Unbegrenzte Gefährderhaft?

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Tibor
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Re: Unbegrenzte Gefährderhaft?

Beitrag von Tibor »

Das ist mir zu technisch gedacht. Natürlich wird das prozessuale Recht durch Polizei, StA und Justiz verwirklicht, aber nur wenn vorher der Verpflichtete sich entgegen des Normbefehls verhalten hat. Strafrecht hat auch nicht nur eine Reflexwirkung auf den Bürger; das verkennt den Sinn und Zweck des Strafrechts. Natürlich sind die geschriebenen Strafrechtsnormen konstitutiv, weil es ohne Gesetz schon nach der Verfassung keine Strafe geben kann. Ich denke das ist unstrittig im Staat des Grundgesetzes.

Gerade deshalb ist der Sinn und Zweck der Strafe primär auf den Bürger gerichtet; als Sollensnorm. Er soll die Normen kennen und die dort beschriebenen Verhaltensweisen gerade nicht verwirklichen. Zugleich erfordert dies, dass unter Strafe gestellt wird, was die Gesellschaft für besonders ablehnungswürdig hält. Die Tatbestände, die die Gesellschaft ablehnt sollen unter Strafe stehen. Zugleich gibt es auch Straftatbestände, die die Funktionsfähigkeit des Staates selbst sicherstellen soll. Diese Sollensforderungen des Staates werden durch Exekutive/Judikative sichergestellt. Der Bürger muss im Justizstaat davon ausgehen können, dass im Fall des Fehlverhaltens das vorgesehene Verfahren einsetzt und im schlimmsten Fall bis zur Strafvollstreckung führt. Zu sagen, dass die technische Norm wegen der ultima ratio Umsetzung durch den Staat nur als Reflex auf den Bürger wirkt, verkennt diese besondere Sollenssteuerung des Strafrechts, die es so in anderen Rechtsgebieten nicht gibt.
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Levi
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Re: Unbegrenzte Gefährderhaft?

Beitrag von Levi »

Tibor hat geschrieben:Das ist mir zu technisch gedacht. Natürlich wird das prozessuale Recht durch Polizei, StA und Justiz verwirklicht, aber nur wenn vorher der Verpflichtete sich entgegen des Normbefehls verhalten hat. Strafrecht hat auch nicht nur eine Reflexwirkung auf den Bürger; das verkennt den Sinn und Zweck des Strafrechts. ...

Gerade deshalb ist der Sinn und Zweck der Strafe primär auf den Bürger gerichtet; als Sollensnorm. Er soll die Normen kennen und die dort beschriebenen Verhaltensweisen gerade nicht verwirklichen. Zugleich erfordert dies, dass unter Strafe gestellt wird, was die Gesellschaft für besonders ablehnungswürdig hält. Die Tatbestände, die die Gesellschaft ablehnt sollen unter Strafe stehen. ... Zu sagen, dass die technische Norm wegen der ultima ratio Umsetzung durch den Staat nur als Reflex auf den Bürger wirkt, verkennt diese besondere Sollenssteuerung des Strafrechts, die es so in anderen Rechtsgebieten nicht gibt.
Dieses Verständnis geht m. E. an der Lebenswirklichkeit vorbei. Selbst ich als Volljurist kann nicht einmal ansatzweise alle Straftatbestände überblicken. Schon im StGB gibt es etliche Vorschriften, die ich noch nie gelesen - geschweige denn verstanden - habe. Im Nebenstrafrecht dürfte sich meine Normkenntnis sogar nur auf einen kleinen Bruchteil der Tatbestände erstrecken. Ich denke, den meisten Juristen, die nicht schwerpunktmäßig strafrechtlich tätig sind, dürfte es ähnlich gehen.

Wie ein (normaler) Bürger "die Normen kennen und die dort beschriebenen Verhaltensweisen gerade nicht verwirklichen" können sollte, erschließt sich mir nicht? Das halte ich selbst als nur theoretische Annahme für unzulässig.

Sollte es sich - wie von dir angenommen - daher tatsächlich so verhalten, dass der Verpflichtete der strafrechtlichen Normen der Bürger ist und sich der Strafgrund daraus ergibt, dass sich "der Verpflichtete entgegen des Normbefehls verhalten hat", würde von ihm etwas praktisch Unmögliches verlangt. Er müsste einem Normbefehl gehorchen, den er im Einzelnen so überhaupt nicht kennt.

