Inklusion - postfaktische Welt?

"Off-Topic"-Forum. Die Themen können von den Usern frei bestimmt werden.
Es gelten auch hier die Foren-Regeln!

Moderator: Verwaltung

Antworten
OJ1988
Super Mega Power User
Super Mega Power User
Beiträge: 4499
Registriert: Freitag 24. Januar 2014, 21:54
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von OJ1988 »

Levi hat geschrieben:Allein aus der Tatsache, dass ein Mensch nichts sehen kann, folgt aber auch noch keine Behinderung.
True. Das sog. "Sehen" ist ein soziales Konstrukt ohne zwingende biologische Grundlage. Cis-abled persons haben das nur noch nicht begriffen.
julée
Fossil
Fossil
Beiträge: 13077
Registriert: Freitag 2. April 2004, 18:13
Ausbildungslevel: Au-was?

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von julée »

Levi hat geschrieben:
julée hat geschrieben:
Trente Steele82 hat geschrieben:Das Problem ist, dass du dich an einer Begrifflichkeit aufhängst (die vom TE womöglich nicht einmal reflektiert wurde) und damit die Argumente in der Sache zur Nebensache machst. Darauf wollte ich heute morgen bereits hinweisen... Soweit ich das lese, hatte der TE Inklusion nicht per se als negativ beschrieben und für sich auch nicht abgelehnt, sondern den Weg der Umsetzung kritisiert. Kritisiert hat er zudem, dass eine konstruktive Gesprächsführung nicht möglich sei, weil man bei Sachargumenten sofort Gefahr läuft, in eine bestimmte Ecke gedrängt zu werden. Und naja, die letzten Seiten zeigen irgendwie, dass die Kritik nicht ganz unberechtigt scheint...
Wie wahr...

Wenn man die Metaebenen-Begriffsdiskussion hinter sich lässt, muss man sich m. E. durchaus fragen, ob und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen, es praktisch machbar ist, in einer Schulklasse mit bis zu 30 Kindern das gesamte Spektrum möglicher körperlicher Beeinträchtigungen und geistiger Fähigkeiten unterzubringen und hierbei allen Kindern gerecht zu werden.
Das ist ja auch durchaus eine berechtigte Frage, aber eben eine Frage, die nicht die Inklusion an sich betrifft, sondern ihre konkrete Umsetzung in den Schulen. Kein Vertreter des Inklusionsprinzips würde behaupten, dass Inklusion mit 30 Schülern und 1 Lehrer funktioniert. Klassenstärken von 18 - 20 Schülern mit mindestens 3 Lehrkräften (Lehrer + Sozialpädagoge + Inklusionsassistenzkraft) sind hier die Grenze des pädagogisch Sinnvollen.

Natürlich kann man das nur schrittweise über die demographische Dividende aus den sinkenden Schülerzahlen erreichen. Aber leistbar ist es.
Einen Betreuungsschlüssel von 1:6 muss man aber auch erstmal haben (Frage des Geldes und des vorhandenen Fachpersonals) - und selbst dann stellt sich die Frage, ob es wirklich für alle Beteiligten das Modell ist, in dem sie am besten gefördert werden können, oder ob nicht daneben weiterhin spezielle Strukturen sinnvoll sind. Mit "wenn alle im gleichen Raum sitzen, werden am Ende schon alle inkludiert sein" ist ja nicht getan, insofern ist es vielleicht ehrlich, zuzugeben, dass - jedenfalls mit den gegenwärtigen Mitteln - nicht alles leistbar ist, was möglicherweise in höchstem Maße wünschenswert wäre.
"Auch eine stehengebliebene Uhr kann noch zweimal am Tag die richtige Zeit anzeigen; es kommt nur darauf an, daß man im richtigen Augenblick hinschaut." (Alfred Polgar)
Benutzeravatar
Levi
Super Power User
Super Power User
Beiträge: 1584
Registriert: Dienstag 2. März 2010, 19:55
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Levi »

Tibor hat geschrieben:
Levi hat geschrieben:
julée hat geschrieben:... muss man sich m. E. durchaus fragen, ob und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen, es praktisch machbar ist, ...
Das ist ja auch durchaus eine berechtigte Frage, aber eben eine Frage, die nicht die Inklusion an sich betrifft, sondern ihre konkrete Umsetzung in den Schulen. ...
Ach was, vorhin hast du mir noch Unkenntnis von Art 1 Abs 3 GG vorgeworfen, als ich die Probleme des konkreten Einzelfalls eingeworfen habe ...
Mein Hinweis auf Art. 1 Abs. 3 GG bezog sich auf die konkrete rechtliche Einzelmaßnahme und die Geltung von Art. 3 Abs. 3 GG in diesem Zusammenhang. 

