Inklusion - postfaktische Welt?

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z0rr0_z
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Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von z0rr0_z »

Tibor hat geschrieben:
Levi hat geschrieben:Das Verbot der Ausgrenzung ist nicht nur ein "gefühlig-moralisches Argument", sondern die rechtliche Grundlage unserer Gesellschaft!
Wir befinden uns hier im allbekannten Recht-Moral-Abgrenzungsproblem. Die Grundrechte sind mE der verschriftlichte Generalkonsens der gesellschaftlichen Werte (der Moral), die wir beachten wollen und deshalb vor Eingriffen des Staats genauso schützen, wie wir dem Staat zum Teil Schutzpflichten für diese Werte auferlegen. Darüber hinaus gibt es sicherlich weitere Moralvorstellungen, die aber nicht derart verbreitet sind, das wir sie verschriftlicht haben bzw. es gibt auch verschriftlichte Moralvorstellungen, deren Durchsetzung sich als Moral in Rückwärtsbewegung befindet (bspw. nur die Diskussion zur Ehe als Bündnis zwischen Mann und Frau und als Keimzelle der Familie); mithin die Verschriftlichung als Grundrecht (wohl) über den Generalkonsens mittlerweile hinausragt.

Zur Sache: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG). Dies setzt ersichtlich an einem "von Außen" auf den Menschen einwirkendes etwas an, also an Verbote bzw. Gebote durch den Staat. Wenn die Behinderung selbst nachteiligt ist (man kann nicht laufen, man kann nicht sprechen, man ist geistig behindert), dann ist dies keine Benachteiligung, die die Norm verbietet; diese Behinderung ist einfach existent/vorhanden. Die Frage ist nur, ob aus dem Verbot zugleich eine Staatspflicht entnommen werden kann, dass tatsächliche Nachteile (Behinderung) auch durch den Staat (bzw. die Gesellschaft?) ignoriert werden müssen. Dies kann man wohl nicht als Totalforderung aufstellen, denn weder kann der Staat den Blinden als Sehenden beurteilen und ihm entsprechende Rechte gewähren oder Pflichten auferlegen, noch kann er eine geistige Behinderung und entsprechende Fehlleistungen (bspw. in der Schule) ignorieren. Es leuchtet aber unmittelbar ein, dass bspw. ein gehbehinderter nicht deshalb vom Abitur ausgeschlossen werden kann, weil er im Sportunterricht nicht die geforderten Leistungen erbringen kann. Es kommt eben immer auf den Einzelfall an.

:goodposting:
...dafür haben wir kein Formular. =;

Sämtliche Beiträge stellen keine Rechtsauskunft dar, sondern spiegeln lediglich die persönliche Meinung des Verfassers wider.
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Levi
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Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Levi »

sai hat geschrieben: Du übersiehst - ob bewusst oder unbewusst - den entscheidenden Halbsatz: "daß die aufgeführten faktischen Verschiedenheiten keine rechtliche, nicht aber auch daß sie keine gesellschaftliche, soziologische, psychologische oder sonstige Wirkung haben dürfen."

Das man rechtlich nicht differenzieren darf bestreite ich überhaupt nicht. Die Entscheidung, wie man mit Menschen in der Schule und in der Gesellschaft umgeht, ist aber ganz sicher keine allein rechtliche.
Was soll die Zulassung zu einer Schule und die Entscheidung, welche Schüler welche Schulart besuchen, denn anderes sein als eine rechtliche Maßnahme?

Es geht hier um Inklusion oder Nicht-Inklusion in der Schule, und damit um eine originär staatliche Aufgabe (vgl. Art. 7 Abs. 1 GG).
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Levi
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Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Levi »

Tibor hat geschrieben:p.s. und in Bezug auf das Urteilszitat: Das Recht (als abstrakt-generelle Norm) darf nicht benachteiligen. Damit ist aber nicht gemeint, dass im konkret-individuellen Einzelfall (Anwendung von Recht) keine Unterschiede gemacht werden dürfen.

Das meinst du jetzt nicht ernst, oder?
Art. 1 Abs. 3 GG?

Art. 3 Abs. 3 GG gilt für alle staatlichen Maßnahmen, egal ob generell-abstrakt oder konkret-individuell.

