Unbegrenzte Gefährderhaft?

"Off-Topic"-Forum. Die Themen können von den Usern frei bestimmt werden.
Es gelten auch hier die Foren-Regeln!

Moderator: Verwaltung

Antworten
Benutzeravatar
Levi
Super Power User
Super Power User
Beiträge: 1584
Registriert: Dienstag 2. März 2010, 19:55
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von Levi »

@Tibor und andere
Ich habe den Eindruck, die Diskussion entwickelt sich in eine völlig schiefe Richtung. Es ging mir zu keinem Zeitpunkt um eine Kritik an der Justiz.

Ich darf vorsorglich noch einmal an die Ausgangsfrage erinnern, um die es mir in den Beiträgen allein und ausschließlich geht:
Trifft Aras These zu, dass die Justiz nur ein Spiegel der Gesellschaft ist und die bayerische Justiz deshalb "so ist wie sie ist", "weil der gemeine Bayer so tickt. Der steckt halt lieber einen zu viel als einen zu wenig ins Gefängnis und dann auch lieber ein Jahr zu viel als zu wenig." Gilt also die These "Strafbar ist das, was die Gesellschaft für strafwürdig erachtet."

Oder trifft hier eher mein systemtheoretischer Ansatz zu, nachdem die Justiz ein autopoietisches soziales System ist, dessen Operationen von anderen Systemen nicht durchdrungen wird. Erklärt sich also die bekannte Härte der bayerischen Justiz nicht mit dem Charakter des "gemeinen Bayern" sondern aus dem System der bayerischen Justiz selbst heraus. Gilt also eher die These: "Strafbar ist das, was die Justiz bestraft."

Und um es nochmals ausdrücklich klarzustellen: Ich zweifle nicht im Mindesten die Funktionsfähigkeit und die Selbstheilungskräfte der Justiz an. Ganz im Gegenteil! Diese Funktionsfähigkeit ist ja gerade die Voraussetzung der Annahme eines autopoietischen sozialen Systems. Ich bestreite lediglich, dass die Justiz durch exogene Faktoren gesteuert wird. Aus meiner Sicht wirken hier nur endogene Faktoren.
julée
Fossil
Fossil
Beiträge: 13077
Registriert: Freitag 2. April 2004, 18:13
Ausbildungslevel: Au-was?

Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von julée »

Tibor hat geschrieben:Deshalb dürfte es gerade Aufgabe jedes einzelnen Richters sein zu erkennen, dass absolute Richtigkeit einer Entscheidung weder möglich noch notwendig ist.
m. E. eine zentrale Erkenntnis auch für die Diskussion um die vermeintlich fehlende strafrechtliche Kontrolle der Justiz: Zum einen lässt sich oftmals gar nicht sagen, welche Entscheidung wirklich "richtig" ist; zum anderen gibt es für die Fehler, die überall dort passieren, wo Menschen arbeiten, immer die 2. Instanz, die Sachen ausbügeln kann, die die 1. Instanz - aus welchen Gründen auch immer - "falsch" gemacht hat. Nicht zuletzt sollte man bedenken, dass es gerade streitigen Entscheidungen der Justiz innewohnt, dass häufig irgendjemand mit dem Ergebnis unzufrieden ist und "Rechtsbeugung" schreit.
hlubenow hat geschrieben:Das ist eine schöne Antwort auf die Hetze der Tagesschau gegen die Justizreform in Polen.
Ohne jetzt im Detail geprüft zu haben, ob die wie behauptet tatsächlich die Gewaltenteilung abschafft - wahrscheinlich tut sie es nicht - aber ein vorsichtiger Hinweis darauf, daß die Justiz hierzulande auch nicht völlig unabhängig ist, wäre auch dort angebracht gewesen.
Kleiner Tipp: Wenn man die Lügenpresse-Brille abnimmt, kommt man sehr rasch auf den Gedanken, dass die Tagesschau mitnichten "Hetze" gegen die Justizreform in Polen betreibt, sondern in Polen die Regierung gerade tatsächlich die weitgehende Kontrolle über die Justiz übernimmt - und das kann kein guter Tag für einen Rechtsstaat sein.
"Auch eine stehengebliebene Uhr kann noch zweimal am Tag die richtige Zeit anzeigen; es kommt nur darauf an, daß man im richtigen Augenblick hinschaut." (Alfred Polgar)
Gelöschter Nutzer

Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von Gelöschter Nutzer »

@Levi
Hat das wieder mit Deinem Idealismus und dem Konstruktivismus zu tun, den Du favorisierst? Dass die Justiz nicht derart isoliert abgekoppelt ist, hat doch gerade die (deutsche) Geschichte hinlänglich gezeigt.