Der nachfolgende Hinweis auf die praktischen Probleme bei der konkreten Umsetzung bezieht sich dagegen auf die tatsächliche Umsetzung, nachdem der rechtliche Zugang zur Regelschule für alle eröffnet worden ist. Hier bewegen wir uns im Bereich der schulinternen Organisation ohne rechtliche Außenwirkung gegenüber Schülern.

Es ist unbestritten, dass bei dieser praktischen Umsetzung der Inklusion noch vieles im Argen liegt, weil - ähnlich wie bei der Einführung von G 8 - zuerst die Umstellung beschlossen wurde, und erst dann Überlegungen dazu angestellt wurden, wie das in den Schulen überhaupt umgesetzt werden kann. Auch fällt das erforderliche qualifizierte zusätzliche Personal nicht einfach vom Himmel, sondern muss zunächst gewonnen und ausgebildet werden. Aber das sind keine rechtlichen sondern organisatorische Fragen, für deren Lösung die Schulverwaltung und die Schulleitungen zuständig sind und bezahlt werden.
julée
Fossil
Fossil
Beiträge: 13077
Registriert: Freitag 2. April 2004, 18:13
Ausbildungslevel: Au-was?

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von julée »

Levi hat geschrieben:Es ist unbestritten, dass bei dieser praktischen Umsetzung der Inklusion noch vieles im Argen liegt, weil - ähnlich wie bei der Einführung von G 8 - zuerst die Umstellung beschlossen wurde, und erst dann Überlegungen dazu angestellt wurden, wie das in den Schulen überhaupt umgesetzt werden kann. Auch fällt das erforderliche qualifizierte zusätzliche Personal nicht einfach vom Himmel, sondern muss zunächst gewonnen und ausgebildet werden. Aber das sind keine rechtlichen sondern organisatorische Fragen, für deren Lösung die Schulverwaltung und die Schulleitungen zuständig sind und bezahlt werden.
Damit machst Du es Dir m. E. zu einfach: Natürlich kann man einfach per Gesetz den Idealzustand "herbeiwünschen" und sich dann beklagen, dass die praktische Umsetzung, für die ja irgendwer anders zuständig ist und bezahlt wird, nicht klappt. So ganz redlich ist das allerdings nicht. Insbesondere, wenn man dann auch noch Kritik an der real existierenden Umsetzung als ignorant und vorgestrig abtut, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
"Auch eine stehengebliebene Uhr kann noch zweimal am Tag die richtige Zeit anzeigen; es kommt nur darauf an, daß man im richtigen Augenblick hinschaut." (Alfred Polgar)
Benutzeravatar
Vortex
Super Power User
Super Power User
Beiträge: 905
Registriert: Dienstag 13. Dezember 2011, 20:21
Ausbildungslevel: Au-was?

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Vortex »

Dem TE ging es denke ich weniger um das "wie", sondern mehr um das "warum" und um die Frage, was diese postmoderne Denkweise, die biologische Realitäten teilweise ignoriert, mit uns macht.

Auf das Thema Inklusion bezogen, wäre nämlich der nächste logische Schritt - wie der TE bereits schrieb - das gesamte Schulsystem in Frage zu stellen.
Benutzeravatar
Levi
Super Power User
Super Power User
Beiträge: 1584
Registriert: Dienstag 2. März 2010, 19:55
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Levi »

julée hat geschrieben:
Levi hat geschrieben:Es ist unbestritten, dass bei dieser praktischen Umsetzung der Inklusion noch vieles im Argen liegt, weil - ähnlich wie bei der Einführung von G 8 - zuerst die Umstellung beschlossen wurde, und erst dann Überlegungen dazu angestellt wurden, wie das in den Schulen überhaupt umgesetzt werden kann. Auch fällt das erforderliche qualifizierte zusätzliche Personal nicht einfach vom Himmel, sondern muss zunächst gewonnen und ausgebildet werden. Aber das sind keine rechtlichen sondern organisatorische Fragen, für deren Lösung die Schulverwaltung und die Schulleitungen zuständig sind und bezahlt werden.
Damit machst Du es Dir m. E. zu einfach: Natürlich kann man einfach per Gesetz den Idealzustand "herbeiwünschen" und sich dann beklagen, dass die praktische Umsetzung, für die ja irgendwer anders zuständig ist und bezahlt wird, nicht klappt. So ganz redlich ist das allerdings nicht. Insbesondere, wenn man dann auch noch Kritik an der real existierenden Umsetzung als ignorant und vorgestrig abtut, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
Das kann man sicherlich so sehen, aber ich bin halt ein unverbesserlicher Idealist und glaube fest daran, dass man die Welt durch Gedanken und Vernunft - nicht zuletzt auch in Form von Gesetzen - bestimmen und verändern kann. Das klappt natürlich nicht immer reibungslos, aber auf lange Sicht ist es der erfolgversprechendste Weg zu gesellschaftlichem Fortschritt. 
Gelöschter Nutzer