Sowohl nach dem klaren Wortlaut der Vorschriften wie auch nach ihrer praktischen Umsetzbarkeit erscheint es daher wesentlich naheliegender anzunehmen, dass sich - auch im Strafrecht - der Normbefehl an die zuständigen Amtsträger richtet und nicht an den einzelnen Bürger.
Tibor hat geschrieben:Natürlich sind die geschriebenen Strafrechtsnormen konstitutiv, weil es ohne Gesetz schon nach der Verfassung keine Strafe geben kann. Ich denke das ist unstrittig im Staat des Grundgesetzes.
Das ist weder "natürlich" noch "unstrittig".
@Ara vertritt hier z. B. eine andere Auffassung (deskriptiv) und seine Auffassung ist keineswegs abwegig. Auch wenn ich seinen Ansatz nicht teile, so halte ich ihn doch für absolut legitim und er ist (insbesondere von naturrechtlicher Seite) auch weit verbreitet.
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Tibor
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Unbegrenzte Gefährderhaft?

Beitrag von Tibor »

Levi hat geschrieben: Wie ein (normaler) Bürger "die Normen kennen und die dort beschriebenen Verhaltensweisen gerade nicht verwirklichen" können sollte, erschließt sich mir nicht? Das halte ich selbst als nur theoretische Annahme für unzulässig.
Doch, weil wir davon ausgehen, dass die konstitutiven Straftatbestände nur die Verschriftlichung der akzeptierten verbotenen Verhaltensweisen sind. Es gibt also einen erwarteten und tatsächlichen Gleichlauf zwischen Norm, Rechtsnorm und gesetztem Recht. Jeder weiß, dass er niemanden umbringen, betrügen, beleidigen darf oder das er nicht sein Altöl in den See leitet, Steuern hinterzieht oder den Hitlergruß zeigt. Geschäftsführer wissen auch, dass sie Insolvenz anmelden müssen, wenn es soweit ist, nicht die Handelsbücher frisieren oder Beamte bestechen. Nur die wenigsten Bürger kennen die abstrakt verschriftliche Gesetzesnorm. Sie gehen aber davon aus, dass die Verhaltensweise verboten ist, also unter Strafe steht bzw. zumindest ein Bußgeld nach sich zieht. Da die Justiz immer wieder in diesen Bereichen tatsächlich verfolgt und bestraft, bewahrheitet sich auch immer wieder die Erkenntnis des Verbots, ohne dass der Bürger die gesetzte Norm gelesen hat. Probleme haben wir ja nur, wenn eine vermeintlich verbotene Verhaltensweise dann doch nicht strafbar ist bzw. nur gesellschaftlich geächtet wird oder schlimmer, wenn ein Verhalten unter Strafe steht, von dem der Betroffene "Täter" keine Kenntnis hatte; dafür gibt es nicht ohne Grund den Verbotsirrtum. Dass dies so zutrifft wird auch ersichtlich an Reisen in das Ausland; jeder Autofahrer erkundigt sich nach Geschwindigkeitsbegrenzungen und über besondere Verbotstatbestände wird gern auch schon zu Schulzeiten berichtet (Kaugummiverbot in Singapur; Todesstrafe bei Drogendelikten hier und da; Autofahrverbot für Frauen in Saudi-Arabien).
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Levi
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Re: Unbegrenzte Gefährderhaft?

Beitrag von Levi »

@Tibor
Beantworte dir ehrlich die Frage: Ist für dein Verhalten tatsächlich entscheidend, was in irgendwelchen (Straf-)Gesetzen steht, oder nicht vielmehr das beobachtbare repressive Verhalten der Amtsträger? Gerade im Ausland ist das m. E. besonders offensichtlich. Man verhält sich gemeinhin so, dass man Konflikte mit der Staatsmacht vermeidet, ganz unabhängig davon, ob das Verhalten nun tatsächlich nach einem örtlichen Strafgesetz (das man im Zweifel überhaupt nicht kennt) strafbar ist oder nicht.