Meine Mutter (mit Jahrgang 1935)erzählte mir oft, wie eingeschränkt früher ihre Rechte als Frau, ledige Mutter und Ehegattin war, dass rein rechtlich nur die Unterschrift meines Vaters als rechtsgültig galt. Gerade in der Schweiz gab es lange kein Frauenstimmrecht. Wäre meine Mutter Vollwaisin geworden, hätte sie als Verdingkind arbeiten müssen. Das entsprach der damaligen Gesetzgebung. Und es waren die emanzipierten Frauen, die aufstanden und die Gesetze änderten und für die Gleichberechtigung kämpften. Und es waren vorwiegend Frauen und Mütter, welche die Initiative zur Verwahrung von nicht heilbaren Sexualstraftätern auf die Beine stellten und es bis zur Volksabstimmung brachten, die angenommen wurde, dies gegen den Willen der einschlägigen Rechtsexperten und Forensiker. Es ist also gerade das Gegenteil der Fall: Die Justiz ist ein offenes System und wird durch die Stimmbürger und deren politischen Vertreter in ihrer Richtung bestimmt in Einhaltung von justizimmanenten Regelungen. Klar muss der Volkswille so umgesetzt werden, dass keine anderweitigen Rechte etc. verletzt werden. Man muss sich an bindende Übereinkünfte halten, zumindest innerhalb gegebener Fristen. Ein neues Gesetz muss wie ein Baustein eingepasst werden, ohne Fachwissen geht es nicht. Aber irgendwie muss dem Volkswillen entsprochen werden. Deshalb werden Gesetze laufend geändert.
hlubenow
Super Mega Power User
Super Mega Power User
Beiträge: 5892
Registriert: Dienstag 9. Mai 2006, 23:09

Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von hlubenow »

julée hat geschrieben:
hlubenow hat geschrieben:Das ist eine schöne Antwort auf die Hetze der Tagesschau gegen die Justizreform in Polen.
Ohne jetzt im Detail geprüft zu haben, ob die wie behauptet tatsächlich die Gewaltenteilung abschafft - wahrscheinlich tut sie es nicht - aber ein vorsichtiger Hinweis darauf, daß die Justiz hierzulande auch nicht völlig unabhängig ist, wäre auch dort angebracht gewesen.
Kleiner Tipp: Wenn man die Lügenpresse-Brille abnimmt, kommt man sehr rasch auf den Gedanken, dass die Tagesschau mitnichten "Hetze" gegen die Justizreform in Polen betreibt, sondern in Polen die Regierung gerade tatsächlich die weitgehende Kontrolle über die Justiz übernimmt - und das kann kein guter Tag für einen Rechtsstaat sein.
Wie gesagt wäre eine solche Berichterstattung erheblich glaubhafter, wenn man zugleich einräumte, daß und in welcher Weise auch hierzulande die Justiz von der Regierung nicht völlig unabhängig ist, und wo konkret die Unterschiede zwischen dem System hier und dem nun in Polen eingeführten bestehen.
Wer nur mit dem Finger auf den anderen zeigt (natürlich nur auf das konservativ regierte Land, nicht etwa auf links-grüne Bruderländer), während bekannt ist, daß hier auch nicht alles Gold ist, was glänzt, kann schwerlich überzeugen.
Ich erwarte eine objektive Berichterstattung. Wenn die eines Tages wieder gegeben ist, können wir mal über die Lügenpresse-Brille reden.
Benutzeravatar
[enigma]
Urgestein
Urgestein
Beiträge: 7600
Registriert: Mittwoch 24. Oktober 2012, 06:39

Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von [enigma] »

hlubenow hat geschrieben:
Wie gesagt wäre eine solche Berichterstattung erheblich glaubhafter, wenn man zugleich einräumte, daß und in welcher Weise auch hierzulande die Justiz von der Regierung nicht völlig unabhängig ist, und wo konkret die Unterschiede zwischen dem System hier und dem nun in Polen eingeführten bestehen.
Wer nur mit dem Finger auf den anderen zeigt (natürlich nur auf das konservativ regierte Land, nicht etwa auf links-grüne Bruderländer), während bekannt ist, daß hier auch nicht alles Gold ist, was glänzt, kann schwerlich überzeugen.
Ich erwarte eine objektive Berichterstattung. Wenn die eines Tages wieder gegeben ist, können wir mal über die Lügenpresse-Brille reden.
Das ist mal wieder Unsinn. Zwischen der Situation in Polen und Deutschland bestehen elementare Unterschiede. Ein derartiger Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz findet in Deutschland nicht mal ansatzweise statt, deshalb muss man die Situation in beiden Ländern auch nicht voneinander abgrenzen. Wenn irgendwann mal das BVerfG entmachtet wird, wird die Tagesschau das schon erwähnen, keine Sorge. Dass du angeblich objektive Berichterstattung erwartest, deine Informationen aber zu einem erheblichen Teil von AfD-Youtubevideos beziehst, wissen wir ja schon.
Smooth seas don`t make good sailors
Benutzeravatar
Levi
Super Power User
Super Power User
Beiträge: 1584
Registriert: Dienstag 2. März 2010, 19:55
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von Levi »

Candor hat geschrieben:@Levi
Hat das wieder mit Deinem Idealismus und dem Konstruktivismus zu tun, den Du favorisierst?
Ja, das hat es. Die Systemtheorie (Stichwort: Niklas Luhmann) ist die verwaltungswissenschaftliche Variante des Konstruktivismus. Sie ist im Übrigen die Anwendung des Konstruktivismus, die für mich berufspraktisch die größte Bedeutung hat.

Eine entscheidende Voraussetzung der Systemtheorie ist dabei die Erkenntnis, dass sich ein System prinzipiell gegen seine Umwelt abgrenzt. Also eine Differenz System/Umwelt aufbaut.

Eine weitere wesentliche Voraussetzung von Systemen ist ihre Fähigkeit, sich selbst (wieder-)herzustellen, also die Autopoiesis. Systeme schaffen (konstruieren) sich immer wieder selbst.

Wie das praktisch geschieht, kannst du beispielsweise prototypisch an den unmittelbar vorangehenden Beiträgen von @Tibor und @julée sehen.
julée hat geschrieben:
Tibor hat geschrieben:Deshalb dürfte es gerade Aufgabe jedes einzelnen Richters sein zu erkennen, dass absolute Richtigkeit einer Entscheidung weder möglich noch notwendig ist.
m. E. eine zentrale Erkenntnis auch für die Diskussion um die vermeintlich fehlende strafrechtliche Kontrolle der Justiz: Zum einen lässt sich oftmals gar nicht sagen, welche Entscheidung wirklich "richtig" ist; zum anderen gibt es für die Fehler, die überall dort passieren, wo Menschen arbeiten ,immer die 2. Instanz, die Sachen ausbügeln kann, die die 1. Instanz - aus welchen Gründen auch immer - "falsch" gemacht hat.
Das ist Systemtheorie in ihrer reinsten Form:

Zunächst wird im Sinne des strengen Positivismus die naturrechtliche Prämisse verworfen, dass es so etwas wie ein "richtiges Recht" geben könnte. Wenn es jedoch kein "richtiges Recht" gibt, kann es auch niemanden von außerhalb des Systems geben, der die Richtigkeit von Entscheidungen bewerten kann. Eine Klausurfrage, auf die es keine richtige Antwort gibt, kann auch kein Lehrer benoten. Das System Justiz grenzt sich also durch die positivistische Setzung ("Es gibt kein 'richtiges Recht'.) gegenüber seiner Umwelt ab.

Im zweiten Schritt erfolgt dann die Autopoiesis, also die Selbst(wieder)herstellung des Systems. Wurde zuvor dekretiert, dass es so etwas wie eine "richtige" Entscheidung gar nicht geben könne, so wird plötzlich - scheinbar widersprüchlich - eingeräumt, dass doch "Fehler" passieren (etwas "falsch" gemacht wird) und diese "ausgebügelt" werden können und müssen. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich jedoch im Lichte der Systemtheorie sofort auf. Denn es handelt sich (nur) um systemimmanente Fehler, also um Fehler aus Sicht des Systems, die das System auch wiederum selbst (2. Instanz) korrigieren kann. Das System repariert sich also selbst.