Auch in der Anwendung des Rechts durch Exekutive und Jurisdiktion ist jede Differenzierung nach den Merkmalen des Art. 3 Abs. 3 GG kategorisch ausgeschlossen. Ausnahme: bei einer Behinderung ist eine "positive Diskriminierung" zulässig.
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Vortex
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Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Vortex »

Levi hat geschrieben:
Suchender_ hat geschrieben: behinderte Kinder zusammen mit anderen
Allein schon diese Wortwahl zeigt, dass du an einer sachlichen Diskussion nicht wirklich interessiert bist.

Ich empfehle als ersten Schritt die Einübung einer diskriminierungsfreien, wertschätzenden Sprache.
Gerade diese übertriebene political correctness steht einer sachlichen Diskussion im Wege. Wohin das ganze führen kann, sieht man zur Zeit an amerikanischen und kanadischen Unis.


Levi hat geschrieben:Gut, dass das Bundesverfassungsgericht das anders sieht (BVerfGE 3, 225, 240):
[...]
Jegliche unmittelbare oder mittelbare (rechtliche) Anknüpfung an eine Behinderung - zum Nachteil des Menschen - ist daher von Verfassungs wegen verboten.
Das BVerfG sagt aber übrigens auch (BVerfG, NJW 2004, 2151 f.):

Das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gilt jedoch nicht ohne jede Einschränkung. Fehlen einer Person gerade wegen ihrer Behinderung bestimmte körperliche Fähigkeiten, die unerlässliche Voraussetzung für die Wahrnehmung eines Rechts sind, liegt in der Verweigerung dieses Rechts kein Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot. Eine rechtliche Schlechterstellung Behinderter ist danach zulässig, wenn behinderungsbezogene Besonderheiten es zwingend erfordern (vgl. BTDrucks 12/6323, S. 12 sowie BVerfGE 85, 191 [207]; 99, 341 [357]).
Zuletzt geändert von Vortex am Dienstag 30. Mai 2017, 11:15, insgesamt 1-mal geändert.
sai
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Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von sai »

Levi hat geschrieben:
sai hat geschrieben: Du übersiehst - ob bewusst oder unbewusst - den entscheidenden Halbsatz: "daß die aufgeführten faktischen Verschiedenheiten keine rechtliche, nicht aber auch daß sie keine gesellschaftliche, soziologische, psychologische oder sonstige Wirkung haben dürfen."

Das man rechtlich nicht differenzieren darf bestreite ich überhaupt nicht. Die Entscheidung, wie man mit Menschen in der Schule und in der Gesellschaft umgeht, ist aber ganz sicher keine allein rechtliche.
Was soll die Zulassung zu einer Schule und die Entscheidung, welche Schüler welche Schulart besuchen, denn anderes sein als eine rechtliche Maßnahme?

Es geht hier um Inklusion oder Nicht-Inklusion in der Schule, und damit um eine originär staatliche Aufgabe (vgl. Art. 7 Abs. 1 GG).
Mein Bruder ist Sonderschullehrer an einer Schule für körperbehinderte Kinder. Bei ihm sind Schüler in der Klasse, die können sich nicht bewegen, nässen und koten sich drei Mal am Tag ein und kriegen von ihrem Drumherum so gut wie nichts mit.
Ich persönlich würde jetzt nicht davon ausgehen, dass ich ein solches Kind genauso beschulen kann wie den durchschnittlichen Gymnasiasten.

Wenn der Staat eine tragfähige Entscheidung darüber treffen soll, welches Kind welche Schule besucht, kann ich doch nicht ernsthaft verlangen so zu tun, als gäbe es keine Unterschiede. Das ist meiner Meinung nach im Übrigen auch kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 GG, weil ich dadurch, dass ich mir der Unterschiede bewusst werde, überhaupt erst dafür Sorge tragen kann, dass keine Benachteiligungen entstehen.
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Tibor
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Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Tibor »