Wenn die Staatsmacht ein Verhalten nicht verfolgt, interessiert sich kein Mensch dafür, ob es in irgendeinem Gesetz unter Strafe gestellt ist oder nicht. Und wenn sie es verfolgt, wird man das Verhalten tunlichst unterlassen, auch wenn es keine entsprechende gesetzliche Sanktionsnorm gibt.

Zumindest meine Verhaltenssteuerung richtet sich nicht nach irgendwelchen abstrakten Rechtsnormen, sondern nach der Verfolgungserwartung durch die Obrigkeit. In einer bayerischen Kleinstadt würde ich z. B. niemals unmittelbar vor einem Polizeiauto mit dem Fahrrad über eine rote Ampel fahren. In Berlin dagegen weiß ich, dass sich normalerweise niemand für so etwas interessiert.

Die staatliche Rechtsordnung funktioniert nicht über irgendwelche schön geschriebenen Worte sondern allein wegen deren tatsächlich erwarteten Durchsetzung mit Zwang.
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Tibor
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Re: Unbegrenzte Gefährderhaft?

Beitrag von Tibor »

Natürlich richten die Wenigsten ihr Verhalten am Wortlaut des gesetzten Rechts aus; sie richten ihr Verhalten vielmehr danach aus, dass es gesetzes Recht gibt. Klassisches Beispiel ist die Kenntnis von Mord und Totschlag. Hier weiß die Gesellschaft, dass es diese Straftatbestände gibt, auch wenn sie landläufig völlig falsch wiedergegeben werden: Als Mord wird die Tötung mit Absicht gekennzeichnet und das Gegenstück ist Totschlag als Tötung im Affekt oder gar als fahrlässige Tötung. Das Verhalten richtet sich hier sogar an einem vermeintlichen Gesetzeswortlaut aus. Und nur weil die Berliner alle bei Rot über die Straße gehen, wissen doch alle, dass dies verboten ist. Du unterscheidest doch selbst wieder zwischen dem Wissen des Verbots und dem Wissen der Nichtsanktionierung im Einzelfall. Durch die Nichtsanktionierung entfällt in Berlin nicht das Verbot.
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Ara
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Re: Unbegrenzte Gefährderhaft?

Beitrag von Ara »

Levi ich glaube du steckst viel zu sehr im Verwaltungsrecht drin. Strafrecht ist aber kein Verwaltungsrecht.

Die Straftatbestände sind gerade keine Verhaltensanweisungen an die Justiz oder den Strafverfolgungsbehörden. Sie sind an die Bürger gerichtet, wie Tibor ja schon erklärte wissen Bürger auch meist was sie nicht dürfen. Darum auch das strenge Bestimmtheitsgebot und Analogieverbot im Strafrecht.

Die Strafjustiz ist eine unerwünschte Nebenfolge wenn etwas schiefgelaufen ist. Das perfekte Strafrecht kommt ganz ohne Strafjustiz aus. Anders als zB im Baurecht was man auch braucht wenn etwas problemlos klappt, ist das Strafrecht immer nur relevant, wenn etwas schiefgelaufen ist.

Man kann sogar noch plakativer sagen: Das Strafrecht sagt gar nicht was verboten ist, das Strafrecht legt nur die Strafe fest. Denn nur wenn man Strafen will (was der Staat ja gar nicht will), braucht man die Norm überhaupt.
Die von der Klägerin vertretene Auffassung, die Beeinträchtigung des Wohngebrauchs sei durch das Zumauern der Fenster nur unwesentlich beeinträchtigt, ist so unverständlich, dass es nicht weiter kommentiert werden soll. - AG Tiergarten 606 C 598/11
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Levi
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Re: Unbegrenzte Gefährderhaft?