Besser kann man konstruktivistische Systemtheorie "in freier Wildbahn" kaum beobachten.
markus87
Super Mega Power User
Super Mega Power User
Beiträge: 5042
Registriert: Freitag 6. August 2010, 23:30

Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von markus87 »

Wo hlubenow Recht hat: In den Medien hat kaum jemand verstanden, was demokratische Legitimation von Richtern eigentlich bedeutet.

Gesendet von meinem SM-G950F mit Tapatalk
Benutzeravatar
Ara
Urgestein
Urgestein
Beiträge: 8343
Registriert: Donnerstag 11. Juni 2009, 17:48
Ausbildungslevel: Schüler

Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von Ara »

Das trifft aber doch gerade auf das materielle Strafrecht alles nicht zu? Es ist nicht wie im Zivilrecht oder Verwaltungsrecht, wo sich Leute vor ein leeres Blatt gesetzt haben und sich gedacht haben, "lass mal das Verhältnis zwischen Gegenständen und Menschen regeln". Das gesamte Strafrecht (und auch die Sanktionssysteme außerhalb des Strafrechts) ist doch kein "Konstrukt" wie zum Beispiel das BGB. Es ist ein fließendes Regelwerk was einfach nur die "schwersten Vergehen" der jeweiligen Gesellschaft verschriftlicht hat. Die "Systematik" des StGB ist, vorsichtig ausgedrückt, auch sehr überschaubar. Das sind einfach Normen die sinnig in Kapiteln eingeordnet wurden. Thats it... No Magic.

Und auch dein "Es gibt keine richtige Entscheidung" und dann wird trotzdem gesagt "es wird etwas falsch gemacht" verkennt völlig, dass es sich auf verschiedene Gegenstände bezieht. Wenn jemand sagt es gibt im Strafrecht "keine richtige Entscheidung" dann betont er gerade, dass materielle Straftatbestände Ausfluss der jeweiligen Gesellschaft sind. Es ist nicht "richtig oder falsch", ob X unter Strafe steht. Das ist eine gesellschaftliche Entscheidung, in was für einer Welt man Leben möchte.

Fehlerhaft ist ein Urteil aber gerade nicht, weil es grundsätzlich und materiellrechtlich falsch ist es unter Strafe zu stellen. Fehlerhaft ist ein Urteil, weil formelles Recht nicht eingehalten wurde. Daher gibt es sehr wohl "Fehlurteile", diese sind aber formell fehlerhaft bei der konkreten Anwendung. Mit dem abstrakten materiellrechtlichen Straftatbestand als solches hat dies nicht viel zu tun. Auch die Revisionsinstanz prüft ja nicht die Rechtmäßigkeit des Straftatbestandes (mal von der allgemeinen Pflicht der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit abgesehen), sondern prüft lediglich, ob formelles und materielles Recht richtig angewandt wurde.

Auch hier können wir wieder den Homosexuellenparagraph beibringen: Die Urteile in den 70er Jahren waren doch weder Fehlerhaft noch "Fehlurteile"? Der "Fehler" war, dass die Gesellschaft die Homosexualität als strafwürdig ansah.

Deinen "Konstruktivismus" kannst du vielleicht im Zivilrecht und Verwaltungsrecht anwenden, im materiellen Strafrecht kommst du damit nicht weit. Du kannst dem Bürger möglicherweise ein total fancy und durchdachtes Baurecht oder Gesellschaftsrecht auferlegen. Wenn du aber anfängst der Gesellschaft von ihnen gewünschte Straftatbestände vorzuenthalten oder gar Straftatbestände einzuführen, die von der Gesellschaft abgelehnt werden, wirst du nicht weit kommen. Die Leute werden sich schlicht nicht dran halten (Siehe BtMG oder Filesharing) und deine Norm ist relativ witzlos. Du erreichst deinen gewünschten Erfolg (Verhaltensanpassung der Gesellschaft) nämlich nicht. Dann kannst du den Straftatbestand auch wieder streichen.