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Gelöschter Nutzer »

Leider habe ich im Moment keine Zeit, ausführlich auf alle Antworten einzugehen, hier aber in aller Kürze:

Es gibt im Wesentlichen drei unterschiedliche Diskussionen hier, die aber natürlich miteinander verknüpft sind:

Zum einen die sprachliche, mE die langweiligste. Zum zweiten die rechtliche, durchaus interessant. Schließlich die politische, die ich eigentlich führen wollte. Immerhin habe ich den Thread nicht im "Öffentlichen Recht" gepostet. Womit ich aber natürlich niemandem die Berechtigung absprechen möchte (noch kann!) andere Punkte anzusprechen.

Traurig finde ich, dass Levi unmittelbar die persönlich-polemische Ebene gewählt hat, anstatt rational die (politische) Diskussion zu führen. Immerhin ist diese Reaktion aber insofern spannend, als dass sie mein zentrales Anliegen anschaulich demonstriert hat:

Vermeintliche oder tatsächliche Utopien und Idealforderungen werden als alternativloses "Muss" dargestellt. Die Sinnhaftigkeit, die Folgen, die Modalitäten -- sie werden nicht thematisiert. Eine politische Debatte darf nicht stattfinden. Sie wird im Keim erstickt. Das "Ideal" ist bedingungslos zu akzeptieren. Wer dies nicht tut -- ist eben ein Menschenfeind.

Diese Herangehensweise ist gefährlich. Sie "vergiftet" tatsächlich die Debatte. Sich über "fake news" aus russischen Trollfabriken zu echauffieren ist billig. Aber "postfaktisch" agieren manchmal auch die, welche dabei (vermeintlich?) hehre Ziele verfolgen.

Die Inklusion ist kein Muss. Sie ist ein Ziel von manchen, andere lehnen sie ab. Über sie darf man eine Debatte führen, auch und gerade eine politische. Auf die Gesetzeslage kommt es dabei nicht entscheidend an; Aufgabe der Politik ist es gerade, legislativ tätig zu werden.

Wer aber alles jenseits der unbedingten Kapitulation gegenüber jeder Forderung der "Guten und Gerechten" in ihrem Streben nach gesellschaftlicher Utopie als unsagbar, unvertretbar diffamiert, der darf sich nicht wundern, wenn die Frustration schließlich einen orangefarbenen Reality-Darsteller an die Macht spült, nur weil dieser als einzige Alternative erscheint (ob zu Unrecht oder nicht).
julée
Fossil
Fossil
Beiträge: 13077
Registriert: Freitag 2. April 2004, 18:13
Ausbildungslevel: Au-was?

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von julée »