Beitrag von Levi »

Tibor hat geschrieben: Und nur weil die Berliner alle bei Rot über die Straße gehen, wissen doch alle, dass dies verboten ist. Du unterscheidest doch selbst wieder zwischen dem Wissen des Verbots und dem Wissen der Nichtsanktionierung im Einzelfall. Durch die Nichtsanktionierung entfällt in Berlin nicht das Verbot.
Allein das Wissen um die Existenz eines Verbotes bedeutet aber noch nicht, dass es irgendeine Relevanz für das Leben der Menschen hat. Im Laufe der Menschheitsgeschichte wurden ungezählte Gebote und Verbote geschrieben, von denen zahlreiche auch heute noch bekannt sind. Trotzdem richtet sich niemand nach dem 12-Tafel-Gesetz oder dem Sachsenspiegel und in Deutschland auch nur die wenigsten Menschen nach dem CIC, der Scharia oder der Tora. Warum? Sicher nicht wegen des fehlenden Wissens um die entsprechenden Verbote, sondern deswegen, weil sie gemeinhin von niemandem durchgesetzt werden. Ist dies anders, z. B. hinsichtlich der Scharia in bestimmten Familien, werden sie auch sofort wieder relevant und verhaltenssteuernd.

Ansonsten gilt: das Verbot bei Rot über die Straße zu gehen, hat in Berlin etwa dieselbe Wirksamkeit wie das 12-Tafel-Gesetz.
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Levi
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Re: Unbegrenzte Gefährderhaft?

Beitrag von Levi »

Ara hat geschrieben:Man kann sogar noch plakativer sagen: Das Strafrecht sagt gar nicht was verboten ist, das Strafrecht legt nur die Strafe fest. Denn nur wenn man Strafen will (was der Staat ja gar nicht will), braucht man die Norm überhaupt.
Dem kann ich uneingeschränkt zustimmen. 

Allerdings ist mir unverständlich, wie du auf dieser Grundlage zu der Auffassung gelangen kannst, dass Adressat der strafrechtlichen Normen der Bürger ist und nicht die Strafverfolgungsbehörden? :-k
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Tibor
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Re: Unbegrenzte Gefährderhaft?

Beitrag von Tibor »

Also Levi, natürlich geht es um Kenntnis geltenden Rechts. Deine Bsp sind albern, weil jeder weiß, dass diese keinerlei Geltungsanspruch hierzulande haben. Du solltest hier mal deine religiöse Brille absetzen, denn nahezu jeder Mensch hierzulande weiß, dass Verbote mit wirksamen Strafen vom Staat stammen müssen. Weder jucken mich die Tora und Scharia, noch irgendwelche christlichen Gebote. Ich lebe "in Sünde" mit ungetaufen Kindern und habe kein Problem damit. Aber selbst meine Kinder wissen, dass man anderen Menschen nicht weh tut oder fremde Dinge wegnimmt oder einfach auf das Grundstück des Nachbarn geht. Sie verhalten sich ganz bestimmt nicht regelkonform, weil sie wissen, dass irgendein Richter sie bestrafen könnte. Kann gar nicht passieren, da unterhalb § 19 StGB, aber sie verhalten sich dennoch danach. Die Kenntnis des Verbots genügt. Und nochmal zur Ampel: Deine Nahbereichsempirie scheint dich zu täuschen, das Gros der Menschen hält, ob Klein ob Groß, ob Alt oder Jung. Und vor den Augen eines Polizeibeamten gehen die wenigsten über Rot. Nicht ganz Berlin wohnt in Hipsterprenzlberg oder in Mitte und Xberg.
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Vortex
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Re: Unbegrenzte Gefährderhaft?

Beitrag von Vortex »

Levi hat geschrieben:Adressaten der Norm sind nicht die Bürger sondern die "Amtsträger" in der Justiz.
Normadressaten des Strafrechts sind also - trotz Art. 103 II GG - nicht die Bürger. Man lernt hier immer wieder was Neues. ::roll:
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Levi
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Re: Unbegrenzte Gefährderhaft?

Beitrag von Levi »

Tibor hat geschrieben:Also Levi, natürlich geht es um Kenntnis geltenden Rechts. Deine Bsp sind albern, weil jeder weiß, dass diese keinerlei Geltungsanspruch hierzulande haben. Du solltest hier mal deine religiöse Brille absetzen, denn nahezu jeder Mensch hierzulande weiß, dass Verbote mit wirksamen Strafen vom Staat stammen müssen. Weder jucken mich die Tora und Scharia, noch irgendwelche christlichen Gebote. Ich lebe "in Sünde" mit ungetaufen Kindern und habe kein Problem damit.
Und warum hast du kein Problem damit? Weil es eben gemeinhin niemanden gibt, der diese Vorschriften mit Zwang durchsetzen kann und durchsetzt. Hättest du vor einigen Jahrhunderten an gleicher Stelle gelebt, hätten dich "irgendwelche christlichen Gebote" dagegen sehr wohl "gejuckt". Deine derzeitige Haltung hättest du dir da schwerlich leisten können. 