Levi hat geschrieben:Auch in der Anwendung des Rechts durch Exekutive und Jurisdiktion ist jede Differenzierung nach den Merkmalen des Art. 3 Abs. 3 GG kategorisch ausgeschlossen. Ausnahme: bei einer Behinderung ist eine "positive Diskriminierung" zulässig.
Nein, es ist gerade nicht kategorisch ausgeschlossen. Auch diese Gewährleistung unterliegt verfassungsrechtlich immanenten Schranken. Die Schulpflicht (Art. 7 GG) verpflichtet den Staat bspw. ein "begabungsgerechtes Schulsystem bereitzustellen" (BVerfG, NJW 1998, 131, 132). Dabei sind "die nur begrenzt verfügbaren öffentlichen Mittel" zu berücksichtigen, weshalb "eine Überweisung eines behinderten Schülers an eine Sonderschule gegen seinen und seiner Eltern Willen [...] nicht schon für sich eine verbotene Benachteiligung i.S. des Art.3 III2 GG [darstellt]. Eine solche Benachteiligung ist jedoch gegeben, wenn die Überweisung erfolgt, obwohl eine Unterrichtung an der allgemeinen Schule mit sonderpädagogischer Förderung möglich ist, der dafür benötigte personelle und sächliche Aufwand mit vorhandenen Personal- und Sachmitteln bestritten werden kann und auch organisatorische Schwierigkeiten und schutzwürdige Belange Dritter der integrativen Beschulung nicht entgegenstehen." (Leitsatz BVerfG aaO). Und natürlich gibt es weitere entgegenlaufende Grundrechte/Schutz- und Gewährleistungspflichten, die auf Art. 3 Abs. 3 GG einwirken. Letztlich sieht das BVerfG auch dann keinen Fall des Art. 3 Abs. 3 GG, wenn die Behinderung zwar ausschließend wird, aber "durch eine auf die Behinderung bezogene Förderungsmaßnahme hinlänglich kompensiert wird. Wann er so weit kompensiert ist, dass er nicht benachteiligend wirkt, lässt sich nicht generell und abstrakt festlegen. Dies kann nur aufgrund einer Gesamtwürdigung im Einzelfall entschieden werden" (BVerfG, NZA 2015, 1248).
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Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von hlubenow »

Art 3 (3) GG Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
"Allein schon diese Wortwahl zeigt, dass der Gesetzgeber des Grundgesetzes an einer sachlichen Diskussion nicht wirklich interessiert ist.
Ich empfehle ihm als ersten Schritt die Einübung einer diskriminierungsfreien, wertschätzenden Sprache." (frei nach Levi)

:alright

Ich glaub', ich muß mal wieder ein entsprechendes Video posten:
https://www.youtube.com/watch?v=2W1jIVU6NZ4g
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Vortex
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Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Vortex »

Und das SGB IX erst...
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Levi
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Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Levi »

Tibor hat geschrieben:
Levi hat geschrieben:Auch in der Anwendung des Rechts durch Exekutive und Jurisdiktion ist jede Differenzierung nach den Merkmalen des Art. 3 Abs. 3 GG kategorisch ausgeschlossen. Ausnahme: bei einer Behinderung ist eine "positive Diskriminierung" zulässig.
Nein, es ist gerade nicht kategorisch ausgeschlossen. Auch diese Gewährleistung unterliegt verfassungsrechtlich immanenten Schranken. Die Schulpflicht (Art. 7 GG) verpflichtet den Staat bspw. ein "begabungsgerechtes Schulsystem bereitzustellen" (BVerfG, NJW 1998, 131, 132). Dabei sind "die nur begrenzt verfügbaren öffentlichen Mittel" zu berücksichtigen, weshalb "eine Überweisung eines behinderten Schülers an eine Sonderschule gegen seinen und seiner Eltern Willen [...] nicht schon für sich eine verbotene Benachteiligung i.S. des Art.3 III2 GG [darstellt]. Eine solche Benachteiligung ist jedoch gegeben, wenn die Überweisung erfolgt, obwohl eine Unterrichtung an der allgemeinen Schule mit sonderpädagogischer Förderung möglich ist, der dafür benötigte personelle und sächliche Aufwand mit vorhandenen Personal- und Sachmitteln bestritten werden kann und auch organisatorische Schwierigkeiten und schutzwürdige Belange Dritter der integrativen Beschulung nicht entgegenstehen." (Leitsatz BVerfG aaO). Und natürlich gibt es weitere entgegenlaufende Grundrechte/Schutz- und Gewährleistungspflichten, die auf Art. 3 Abs. 3 GG einwirken. Letztlich sieht das BVerfG auch dann keinen Fall des Art. 3 Abs. 3 GG, wenn die Behinderung zwar ausschließend wird, aber "durch eine auf die Behinderung bezogene Förderungsmaßnahme hinlänglich kompensiert wird. Wann er so weit kompensiert ist, dass er nicht benachteiligend wirkt, lässt sich nicht generell und abstrakt festlegen. Dies kann nur aufgrund einer Gesamtwürdigung im Einzelfall entschieden werden" (BVerfG, NZA 2015, 1248).
(1) Auch die von dir zitierte Entscheidung (BVerfG, NJW 1998, 131) stützt in keiner Weise deine Behauptung, dass Art. 3 Abs. 3 GG nur für generell-abstrakte Normen gilt, nicht dagegen aber für konkret-individuelle staatliche Maßnahmen. Vielmehr steht dort ausdrücklich das genaue Gegenteil:

"Auch Auslegung und Anwendung des Schulrechts sind an die Vorgaben des Benachteiligungsverbots des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gebunden.

aa) Bei der Entscheidung der Schulbehörde darüber, an welcher Schule behinderte Kinder und Jugendliche im Einzelfall zu erziehen, zu unterrichten und auf das spätere Leben in der Gemeinschaft mit Nichtbehinderten vorzubereiten sind, sind nicht nur das Recht des Schülers auf eine seine Anlagen und Befähigungen möglichst weitgehend berücksichtigende Ausbildung ( Art. 2 Abs. 1 GG) und das Recht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG zu beachten, den Bildungsweg in der Schule für ihr Kind im Rahmen von dessen Eignung grundsätzlich frei zu wählen (vgl. BVerfGE 34, 165 <184> ). Zu berücksichtigen sind vielmehr auch die zusätzlichen Bindungen, die sich für die Schulbehörde aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ergeben."


(2) Natürlich findet auch Art. 3 Abs. 3 GG, wie alle vorbehaltlos gewährten Grundrechte, seine Schranken im kollidierenden Verfassungsrecht.

Das bedeutet aber nicht, dass Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG einfach ignoriert werden könnte, sondern dass sämtliche betroffenen Grundrechte und Verfassungswerte im Einzelfall im Wege praktischer Konkordanz zu einem schonenden Ausgleich gebracht werden müssen.

Oder wie es das BVerfG in der genannten Entscheidung formuliert:

"Die Überweisungsverfügung, die den Gegebenheiten und Verhältnissen des jeweils zu beurteilenden Falles ersichtlich nicht gerecht wird, ist durch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG untersagt. Eine solche Entscheidung ist nicht nur dann anzunehmen, wenn ein Kind oder Jugendlicher wegen seiner Behinderung auf eine Sonderschule verwiesen wird, obwohl seine Erziehung und Unterrichtung an der allgemeinen Schule seinen Fähigkeiten entspräche und ohne besonderen Aufwand möglich wäre. Eine Benachteiligung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG kommt vielmehr auch dann in Betracht, wenn die Sonderschulüberweisung erfolgt, obgleich der Besuch der allgemeinen Schule durch einen vertretbaren Einsatz von sonderpädagogischer Förderung ermöglicht werden könnte.

Ob letzteres der Fall ist, ob sich also beispielsweise durch die Bereitstellung einer zusätzlichen sonderpädagogischen Lehrkraft oder, soweit gesetzlich vorgesehen, durch die Einrichtung einer Integrationsklasse eine integrative Beschulung erreichen läßt, die das behinderte Kind mit Aussicht auf Erfolg durchlaufen kann, ist das Ergebnis einer Gesamtbetrachtung im Einzelfall, bei der Art und Schwere der jeweiligen Behinderung ebenso zu berücksichtigen sind wie Vor- und Nachteile einerseits einer integrativen Erziehung und Unterrichtung an einer Regelschule und andererseits einer Beschulung in einer Sonder- oder Förderschule. Dabei sind, soweit es um die Bewertung einer integrativen Beschulung geht, in den Gesamtvergleich nicht nur die dem behinderten Kind oder Jugendlichen damit eröffneten Chancen für seine Ausbildung und sein späteres Erwachsenenleben einzustellen, sondern auch die mit einer solchen Maßnahme möglicherweise verbundenen Belastungen zu würdigen."