Von daher bleib ich auch am Ende unseres Austausches dabei. Das Strafrecht bildet schlicht unsere Gesellschaft wieder. Wandelt sich die Gesellschaft, dann wandelt sich das Strafrecht und nicht vice versa. Und gerade dies erklärt auch die regionalen Unterschiede. Die Strafjustiz ist in den Ländern "strenger", in denen grundsätzlich in der Gesellschaft mehr Wert auf "Ordnung" und "Anpassung an gesellschaftliche Erwartungen" gelegt wird.
Die von der Klägerin vertretene Auffassung, die Beeinträchtigung des Wohngebrauchs sei durch das Zumauern der Fenster nur unwesentlich beeinträchtigt, ist so unverständlich, dass es nicht weiter kommentiert werden soll. - AG Tiergarten 606 C 598/11
Benutzeravatar
Levi
Super Power User
Super Power User
Beiträge: 1584
Registriert: Dienstag 2. März 2010, 19:55
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von Levi »

@Ara

Merkst du nicht, dass du dir hier selbst widersprichst?

Zunächst betonst du ausdrücklich, dass das Strafrecht "kein Konstrukt" sei, sondern "einfach nur Normen die sinnig in Kapiteln eingeordnet wurden". Doch schon im nächsten Absatz schreibst du dann, dass "materielle Straftatbestände Ausfluss der jeweiligen Gesellschaft sind. Es ist nicht "richtig oder falsch", ob X unter Strafe steht. Das ist eine gesellschaftliche Entscheidung, in was für einer Welt man Leben möchte". Plötzlich sind die Straftatbestände also doch wieder nicht naturrechtlich vorgegeben, sondern sozial konstruiert.

Du musst dich hier schon entscheiden: gibt es ein "richtiges Recht" lm Strafrecht oder gibt es das nicht?

Aber ich verstehe deine argumentativen Schwierigkeiten natürlich. Denn letztendlich sind wir wieder auf dem Stand der klassischen "Luhmann-Habermas-Debatte" aus den 1970er Jahre angekommen: „Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie“. Nachdem Habermas und Luhmann hier keinen Konsens gefunden haben, dürften wohl auch wir daran scheitern. Hier der "Sozialtechnologe" (Levi) dort der "Gesellschaftstheoretiker" (Ara). Damit werden wir - so wie seinerzeit Habermas und Luhmann auch - leben müssen.
Gelöschter Nutzer

Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von Gelöschter Nutzer »

Luhmann ist nur eine mögliche Sicht auf die Gesellschaft. Man sollte solche Theorien nicht gleich missionarisch zu absoluten Richtwerten erklären und den Eindruck vermitteln, eine Gesellschaft funktioniere nur unter solchen Optionen. Das wäre sehr einseitig gedacht und verkennt die Realität. Es ist ein einzelner Aspekt, doch gibt es nicht nur bei den Professoren unterschiedliche Haltungen dazu, sondern die Realität selbst bewegt sich immer zwischen zwei gegensätzlichen Polen, auf der eine Seite erhalten Systeme mit zunehmder Professionalisierung eine systemimmanente Eigendynamik, die von außen unter anderem als Fachidiotentum bezeichnet wird, doch hängen solche Systeme an der Gesellschaft wie Äpfel am Baum.
Benutzeravatar
Ara
Urgestein
Urgestein
Beiträge: 8343
Registriert: Donnerstag 11. Juni 2009, 17:48
Ausbildungslevel: Schüler

Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von Ara »

Du vermengst wieder "Strafrecht" (der Bereich der eine Strafe im juristischen Sinne nach sich zieht) mit von der Gesellschaft sich selbst auferlegten Verhaltensregeln. Die Straftatbestände sind eine Verschriftlichung der "wichtigsten" und "sozialschädlichsten" Verstöße gegen die selbst auferlegten Verhaltensregeln.

Oder um es vielleicht von der anderen Seite zu sehen: Das materielle Strafrecht ist deskriptiv und nicht konstitutiv.

Natürlich ist jede Gesellschaft irgendwo ein "Konstrukt", welches sich durch Übung oder Tradition bestimmte "Regeln" gegeben hat. Dies ist aber schwer bis gar nicht zu beeinflussen und entwickelt sich überall auf der Welt anders. Von "naturrechtlich Vorgegeben" hat keiner was gesagt.