Im Übrigen ist es auch nicht richtig, dass CIC, Scharia oder Tora "keinerlei Geltungsanspruch hierzulande haben" und meine Beispiele daher "albern" wären. Im Familienrecht werden diese in IPR-Verfahren durchaus häufiger angewandt und ihre Normen erforderlichenfalls auch mit Zwang durchgesetzt (insbesondere die Scharia, Stichwort: "Morgengabe"). Und auch im Kirchensteuerrecht richtet sich die Frage der Mitgliedschaft - und damit die Steuerpflicht - nach den jeweiligen innerreligionsgemeinschaftlichen Recht der Religionsgemeinschaften. 

Ob eine Norm Wirksamkeit entfaltet oder nicht, hängt daher eindeutig nicht von ihrer "Existenz" oder von dem Wissen darum ab, sondern vielmehr davon, ob es jemanden gibt, der sie erfolgreich durchsetzen kann und regelmäßig auch durchsetzt. Oder um ein drastisches Beispiel zu nehmen: Auch 1938 gab es in Deutschland ein StGB, das Mord, Totschlag, Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Nötigung, Brandstiftung, Diebstahl etc. unter Strafe stellte. Trotzdem hat das erkennbar nicht davon abgehalten, Synagogen und Geschäfte zu plündern und niederzubrennen sowie Bürger jüdischen Glaubens zu drangsalieren, zu quälen und zu töten. Denn es war klar, dass die Justiz diese Handlungen nicht verfolgen wird. 

Für mich ist ein Blick auf die Welt sowie das Rechtssystem, der sich allein auf unsere derzeitige konfortable (historisch gesehen aber absolute Ausnahme-)Situation beschränkt, eindeutig zu unterkomplex. Ein solcher eingeschränkter Blickwinkel macht nur allzuleicht blind für die Gefahren. Der Mensch ist den Menschen ein Wolf und unser heutiger Rechtsstaat kein Naturgesetz (sondern eine Konstruktion). Er musste erst mühsam erkämpft werden, und er bedarf der ständigen Verteidigung. 
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Levi
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Re: Unbegrenzte Gefährderhaft?

Beitrag von Levi »

Vortex hat geschrieben:
Levi hat geschrieben:Adressaten der Norm sind nicht die Bürger sondern die "Amtsträger" in der Justiz.
Normadressaten des Strafrechts sind also - trotz Art. 103 II GG - nicht die Bürger. Man lernt hier immer wieder was Neues. ::roll:
Dieses Forum ist halt sehr lehrreich. Bild
Das Stichwort für diese rechtstheoretische Frage heißt übrigens: "Adressatenproblem im Strafrecht".

Meine Auffassung (Adressat sind nur die Strafverfolgungsbehörden) ist zwar nur eine Mindermeinung (Austin, Binding, Kelsen, Schmidthäuser, Röhl/bis 2. Aufl. etc.), während die herrschende Meinung (Hardt, Hoerster, Rüthers, Röhl/seit 3. Aufl., Hörnle etc.) den Standpunkt einnimmt, dass Adressaten der Strafgesetze die Strafverfolgungsbehörden und die Bürger seien; es wird dagegen - soweit ich es übersehen kann - von niemandem außerhalb dieses Forums vertreten, dass Adressaten der Strafgesetze nur die Bürger seien.

Der Hinweis auf Art. 103 II GG erfolgt in diesem Zusammenhang zwar häufig, ich halte ihn jedoch für wenig überzeugend:

1. Art. 103 II GG richtet sich als grundrechtsgleiches Recht gerade an die öffentliche Gewalt (hier also die Strafverfolgungsbehörden). Ihrem Handeln sollen durch die Norm Grenzen gesetzt werden. Wenn Adressat der Strafgesetze aber überhaupt nicht die Strafverfolgungsbehörden wären, wäre Art. 103 II GG rechtspraktisch sinnlos.