Levi hat geschrieben:
julée hat geschrieben:
Levi hat geschrieben:Es ist unbestritten, dass bei dieser praktischen Umsetzung der Inklusion noch vieles im Argen liegt, weil - ähnlich wie bei der Einführung von G 8 - zuerst die Umstellung beschlossen wurde, und erst dann Überlegungen dazu angestellt wurden, wie das in den Schulen überhaupt umgesetzt werden kann. Auch fällt das erforderliche qualifizierte zusätzliche Personal nicht einfach vom Himmel, sondern muss zunächst gewonnen und ausgebildet werden. Aber das sind keine rechtlichen sondern organisatorische Fragen, für deren Lösung die Schulverwaltung und die Schulleitungen zuständig sind und bezahlt werden.
Damit machst Du es Dir m. E. zu einfach: Natürlich kann man einfach per Gesetz den Idealzustand "herbeiwünschen" und sich dann beklagen, dass die praktische Umsetzung, für die ja irgendwer anders zuständig ist und bezahlt wird, nicht klappt. So ganz redlich ist das allerdings nicht. Insbesondere, wenn man dann auch noch Kritik an der real existierenden Umsetzung als ignorant und vorgestrig abtut, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.
Das kann man sicherlich so sehen, aber ich bin halt ein unverbesserlicher Idealist und glaube fest daran, dass man die Welt durch Gedanken und Vernunft - nicht zuletzt auch in Form von Gesetzen - bestimmen und verändern kann. Das klappt natürlich nicht immer reibungslos, aber auf lange Sicht ist es der erfolgversprechendste Weg zu gesellschaftlichem Fortschritt. 
Man sollte nur die Menschen auf dem Weg nicht vergessen. Und der Weg ist nicht damit erledigt, dass man sich am grünen Schreibtisch überlegt, wie es sein soll, und dann stupide alle Einwände derer ignoriert, die mit der Realität konfrontiert werden.
"Auch eine stehengebliebene Uhr kann noch zweimal am Tag die richtige Zeit anzeigen; es kommt nur darauf an, daß man im richtigen Augenblick hinschaut." (Alfred Polgar)
Benutzeravatar
Tibor
Fossil
Fossil
Beiträge: 16446
Registriert: Mittwoch 9. Januar 2013, 23:09
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Tibor »

Levi hat geschrieben: Das kann man sicherlich so sehen, aber ich bin halt ein unverbesserlicher Idealist und glaube fest daran, dass man die Welt durch Gedanken und Vernunft - nicht zuletzt auch in Form von Gesetzen - bestimmen und verändern kann. 
Dann riskierst du aber, dass du direkt im Gesetz angelegte strukturelle Vollzugsdefizite hast, die das Gesetz selbst wieder verfassungswidrig erscheinen lassen. Gesetze sind nun einmal auf gleichmäßigen Vollzug angelegt, nicht auf Ichmalmirdieweltwieichsiewill. Ist ein Gesetz so normiert, dass es nicht durchgesetzt werden kann, dann sollte man stattdessen im Politikbereich Ziele (Frau Merkel spricht ja immer von den vielen kleinen Schritten) definieren, die die Gesellschaft näher zum gewünschten Ziel bringen. Nicht durchsetzbare Gesetze sollte man nicht dazu missbrauchen.
"Just blame it on the guy who doesn't speak English. Ahh, Tibor, how many times you've saved my butt."
Benutzeravatar
Pillendreher
Super Mega Power User
Super Mega Power User
Beiträge: 4183
Registriert: Sonntag 3. März 2013, 15:01

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Pillendreher »

OJ1988 hat geschrieben:
Levi hat geschrieben:Allein aus der Tatsache, dass ein Mensch nichts sehen kann, folgt aber auch noch keine Behinderung.
True. Das sog. "Sehen" ist ein soziales Konstrukt ohne zwingende biologische Grundlage. Cis-abled persons haben das nur noch nicht begriffen.
Ich wusste doch, dass mir diese Argumentation bekannt vorkommt! =D>
Welcome to Loud City! THUNDER UP!
Benutzeravatar
Levi
Super Power User
Super Power User
Beiträge: 1584
Registriert: Dienstag 2. März 2010, 19:55
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Levi »

Tibor hat geschrieben:
Levi hat geschrieben: Das kann man sicherlich so sehen, aber ich bin halt ein unverbesserlicher Idealist und glaube fest daran, dass man die Welt durch Gedanken und Vernunft - nicht zuletzt auch in Form von Gesetzen - bestimmen und verändern kann. 
Dann riskierst du aber, dass du direkt im Gesetz angelegte strukturelle Vollzugsdefizite hast, die das Gesetz selbst wieder verfassungswidrig erscheinen lassen. Gesetze sind nun einmal auf gleichmäßigen Vollzug angelegt, nicht auf Ichmalmirdieweltwieichsiewill. Ist ein Gesetz so normiert, dass es nicht durchgesetzt werden kann, dann sollte man stattdessen im Politikbereich Ziele (Frau Merkel spricht ja immer von den vielen kleinen Schritten) definieren, die die Gesellschaft näher zum gewünschten Ziel bringen. Nicht durchsetzbare Gesetze sollte man nicht dazu missbrauchen.
Ich weiß ehrlich gesagt nicht, worauf du hinauswillst? 

