julée hat geschrieben:Suchender_ hat geschrieben:Außerdem geht es nicht nur um Klausuren, sondern auch um die spätere Berufsausübung. Auch diese ist ja idR auf die Fallbearbeitung hin ausgerichtet. Immerhin geht es um die "Befähigung zum Richteramt".
Die Fallbearbeitung in der Praxis kommt aber gerade nicht ohne das theoretische Hintergrundwissen aus, warum, weshalb, wieso etwas so ist und mit welchen Figuren man dogmatisch arbeiten kann. Das ist immer dann von Relevanz, wenn der Fall eben nicht in irgendeinem Lehrbuch steht, sondern einer neuen Lösung zuzuführen ist (und das ist - jedenfalls im Kleinen - oft genug der Fall). Und da hilft auf einmal auch die Erinnerung an den Fall des Reichsgerichts von 1895. Die Rechtsprechungsfälle, die üblicherweise thematisiert werden, stellen überdies - richtig eingesetzt - genau diesen Fall- und Praxisbezug her.
Ich habe nicht gesagt, dass Hintergründe keine Rolle spielen oder Theorie außen vor gelassen werden soll. Das Problem ist die Reihenfolge und die Schwerpunktsetzung. Meiner Meinung nach sollte gelten: Konkretes vor Abstraktem, Einfaches vor Schwierigem, Beispiele vor allgemeinen Aussagen.
Das Verwaltungsrecht ist ein gutes Beispiel dafür. Warum muss denn alles unmittelbar am "Hochreck" beginnen? Was nützt es, zu Beginn auf einer vermeintlich "wissenschaftlichen" Ebene über die Abgrenzung Bauplanungs- und Bauordnungsrecht zu dozieren, wenn noch kein Student ansatzweise weiß, was überhaupt "Sache ist"?
Eine Alternative wäre doch z.B. so etwas wie:
"Wir sind heute in der Vorlesung Baurecht. Klingt trocken, klingt kompliziert, ist es aber nicht unbedingt. Im Grundsatz ist es ganz einfach: im Baurecht geht es in Klausuren und der Praxis meist um überschaubare, ähnliche Fragen.
Konkret: wer darf was und wo bauen? Was muss man machen, wenn man eine Baugenehmigung möchte? Was macht die Behörde, wenn man ohne Genehmigung baut? Was kann der Nachbar machen, wenn man ein Hochhaus in der Schrebergartensiedlung baut?
(...)
Bebauungsplan? Das ist letztlich nichts anderes als eine Vorgabe der Gemeinde (vulgo "Stadt"), was genau in ihren verschiedenen Abschnitten/Bereichen gebaut werden darf. Will heißen: Die Gemeinde sagt, hier im Osten der Stadt hätten wir gerne ein Gewerbegebiet. Hier im Westen sollen nur Menschen wohnen. usw. Natürlich darf die Gemeinde hierbei nicht alles frei entscheiden. Deshalb gibt es rechtliche Vorgaben und Rechtsschutzmöglichkeiten der Bürger gegen Bebauungspläne.
(...)
Im Wesentlichen ist es einfach so: Bauplanungsrecht, das sind die groben Vorgaben dafür, was in einem bestimmten Teil der Gemeinde gebaut werden darf. Also z.B.: keine Hochhäuser, keine Schwimmbäder, keine Fabriken oder so. Bauordnungsrecht regelt dagegen zwei andere Bereiche: Zum einen ob und wie die Behörde handeln darf, zum anderen die "Feinjustierung", insbesondere die Gefahrenabwehr, d.h. z.B. Feuerschutzvorgaben."
Und
sobald die Studenten diese Grundlagen verstanden haben, kann man immer noch die Abstraktion und Komplexität bzw. Menge an Theorie erhöhen.
Ersteres ja. Letzteres erscheint mir fraglich, wenn man das Studium auf das Einstudieren des examensrelevanten "Case Laws" beschränkt.
Was heißt schon "case law"? Ich würde behaupten, wer zwei ordentliche Examina hat, verfügt über die notwendige Intelligenz, den erforderlichen Fleiß und das juristische Talent, um sich fast überall einzuarbeiten, evtl. mit Ausnahme von hochkomplexen Spezialmaterien (Steuerrecht?).
Ich bin ja immer für eine möglichst anschauliche Lehre zu gewinnen. Aber das ist ein Punkt, an dem auch Eigeninitiative gefragt ist: Wie viel Mühe kostet es, mal zu googeln, wie ein Bebauungsplan aussieht (zumal in jeder besseren Vorlesung mal einer gezeigt wird)? Die §§ 214, 215 BauGB in Eigenarbeit zu verstehen ist dagegen deutlich schwieriger. Auch einen Grundbuchauszug kann man sich mit ein wenig Eigeninitiative besorgen, ihn "lesen" zu lernen dauert keine Viertelstunde und dann kann man sich der Frage widmen, was eigentlich eine forderungsentkleidete Hypothek ist.
Zu einem Beispiel für klar verständliche Stoffvermittlung s.o.
Was das Hypothekenbeispiel angeht: du missverstehst mich. Es geht mir keineswegs darum, alle examensrelevanten Probleme in der Anfängervorlesung unterzubringen. Wichtig ist mir vielmehr, dass zunächst die klausur- und praxisrelevanten Grundlagen praktisch beherrscht werden ("Sprache sprechen, nicht nur Theorie pauken").
Hier ein Beispiel: ich habe mir vor kurzem eine Anfängervorlesung BGB angesehen (aus Gründen). Das Niveau war keineswegs unüberwindbar. Dennoch war die Vorlesung (obwohl Beispiele verwendet wurden) recht abstrakt und verhältnismäßig komplex. Ich habe alles verstanden, aber ich habe mein Examen auch schon. Gut.
Dann habe ich mir Anfängerklausuren angeschaut (Lehrstuhl). Klar, ein paar wenige waren ganz ordentlich, aber weit überwiegend war das Niveau schlecht. Das erklärt natürlich auch die Noten.
Deshalb frage ich mich: irgendetwas stimmt doch nicht, wenn man (wohl) überdurchschnittlich intelligente, sicherlich auch nicht sonderlich faule Abiturienten (NC) nimmt, sie ein halbes Jahr unterrichtet, ihnen den Unterschied zwischen Spezial- und Gattungsvollmacht erläutert, sie auf Savigny hinweist und sie dann mit einer Klausur präsentiert, in denen sicher 60-80% eher schockierende Arbeiten (nicht notwendig in notentechnischer Hinsicht) produzieren.
Natürlich sind mir die gängigen Erklärungsmuster bekannt: das Abi ist zu leicht, die Studenten zu faul, die Studenten bereiten sich nicht vor, sie zeigen keine Eigeninitiative, sie sind verwöhnt, ich habe es doch auch geschafft, nicht jeder hat juristisches Talent usw usf.
Aber das ist mir in dieser Pauschalität zu billig. Sicherlich mögen diese Faktoren auch eine Rolle spielen, aber eben nicht exklusiv.