Es könnte z.B. in Deutschland einen Straftatbestand geben, der das Verweigern eines Handschlages unter Strafe stellt (wird im Disziplinarrecht ja teilweise sogar "sanktioniert" wie wir heute in der Presse lesen können). Das wäre eine Verschriftlichung einer gesellschaftlichen Norm.

Nach deiner Logik könnte ich aber auch einen Straftatbestand erschaffen, der den Handschlag unter Strafe stellt und stattdessen ein Verbeugen wie in Japan vorschreibt. Dadurch würde ich nach deiner Logik die Gesellschaft verändern können. Ich garantiere dir, dieses Vorhaben wird grandios scheitern. Solch eine Rechtsetzung kannst du in einer Diktatur mit Gewalt vielleicht durchsetzen (aber siehe oben, selbst die Nazis hatten da ihre Probleme), aber nicht in einem rechtsstaatlichen System wie in Deutschland.

Stattdessen ist es besser, dass du die Gesellschaft beeinflusst, um deinen gewünschten Straftatbestand zu erreichen. Siehe zum Beispiel die Einführung der "Sexuellen Belästigung" im StGB. Es ist doch nicht so, dass im November 2016 jemand meinte "Prograbschen ist nicht so geil, das müssen wir in der Gesellschaft abstellen" und dann die Norm geschaffen hat.

Ich bin ja nun auch schon einige Jährchen auf der Welt und habe gelernt, dass man anderen Menschen nicht gegen ihren Willen an den Hintern fässt. Ganz ohne strafrechtliche Norm. In den letzten Jahren ist die "sexuelle Selbstbestimmung" ein immer wichtigeres Gut geworden in der Gesellschaft und der neue § 184i StGB ist schlicht ein Ausfluss davon. Wenn ich mit meinen Eltern drüber rede, ist ihr Stand häufig immer noch "So ein bisschen Pograbschen, soll sich mal nicht so anstellen". So war der gesellschaftliche Konsens in den 50er und 60er Jahren.
Die von der Klägerin vertretene Auffassung, die Beeinträchtigung des Wohngebrauchs sei durch das Zumauern der Fenster nur unwesentlich beeinträchtigt, ist so unverständlich, dass es nicht weiter kommentiert werden soll. - AG Tiergarten 606 C 598/11
julée
Fossil
Fossil
Beiträge: 13077
Registriert: Freitag 2. April 2004, 18:13
Ausbildungslevel: Au-was?

Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von julée »

Levi hat geschrieben:
julée hat geschrieben:
Tibor hat geschrieben:Deshalb dürfte es gerade Aufgabe jedes einzelnen Richters sein zu erkennen, dass absolute Richtigkeit einer Entscheidung weder möglich noch notwendig ist.
m. E. eine zentrale Erkenntnis auch für die Diskussion um die vermeintlich fehlende strafrechtliche Kontrolle der Justiz: Zum einen lässt sich oftmals gar nicht sagen, welche Entscheidung wirklich "richtig" ist; zum anderen gibt es für die Fehler, die überall dort passieren, wo Menschen arbeiten ,immer die 2. Instanz, die Sachen ausbügeln kann, die die 1. Instanz - aus welchen Gründen auch immer - "falsch" gemacht hat.
Das ist Systemtheorie in ihrer reinsten Form:

Zunächst wird im Sinne des strengen Positivismus die naturrechtliche Prämisse verworfen, dass es so etwas wie ein "richtiges Recht" geben könnte. Wenn es jedoch kein "richtiges Recht" gibt, kann es auch niemanden von außerhalb des Systems geben, der die Richtigkeit von Entscheidungen bewerten kann. Eine Klausurfrage, auf die es keine richtige Antwort gibt, kann auch kein Lehrer benoten. Das System Justiz grenzt sich also durch die positivistische Setzung ("Es gibt kein 'richtiges Recht'.) gegenüber seiner Umwelt ab.

