle, aber sie sind die Ausnahme. Wäre es anders, müsste man sich ernsthaft die Frage stellen, wie man es überhaupt verantworten kann, dass Menschen Kinder in die Welt setzen und diese erziehen, warum sie wählen dürfen, ihre Steuerklärung machen müssen und Kraftfahrzeuge führen dürfen, wenn sie selbst nach entsprechender Beratung und Empfehlung der Schulbehörden mit der Entscheidung überfordert sind, welche Schulart ihr Kind besuchen soll.
Es dürfte ziemlich viele Eltern geben, die für ihre Kinder falsche Entscheidungen treffen, nicht zwingend, weil sie sich nicht für ihr Kind interessieren, sondern weil sie ggf. nicht in der Lage sind, wirklich die Entscheidung zu treffen, die für das Kind das Beste wäre. Denn das bedeutet möglicherweise von eigenen Träumen für das eigene Kind Abschied zu nehmen - und wenn schon die Einsicht schwer ist, dass das eigene Kind möglicherweise nicht aufs Gymnasium gehört, sondern besser einen ordentlichen Realschulabschluss und eine Lehre macht, dann dürfte es nochmal deutlich schwerer sein, zu akzeptieren, dass das eigene Kind so schwer beeinträchtigt ist, dass es innerhalb des regulären Schulsystems nicht die erforderliche Unterstützung und Förderung erfahren kann. Und dass es Eltern gibt, die mit einem ggf. schwerst behinderten Kind heillos überfordert sind, halte ich für sehr menschlich.
"Auch eine stehengebliebene Uhr kann noch zweimal am Tag die richtige Zeit anzeigen; es kommt nur darauf an, daß man im richtigen Augenblick hinschaut." (Alfred Polgar)
Antworten