2. Die Schutzwirkung des Art. 103 II GG ist unabhängig davon, ob Adressat der Strafgesetze nur die Strafverfolgungsbehörden oder auch die Bürger sind. Art. 103 II GG verbietet den Strafverfolgungsbehörden kategorisch eine Bestrafung ohne gesetzliche Grundlage. Ganz unabhängig davon, wer u. U. sonst noch Adressat der Strafgesetze ist. Auch spielt es im Hinblick auf die (psychische) Warnfunktion für den Einzelnen keine Rolle, ob er formeller Adressat einer Strafnorm ist oder nur im Wege eines Rechtsreflexes von ihr nachteilig betroffen ist. Er wird sein Verhalten in beiden Fällen tunlichst entsprechend ausrichten. Die herrschende Meinung und die von mir favorisierte Mindermeinung kommen daher im Hinblick auf Art. 103 II GG stets zum selben Ergebnis. Als Argument "für" oder "gegen" eine der beiden Auffassungen ist Art. 103 II GG daher unergiebig.
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Tibor
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Re: Unbegrenzte Gefährderhaft?

Beitrag von Tibor »

Levi hat geschrieben:
Tibor hat geschrieben:Also Levi, natürlich geht es um Kenntnis geltenden Rechts. Deine Bsp sind albern, weil jeder weiß, dass diese keinerlei Geltungsanspruch hierzulande haben. Du solltest hier mal deine religiöse Brille absetzen, denn nahezu jeder Mensch hierzulande weiß, dass Verbote mit wirksamen Strafen vom Staat stammen müssen. Weder jucken mich die Tora und Scharia, noch irgendwelche christlichen Gebote. Ich lebe "in Sünde" mit ungetaufen Kindern und habe kein Problem damit.
Und warum hast du kein Problem damit? Weil es eben gemeinhin niemanden gibt, der diese Vorschriften mit Zwang durchsetzen kann und durchsetzt. Hättest du vor einigen Jahrhunderten an gleicher Stelle gelebt, hätten dich "irgendwelche christlichen Gebote" dagegen sehr wohl "gejuckt". Deine derzeitige Haltung hättest du dir da schwerlich leisten können. 

Im Übrigen ist es auch nicht richtig, dass CIC, Scharia oder Tora "keinerlei Geltungsanspruch hierzulande haben" und meine Beispiele daher "albern" wären. Im Familienrecht werden diese in IPR-Verfahren durchaus häufiger angewandt und ihre Normen erforderlichenfalls auch mit Zwang durchgesetzt (insbesondere die Scharia, Stichwort: "Morgengabe"). Und auch im Kirchensteuerrecht richtet sich die Frage der Mitgliedschaft - und damit die Steuerpflicht - nach den jeweiligen innerreligionsgemeinschaftlichen Recht der Religionsgemeinschaften. 

Ob eine Norm Wirksamkeit entfaltet oder nicht, hängt daher eindeutig nicht von ihrer "Existenz" oder von dem Wissen darum ab, sondern vielmehr davon, ob es jemanden gibt, der sie erfolgreich durchsetzen kann und regelmäßig auch durchsetzt. Oder um ein drastisches Beispiel zu nehmen: Auch 1938 gab es in Deutschland ein StGB, das Mord, Totschlag, Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Nötigung, Brandstiftung, Diebstahl etc. unter Strafe stellte. Trotzdem hat das erkennbar nicht davon abgehalten, Synagogen und Geschäfte zu plündern und niederzubrennen sowie Bürger jüdischen Glaubens zu drangsalieren, zu quälen und zu töten. Denn es war klar, dass die Justiz diese Handlungen nicht verfolgen wird. 