Im zweiten Schritt erfolgt dann die Autopoiesis, also die Selbst(wieder)herstellung des Systems. Wurde zuvor dekretiert, dass es so etwas wie eine "richtige" Entscheidung gar nicht geben könne, so wird plötzlich - scheinbar widersprüchlich - eingeräumt, dass doch "Fehler" passieren (etwas "falsch" gemacht wird) und diese "ausgebügelt" werden können und müssen. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich jedoch im Lichte der Systemtheorie sofort auf. Denn es handelt sich (nur) um systemimmanente Fehler, also um Fehler aus Sicht des Systems, die das System auch wiederum selbst (2. Instanz) korrigieren kann. Das System repariert sich also selbst.

Besser kann man konstruktivistische Systemtheorie "in freier Wildbahn" kaum beobachten.
Es ist immer schön, wenn man Feinheiten ignoriert: Es ging mir vorrangig um die Frage einer strafrechtlichen Sanktionierung "falscher" Entscheidungen, deren häufiges Fehlen hier ja im Sinne der Krähentheorie interpretiert wurde:
Die Feststellung, dass etwas "Rechtsbeugung" ist, setzt die Feststellung voraus, dass eine Entscheidung vom Recht abweicht. Was im Sinne des Rechts wirklich "richtig" ist, lässt sich oftmals (nicht: "immer" oder "stets") nicht mit letzter Gewissheit sagen - und zwar unabhängig davon, ob man innerhalb oder außerhalb des Systems steht. Wenn zu einem juristischen Problem Meinungen A, B und C vertreten werden, dann mag der BGH irgendwann Meinung A für überzeugend und zutreffend erklären, aber das heißt noch lange nicht, dass Meinungen B und C falsch waren und selbst Meinung D mag abwegig und unverständlich, aber immer noch vertretbar gewesen sein. Wenn aber unterschiedliche Meinungen vertretbar sind, dann gibt es ein Spektrum an "richtigen" Entscheidungen, selbst wenn aus Warte des Beurteilenden manche richtiger als andere scheinen. Hat die Justiz an dieser Stelle das letzte Wort? Nein, denn es steht dem Gesetzgeber jederzeit zu, Meinung A den Boden zu entziehen und Meinung D für allgemeinverbindlich zu erklären; allenfalls das BVerfG, der EuGH und der EGMR können den Gesetzgeber hier ausbremsen. Aber solange dies nicht geschieht, sind Meinungen A-K vertretbar, Meinungen L-R fragwürdig und erst Meinungen S-Z offenkundig falsch.
Was die systemimmanente Korrektur angeht, so muss man unterscheiden: Das eine sind rein menschliche Fehler: Gelegentlich ist die Entscheidung schon "falsch", weil man in tatsächlicher Hinsicht ein Detail übersehen oder in seiner Bedeutung verkannt hat; manchmal mag man auch aufgrund eines reinen "Denkfehlers" zu Meinung L gelangen. Wenn das geschehen ist, dann kann die 2. Instanz das in aller Regel problemlos beheben. Ein Bedürfnis nach einer strafrechtlichen Sanktionierung besteht insoweit nicht, weil eine Strafandrohung nicht geeignet wäre, derartige Fehler zu verhindern, und weil man zugleich keinem mehr ruhigen Gewissens empfehlen könnte, in der Justiz tätig zu sein (Wer das anders sehen möchte, möge seine eigene Unfehlbarkeit selbstkritisch hinterfragen.). Das andere sind vermeintliche "Fehlentscheidungen" à la "Meinung A ist aber richtiger als Meinung (...)". Es ist das Privileg der höheren Instanzen, Dinge anders sehen zu wollen, eine gewisse Einheitlichkeit der Rechtsprechung herzustellen und im Ergebnis "Meinung A" zur Antwort des "Systems" zu erheben. Aber auch hier gilt: einerseits ist nicht jede abweichende Entscheidung tatsächlich "falsch" und andererseits steht die "Richtigkeit" von Meinung A zur Disposition des Gesetzgebers.