(3) Unmögliches kann nicht verlangt werden, insbesondere findet jede Maßnahme irgendwo ihre finanziellen, personellen, sachlichen und organisatorischen Grenzen. Nicht jede Behinderung erlaubt eine Beschulung in einer Regelschule. Das ist selbstverständlich und bedarf keiner Erwähnung. Diese praktischen Grenzen sind jedoch weder niedrig noch unveränderbar. Viele technische Assistenzen, die vor 20 Jahren noch undenkbar waren, sind heute Alltags-Realität.

Der von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG geforderte Grundsatz ist heute daher eine inklusive Schule. Ausnahmen lassen sich nur im Einzelfall aus kollidierenden Verfassungsrecht rechtfertigen. Und eine solche Rechtfertigung ist heute noch deutlich schwerer zu finden als vor 20 Jahren.

Hinzu kommt noch, dass der Deutsche Bundestag am 28.12.2008 das „Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13.12.2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ sowie das Fakultativprotokoll vom 13.12.2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen beschlossen hat, mit dem er das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
(BGBl. II, 2008, S. 1420) ratifizierte.

Nach Art. 24 Abs. 2 UNBRK sind die Konventionsstaaten dazu verpflichtet, Menschen mit Behinderungen „…gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen…“ zu garantieren. Nach Art. 24 Abs. 4 UN-BRK sind Lehrer und sonstige erforderliche Fachkräfte so auszubilden, dass sie in der Lage sind, inklusiven Unterricht zu erteilen.

Dieses UN-Übereinkommen ist bei der Auslegung von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG heute mit zu berücksichtigen.
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Levi
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Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Levi »

hlubenow hat geschrieben:
Art 3 (3) GG Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
"Allein schon diese Wortwahl zeigt, dass der Gesetzgeber des Grundgesetzes an einer sachlichen Diskussion nicht wirklich interessiert ist.
Ich empfehle ihm als ersten Schritt die Einübung einer diskriminierungsfreien, wertschätzenden Sprache." (frei nach Levi)
:alright
Die Wortwahl des GG ist in keiner Weise zu beanstanden.

"Menschen mit Behinderungen" oder "wegen seiner Behinderung" ist vollkommen korrekt.

Das Problem ist nicht die Beschreibung eines einzelnen Merkmals, sondern die abwertende Reduzierung eines Menschen auf dieses Merkmal ("Behinderter"). Ein Mensch "ist" nicht behindert, sondern er "wird" behindert (von der Gesellschaft, die ihn von Teilhabemöglichkeiten ausschließt).
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Tibor
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Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Tibor »

Levi hat geschrieben:Ein Mensch "ist" nicht behindert, sondern er "wird" behindert (von der Gesellschaft, die ihn von Teilhabemöglichkeiten ausschließt).
Du meinst also, dass ein Mensch ohne Augenlicht nicht ein Blinder ist, weil die Gesellschaft ihn von der Teilhabemöglichkeit visueller Wahrnehmung ausschließt? :eeeek:
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Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Tibor »

Levi hat geschrieben:Auch die von dir zitierte Entscheidung (BVerfG, NJW 1998, 131) stützt in keiner Weise deine Behauptung, dass Art. 3 Abs. 3 GG nur für generell-abstrakte Normen gilt, nicht dagegen aber für konkret-individuelle staatliche Maßnahmen.
Die o.g. Antwort von mir "Nein, es ist gerade nicht kategorisch ausgeschlossen. ..." bezog sich auf deine Aussage "Auch in der Anwendung des Rechts durch Exekutive und Jurisdiktion ist jede Differenzierung nach den Merkmalen des Art. 3 Abs. 3 GG kategorisch ausgeschlossen.".