Für mich ist ein Blick auf die Welt sowie das Rechtssystem, der sich allein auf unsere derzeitige konfortable (historisch gesehen aber absolute Ausnahme-)Situation beschränkt, eindeutig zu unterkomplex. Ein solcher eingeschränkter Blickwinkel macht nur allzuleicht blind für die Gefahren. Der Mensch ist den Menschen ein Wolf und unser heutiger Rechtsstaat kein Naturgesetz (sondern eine Konstruktion). Er musste erst mühsam erkämpft werden, und er bedarf der ständigen Verteidigung. 
Levi, entschuldige. Meine Diskussionsbeiträge beziehen sich auf Deutschland mit einem funktionierenden Rechtsstaat. Weder habe ich irgendwelche Aussagen zu Kirchenrecht oder früherem Strafrecht machen wollen. In Diktaturen mag man für verboten halten, was die Polizei verfolgt. Oder man versucht möglichst überhaupt nicht aufzufallen, weil man Angst hat, dass irgendjemand mit Gewaltmöglichkeit dieses Verhalten sanktionieren wird (klassischer Fall der Diktatur). Das ist aber nicht der Punkt. Die Bundesrepublik ist keine Bananenrepublik und hat ein funktionierendes Rechtsstaatsprinzip; gerade im Bereich des Strafrechts wegen Art. 103 GG. Strafbar ist, was gesetzte Strafrechtsnormen für strafbar erklären.
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Re: Unbegrenzte Gefährderhaft?

Beitrag von Ara »

Levi hat geschrieben: Meine Auffassung (Adressat sind nur die Strafverfolgungsbehörden) ist zwar nur eine Mindermeinung (Austin, Binding, Kelsen, Schmidthäuser, Röhl/bis 2. Aufl. etc.), während die herrschende Meinung (Hardt, Hoerster, Rüthers, Röhl/seit 3. Aufl., Hörnle etc.) den Standpunkt einnimmt, dass Adressaten der Strafgesetze die Strafverfolgungsbehörden und die Bürger seien; es wird dagegen - soweit ich es übersehen kann - von niemandem außerhalb dieses Forums vertreten, dass Adressaten der Strafgesetze nur die Bürger seien.
Mit Verlaub, jetzt eröffnest du hier Nebenkriegsschauplätze mit Nebelkerzen. Der "Streit" (ich mag ihn gar nicht so bezeichnen, es gibt nen einzelnen Aufsatz aus den 80ern darüber) hat die ganz hM, dass sich das Gebot/Verbot an den Bürger richtet (nur darüber sprechen wir) und die Reaktion an den Staat (das hat hier keiner bestritten). Das entspricht hier exakt der Forenmeinung.

Um einfach mal Hoerster zu Zitieren: "Ich werde argumentieren, dass es zu dem herkömmlichen Verständnis der Strafrechtsnormen als eine zweiteilige Norm, wonach der primäre Normteil dem Bürger ein bestimmtes Verhalten gebietet und erst der sekundäre Normteil dem dem Verfolgungsorgan die Bestrafung des den primären Normteil verletzenden Bürgers gebietet, keine vernünftige Alternative gibt" (Hoerster, JZ 89 S. 10)
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Re: Unbegrenzte Gefährderhaft?

Beitrag von Levi »

@Ara
Du verkennst die Bedeutung dieses Streits.

Es gibt dazu keineswegs nur "nen einzelnen Aufsatz aus den 80ern". H. L. A. Hart benötigt beispielsweise ein ganzes Buch ("Der Begriff des Rechts") dazu, nur um diese - wie er selbst schreibt - "großartige Theorie" aus seiner Sicht zu widerlegen.

Es geht im Übrigen gar nicht so sehr um unterschiedliche Ergebnisse der Theorien (die gibt es in der Praxis nicht), sondern um den unterschiedlichen Blickwinkel, mit dem man dadurch die staatliche Rechts- und Zwangsordnung betrachtet. Und da erscheint mir eben - in einer globalen Perspektive - der minimalistische Ansatz noch immer realistischer als ein duales Verständnis der Strafnormen.

Im Übrigen enthält auch nach der hM die Strafnorm sehr wohl ein Gebot an die Strafverfolgungsbehörden zur Bestrafung in einer bestimmten Form (vgl. dein Hoerster-Zitat). Es ist keineswegs so, dass es hier nur um "die Reaktion" des Staates gehen würde. Auch nach hM ist die Strafnorm - anders als von dir hier vertreten - also nicht nur deskriptiv sondern konstitutiv. Die hM entspricht mitnichten "exakt der Forenmeinung", jedenfalls entspricht sie nicht der von dir hier vertretenen Meinung.
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