Um den Schwenk zur Bayern-Diskussion zu nehmen: Die Justiz bewegt sich auch als System nicht im völlig luftleeren Raum, sondern tritt auch mit der Gesellschaft in eine Interaktion. Was passiert, wenn die Justiz hiervon losgelöst die "richtige" Entscheidung trifft, konnte man sehr eindrücklich am Clash of Cultures zwischen BVerfG und Bayern sehen: http://www.sueddeutsche.de/politik/jahr ... -1.2613635
"Auch eine stehengebliebene Uhr kann noch zweimal am Tag die richtige Zeit anzeigen; es kommt nur darauf an, daß man im richtigen Augenblick hinschaut." (Alfred Polgar)
Gelöschter Nutzer

Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von Gelöschter Nutzer »

@julée
An die heftigen Kreuz-in-Schule-Diskussionen 1995 kann ich mich noch gut erinnern, das schwabbte bis in die Schweiz über, obwohl wir in der Schule keine Kreuze aufgehängt sahen, zumindest nicht in meinem protestantischen Kanton. Mein Vater starb in dem Jahr. War schon sehr surreal, dieser Kreuz-Medienrummel, so wie 20 Jahre später die Minarett-Initiative in der Schweiz. Die strengen Bebauungsvorschriften hätten sowieso nie zugelassen, dass die Minarette wie Pilze aus dem Boden schießen, so wie die Rechtspopulisten es den Wählern medienträchtig weismachten. Und es wurde vom wählenden Volk letzlich angenommen. Tja, auch Verrücktheiten werden in die Gesetzgebung aufgenomnen, was zeigt, wie wenig autonom die Justiz als System besteht.
Benutzeravatar
Tibor
Fossil
Fossil
Beiträge: 16441
Registriert: Mittwoch 9. Januar 2013, 23:09
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von Tibor »

Soviel zur Weisungsgebundenheit der Verfolgungsbehörden, wenn Verhältnismäßigkeit nicht beachtet wird:

http://www.pesterlloyd.net/html/1429orbanhandydieb.html
"Just blame it on the guy who doesn't speak English. Ahh, Tibor, how many times you've saved my butt."
Benutzeravatar
Levi
Super Power User
Super Power User
Beiträge: 1584
Registriert: Dienstag 2. März 2010, 19:55
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: Unbegrenzte Gefährderhaft?

Beitrag von Levi »

Ara hat geschrieben:Du vermengst wieder "Strafrecht" (der Bereich der eine Strafe im juristischen Sinne nach sich zieht) mit von der Gesellschaft sich selbst auferlegten Verhaltensregeln. Die Straftatbestände sind eine Verschriftlichung der "wichtigsten" und "sozialschädlichsten" Verstöße gegen die selbst auferlegten Verhaltensregeln.

Oder um es vielleicht von der anderen Seite zu sehen: Das materielle Strafrecht ist deskriptiv und nicht konstitutiv.
Ich vermenge hier überhaupt nichts. Wir haben nur diametral unterschiedliche Auffassungen vom Begriff des Rechts.

Für mich ist das materielle Strafrecht sehr wohl konstitutiv. Es ordnet (stark vereinfacht gesagt) eine Pflicht der Justiz an, ein bestimmtes Verhalten zu bestrafen. Adressaten der Norm sind nicht die Bürger sondern die "Amtsträger" in der Justiz. Der Gesetzgeber gibt diesen den "Befehl": Wenn irgendjemand x tut, dann ergreife die Sanktion y.

Die Wirkung auf die Mitglieder der Gesellschaft ist insoweit nur ein Reflex. Sie wissen (und sollten sich darauf verlassen können), dass sich die Amtsträger in einer bestimmten Weise verhalten (sie z. B. mit y bestrafen, wenn sie x tut).

Dieser Reflex ist unabhängig vom Inhalt der Norm. Wie die Erfahrung zeigt, können sich Menschen auf alle möglichen Regelungen einstellen (ganz sicherlich auch auf eine vorgeschriebene Verbeugung; mit dem Hitlergruß hat das seinerzeit ja auch funktioniert). Entscheidend ist allein, ob die Amtsträger den Sanktionsbefehl des Gesetzes verlässlich ausführen oder nicht, ob die Norm also wirksam wird oder nicht.

Dass in einer Demokratie häufig andere Befehle an die Amtsträger ergehen werden als in einer Diktatur ist selbstverständlich. Das ändert aber nichts daran, dass die Vorschriften des materiellen Strafrechts konstitutiv sind (oder es zumindest von ihrer Intention her sein sollen). Sie beschreiben nicht nur das Verhalten der Justizangehörigen sondern sie versuchen es zu steuern.
Antworten