Im Übrigen habe ich nicht behauptet, dass die Exekutive nicht an die Verfassung gebunden ist. Ich habe lediglich geschrieben "Damit ist aber nicht gemeint, dass im konkret-individuellen Einzelfall (Anwendung von Recht) keine Unterschiede gemacht werden dürfen." und diese Aussage wird mE durch die o.g. BVerfG-Zitate gestützt.
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Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Levi »

Tibor hat geschrieben:
Levi hat geschrieben:Ein Mensch "ist" nicht behindert, sondern er "wird" behindert (von der Gesellschaft, die ihn von Teilhabemöglichkeiten ausschließt).
Du meinst also, dass ein Mensch ohne Augenlicht nicht ein Blinder ist, weil die Gesellschaft ihn von der Teilhabemöglichkeit visueller Wahrnehmung ausschließt? :eeeek:

Du verwechselst die körperliche Sinnesbeeinträchtigung mit dem Behinderungsbegriff.

Natürlich wird ein blinder Mensch nicht durch die Gesellschaft "von der Teilhabemöglichkeit visueller Wahrnehmung" ausgeschlossen. Allein aus der Tatsache, dass ein Mensch nichts sehen kann, folgt aber auch noch keine Behinderung. Wenn ich Nachts im Schlaf die Augen zu habe, habe ich trotzdem keine Behinderung. Eine Behinderung ergibt sich erst aus der Interaktion mit der Umwelt.

Wenn man keine Treppen steigen kann, wird das erst dann zum Problem, wenn Treppen vorhanden sind und alternative Wege der Höhenüberwindung (Fahrstuhl, Rolltreppe etc.) nicht zur Verfügung stehen.

Eine "Behinderung" ist daher keine Eigenschaft der Person (anders als beispielsweise: blind, taub, querschnittgelähmt etc.) sondern eine relationale Wechselwirkung mit der Umwelt.

Das ist im Übrigen nicht nur meine Auffassung, sondern State of the Art. Vgl. beispielsweise Wikipedia zum Stichwort "Behinderung":

"Als Behinderung bezeichnet wird eine dauerhafte und gravierende Beeinträchtigung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichenTeilhabe bzw. Teilnahme einer Person, die durch die Wechselwirkung ungünstiger Umwelt-, sozialer oder anderer Faktoren (Barrieren) und solcher Eigenschaften der Betroffenen, welche die Überwindung der Barrieren erschweren oder unmöglich machen, verursacht wird."

Oder die UN-BEHINDERTENRECHTSKONVENTION:

"Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können."

Das Ziel ist es, Behinderungen möglichst vollständig abzuschaffen; was nicht bedeutet, dass es keine körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigungen mehr gibt. Sie sollen nur die gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft nicht mehr behindern.
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Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Vortex »

Levi hat geschrieben:Ein Mensch "ist" nicht behindert, sondern er "wird" behindert (von der Gesellschaft, die ihn von Teilhabemöglichkeiten ausschließt).
"Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist." (§ 2 I 1 SGB IX).

Das Problem ist nicht die Beschreibung eines einzelnen Merkmals, sondern die abwertende Reduzierung eines Menschen auf dieses Merkmal ("Behinderter").
Die Formulierung an der du dich ursprünglich gestört hast, lautete aber nicht "Behinderter", sondern "behinderte Kinder". Und sogar das SGB IX spricht von "behinderte[n] Menschen".
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Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Levi »

Vortex hat geschrieben:
Levi hat geschrieben:Ein Mensch "ist" nicht behindert, sondern er "wird" behindert (von der Gesellschaft, die ihn von Teilhabemöglichkeiten ausschließt).
"Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist." (§ 2 I 1 SGB IX).

Das Problem ist nicht die Beschreibung eines einzelnen Merkmals, sondern die abwertende Reduzierung eines Menschen auf dieses Merkmal ("Behinderter").
Die Formulierung an der du dich ursprünglich gestört hast, lautete aber nicht "Behinderter", sondern "behinderte Kinder". Und sogar das SGB IX spricht von "behinderte[n] Menschen".

Das SGB IX stammt aus einer anderen Zeit (Anfang dieses Jahrtausends) und transportiert sprachlich noch ein teilweise überholtes gesellschaftspolitisches Bild von Behinderung. Heute würde der Gesetzgeber das so nicht mehr formulieren.

Das SGB IX ist übrigens auch noch nicht in geschlechtergerechter Sprache formuliert, was nicht bedeutet, dass das heute noch akzeptabel wäre. Wir schreiben das Jahr 2017 und nicht mehr 2000.
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