Es besteht bei der Inklusion kein strukturelles Vollzugs- und Durchsetzungsdefizit. Ganz im Gegenteil! Die verbreitete Kritik an der Inklusion entzündet sich ja gerade daran, dass sie ("von oben") durchgesetzt wird - und nicht daran, dass sie nicht durchgesetzt würde. 

Die Kritik kommt auch nicht von den Kindern mit Behinderung bzw. deren Eltern, sondern von den Lehrern und den Eltern der Kinder ohne Behinderung. Diese Kritik ist auch ohne Weiteres verständlich: denn viele Eltern mögen es nicht, wenn Ressourcen von den eigenen Kindern weg zu anderen Kindern umverteilt werden und auch viele Lehrer haben es nicht gerne, wenn sie sich zusätzlichen Aufgaben und Belastungen ausgesetzt sehen. Das frühere Förderschulsystem war für die nicht von Behinderung betroffenen Schüler, Eltern und Lehrer ohne Frage deutlich bequemer. Das hat aber nichts mit einem Durchsetzungsdefizit zu tun (durchgesetzt werden die gesetzlichen Regeln), sondern mit der menschlichen Natur und dem Kampf um möglichst viele Bildungsressourcen für die eigenen Kinder. 
Benutzeravatar
Tibor
Fossil
Fossil
Beiträge: 16446
Registriert: Mittwoch 9. Januar 2013, 23:09
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Tibor »

Wenn du als Gesetz normierst, dass Vollinklusion die Regel ist, aber keine Mittel (personell/sachlich) vorhanden sind, um dieses Ziel zu erreichen, dann hast du ein Vollzugsdefizit. Das ist dann auch strukturell im Gesetz angelegt, weil es eben keine Vollinklusion geben kann. Es ist eine Illusion zu glauben, das geistig behinderte Kinder in einer normalen Grundschulklasse beschult werden können, denn weder sind die aktuellen Schulgebäude noch die aktuellen Lehrer entsprechend ausgebildet sind. Erst muss man entsprechend des Staatsziels die Voraussetzungen schaffen, dann kann man die Behörden dazu verpflichten, entsprechende Einschulungen vorzunehmen. Ansonsten hast du eine Inklusion, die eben mehr schadet als nützt, nämlich den Behinderten und den nicht Behinderten Schülern. Das wäre ein Ergebnis entgegen dem Staatsziel.
"Just blame it on the guy who doesn't speak English. Ahh, Tibor, how many times you've saved my butt."
Benutzeravatar
j_laurentius
Mega Power User
Mega Power User
Beiträge: 1683
Registriert: Freitag 11. Juni 2004, 12:40

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von j_laurentius »

Dass die äußeren Bedingungen, die die Inklusion braucht, erst geschaffen werden müssen, damit Inklusion geht, ist klar. Das Eröffnungsposting dieses Threads und einige folgende Postings stellen allerdings das Konzept Inklusion an sich in Frage, und ich dachte eigentlich, über das Stadium dieses Weltbilds seien wir hinaus... Ich finde den Ansatz, Kinder in den Schulen möglichst nicht voneinander zu separieren (das gilt übrigens nicht nur hinsichtlich Behinderung/Nichtbehinderung, sondern z.B. auch hinsichtlich des generellen Leistungsvermögens oder der Herkunft), richtig. Nur so kann man mehr Zusammenhalt in der Gesellschaft und mehr Bewusstsein dafür, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Bedingungen und Ansprüche haben und nicht alle auf der Gewinnerseite stehen, schaffen. Die Leistungsstarken müssen bei so einem Schulkonzept übrigens nicht zwangsläufig auf der Strecke bleiben.
sai
Super Power User
Super Power User
Beiträge: 1579
Registriert: Montag 27. Mai 2013, 10:30
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von sai »

j_laurentius hat geschrieben: das Konzept Inklusion an sich in Frage, und ich dachte eigentlich, über das Stadium dieses Weltbilds seien wir hinaus...
Das Inklusion der einzig wahre Weg ist, ist auch in den Fachwissenschaften noch lange nicht ausdiskutiert.
Benutzeravatar
Levi
Super Power User
Super Power User
Beiträge: 1584
Registriert: Dienstag 2. März 2010, 19:55
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: Inklusion - postfaktische Welt?

Beitrag von Levi »

Tibor hat geschrieben:Wenn du als Gesetz normierst, dass Vollinklusion die Regel ist, aber keine Mittel (personell/sachlich) vorhanden sind, um dieses Ziel zu erreichen, dann hast du ein Vollzugsdefizit. Das ist dann auch strukturell im Gesetz angelegt, weil es eben keine Vollinklusion geben kann. Es ist eine Illusion zu glauben, das geistig behinderte Kinder in einer normalen Grundschulklasse beschult werden können, denn weder sind die aktuellen Schulgebäude noch die aktuellen Lehrer entsprechend ausgebildet sind. Erst muss man entsprechend des Staatsziels die Voraussetzungen schaffen, dann kann man die Behörden dazu verpflichten, entsprechende Einschulungen vorzunehmen. Ansonsten hast du eine Inklusion, die eben mehr schadet als nützt, nämlich den Behinderten und den nicht Behinderten Schülern. Das wäre ein Ergebnis entgegen dem Staatsziel.
Ich weiß immer noch nicht, über welche gesetzlichen Vorschriften du sprichst?
Dass die personellen, sächlichen und organisatorischen Ressourcen vorhanden sein müssen, ist selbstverständlich und wird von den Schulgesetzen auch ausdrücklich vorausgesetzt.

Im Unterschied zu den früheren gesetzlichen Regelungen, die im Falle eines besonderen sonderpädagogischen Förderbedarfs des Kindes ("Behinderung") grundsätzlich den Besuch einer Förderschule vorsahen und den Eltern die "Beweislast" dafür auferlegten, dass auch eine Beschulung in einer allgemeinen Schule für ihr Kind möglich ist (einen Nachweis, den diese mangels Einblick in die organisatorischen Gegebenheiten im Regelfall nicht führen konnten), wurde diese "Beweislast" im Zuge der Inklusion nunmehr umgekehrt. Es obliegt heute der Schulleitung und der Schulverwaltung darzulegen und ggf. nachzuweisen, dass eine Beschulung in einer Regelschule nicht möglich ist.

Grundsätzlich ist heute der Elternwille bei der Wahl der Schulform maßgebend.

z. B. § 36 Abs. 4 SchulG Berlin
"Die Erziehungsberechtigten einer Schülerin oder eines Schülers mit sonderpädagogischem Förderbedarf wählen, ob sie oder er eine allgemeine Schule oder eine Schule mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt besuchen soll."
Die Schulleitung kann dem jedoch widersprechen, wenn eine angemessene Förderung des Kindes in der Schule nicht möglich ist.

z. B. § 37 Abs. 3 SchulG Berlin
"Die Schulleiterin oder der Schulleiter der allgemeinen Schule darf eine angemeldete Schülerin oder einen angemeldeten Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf nur abweisen, wenn für eine angemessene Förderung die personellen, sächlichen und organisatorischen Möglichkeiten nicht vorhanden sind. Ist der Schulleiterin oder dem Schulleiter eine Aufnahme nach Satz 1 nicht möglich, so legt sie oder er den Antrag der Schulaufsichtsbehörde vor. Diese richtet zur Vorbereitung ihrer Entscheidung einen Ausschuss ein, der die Erziehungsberechtigten und die Schule anhört. Die Schulaufsichtsbehörde entscheidet im Einvernehmen mit der zuständigen Schulbehörde abschließend auf der Grundlage einer Empfehlung des Ausschusses und unter Beachtung der personellen, sächlichen und organisatorischen Möglichkeiten über die Aufnahme der Schülerin oder des Schülers in die gewählte allgemeine Schule, eine andere allgemeine Schule oder eine Schule mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt."
Die erforderlichen Ressourcen müssen daher nach der gesetzlichen Konstruktion auch heute zwingend vorhanden sein.

Wie ich bereits in meinen obigen Beiträgen ausgeführt habe, liegen die praktischen Probleme mit der Inklusion nicht in den gesetzlichen Vorschriften, sondern in der organisatorischen Umsetzung durch die Verwaltung. Leider sagen nicht alle Schulleitungen auch einmal deutlich "Nein" zu entsprechenden Elternwünschen und vertreten ihren Standpunkt dann auch nachdrücklich gegenüber der Schulverwaltung.

Das Gesetz verlangt nichts Unmögliches. Es weist den Schulleitungen und der Schulverwaltung nur eine deutlich größere Verantwortung als früher zu. Sie müssen ihre Entscheidung, der Abweisung eines Schülers, sachlich begründen und nachdrücklich vertreten. Und das tun sie leider bisweilen nur sehr ungern und halbherzig.
Zuletzt geändert von Levi am Mittwoch 31. Mai 2017, 09:10, insgesamt 1-mal geändert.
Antworten