Ryze hat geschrieben:thh hat geschrieben:Tja, der Catch-22 des BVerfG: Die Staatsanwaltschaft muss in jedem Fall zumindest versuchen, eine - auch telefonische - richterliche Entscheidung herbeizuführen, sonst fehlt der Annahme von Gefahr im Verzug die Grundlage (es sei denn, bereits dieser Versuch ist zeitlich nicht mehr möglich); allgemeine Erwägungen genügen nicht, es bedarf des Versuchs im konkreten Fall. Tut die Staatsanwaltschaft das aber und stellt dann fest, dass eine richterliche Entscheidung nicht rechtzeitig ergehen kann, so dass Gefahr im Verzug vorliegt, ist durch die Antragstellung zugleich die ausschließliche richterliche Zuständigkeit begründet und kein Raum mehr für eine Entscheidung der Staatsanwaltschaft.
Dass damit die Annahme von Gefahr im Verzug praktisch beseitigt worden ist und ein wesentlicher Teil der entsprechenden strafprozessualen Regelungen leerläuft, ist dem Gericht bei seiner Entscheidung nicht erkennbar bewusst gewesen ...
Wie kann sich denn eine Situation, die zuvor keine Gefahr im Verzug darstellte, durch die bloße Tatsache, dass die richterliche Entscheidung nicht asap ergeht, plötzlich zu einer Gefahr im Verzug zuspitzen?
Das liegt an den Anforderungen, die die frühere Rechtsprechung des BVerfG - im Grundsatz und unter Berücksichtigung bestehender Missbräuche richtig - an die Annahme von Gefahr im Verzug stellt. "Gefahr im Verzug" bedeutet ja, dass ohne eine Eilentscheidung der Verlust von Beweismitteln droht, eine richterliche Entscheidung also nicht rechtzeitig ergehen kann.
Das BVerfG sagt nunmehr - zu Recht -, dass im Grunde überall ein ständig erreichbarer richterlicher Bereitschaftsdienst 24/7 bestehen muss (fehlender Bedarf für einen nächtlichen Bereitschaftsdienst bei dem zuständigen Gericht am Sitz der Staatsanwaltschaft kann angesichts der Zahl der notwendigen Anordnungen, auch für Blutentnahmen, in der Regel nicht vorhanden sein). Es sagt außerdem, dass in jedem Fall versucht werden muss, eine - und sei es nur fernmündliche - Anordnung des Ermittlungsrichters einzuholen; ein Rückgriff auf allgemeine Erfahrungswerte ("Verschriften, Akten vorlegen, Antrag stellen, auf Entscheidung warten" klappt nicht rechtzeitig) genügt nicht.. Damit ist die Eilkompetenz der Polizei und der StA weitgehend beseitigt bzw. auf die Handvoll Fälle beschränkt, in denen bereits ein Telefonat die Gefahr von Beweismittelverlust mitbringt oder den häufigeren Fall, dass ein zuständiger (!) Ermittlungsrichter nicht sofort telefonisch erreichbar ist.
Es bleibt eine nicht geringe Zahl von durchaus eiligen Fällen, in denen eine Anordnung binnen 10, 15, 30 oder 60 Minuten ergehen muss, die eine schriftliche Antragstellung oder auch die Vorlage der Akten - und sei es per Fax oder E-Mail - ausschließen (schon deshalb, weil es möglicherweise noch gar keine verschrifteten Akten gibt), nicht aber ein Telefonat von wenigen Minuten Dauer, das für die mündliche Darstellung der Kernpunkte des Falles genügt und dann eine fernmündliche Entscheidung des Gerichts ermöglicht. Früher wäre das ein klarer Fall von "Gefahr im Verzug" gewesen; nunmehr muss aber wenigstens versucht werden, den Ermittlungsrichter zu erreichen.
Nun nehmen wir an, das gelingt; der Richter sagt aber, er habe jetzt einen dringenden Termin (eine Haftvorführung) und könne das daher nicht entscheiden; oder er könne oder wolle das nicht ohne Vorlage der Akten entscheiden; oder er entscheide grundsätzlich niemals ohne Vorlage der Akten; oder er entscheide grundsätzlich niemals mündlich. Keineswegs lehnt er den Antrag aber ausdrücklich ab; nicht selten - so auch in den Fällen des BVerfG - verweist er ausdrücklich auf die Eilkompetenz der StA. Nun liegt also der Fall vor, dass eine richterliche Entscheidung nicht rechtzeitig ergehen kann, weil die Zeit für ein Telefonat langt, nicht aber für die Zusammenstellung der Akten, deren Vorlage und ggf. die Abfassung einer schriftlichen Entscheidung (das nimmt in der Praxis alles, auch unter Verwendung moderner Kommunikationsmittel, größere Zeiträume in Anspruch). Bisher war ganz herrschende Meinung, dass dann die Eilkompetenz der StA wieder auflebt, weil eben nach dem Versuch, das Gericht mit der Sache zu befassen, feststeht, dass eine richterliche Entscheidung nicht rechtzeitig ergehen kann. Man hat den Fall des entscheidungsunfähigen (realiter leider oft: entscheidungsunwilligen) Richters der Nichterreichbarkeit des Richters gleichgestellt. Diese Auffassung hat das BVerfG nicht geteilt.
Ryze hat geschrieben:Dem Leitsatz ist doch zu entnehmen, dass, sofern sich neue Umstände ergeben, die Zuständigkeit der StA, diese auch ihre Gefahr hin zu prüfen, gerade wieder ergibt.
Diese Formel läuft allerdings leer. Was für neue Umstände sollen sich denn denklogisch ergeben können? Da gibt es nichts außer "es muss jetzt doch schneller gehen", und das genau reicht eben nicht.
Ryze hat geschrieben:Entweder, die StA nimmt Gefahr im Verzug an und konsultiert den Ermittlungsrichter (der bei hinreichendem Anlass seine Zustimmung auch telefonisch mitteilt) oder nicht, aber nicht beides, weil es ihr nicht schnell genug geht.
Nun liegt Gefahr im Verzug aber eben gerade nur vor, wenn es nicht schnell genug geht; und die StA darf nicht einfach davon ausgehen, dass es nicht schnell genug geht, sondern muss versuchen, den Richter zu erreichen. Hat sie ihn aber erreicht und festgestellt, dass es nicht schnell genug geht - vielleicht in Bestätigung der bereits bestehenden Annahme -, liegt Gefahr im Verzug vor, die Anordnungskompetenz der StA ist aber durch das Unterbreiten des Antrags an den Richter entfallen.
Ryze hat geschrieben:Wenn der Ermittlungsrichter schludert und eine Entscheidung verweigert, muss dem notfalls mit Disziplinarmaßnahmen begegnet werden,
Richter schludern nie, sie sind einfach nur gründlich - ich darf an den Fall der auswärtigen Senate des OLG Karlsruhe in Freiburg erinnern.
Ryze hat geschrieben:eine Lösung zulasten des Beschuldigten erscheint mir in dem Fall zu einfach.
In der Inanspruchnahme der gesetzlich vorgesehenen Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden kann ich eine "Lösung zulasten des Beschuldigten" nicht erkennen. Es geht ja nun gerade nicht um die Fälle, in denen die Voraussetzungen der Maßnahmen nicht vorlagen.
Ryze hat geschrieben:Einen praktischen Ausschluss des Instituts kann ich angesichts der sonst "üblichen" Fälle im Zusammenhang mit der Gefahr im Verzug auch nicht erkennen, zumal das 'in jedem Fall zumindest versuchen' nicht zutrifft; dass die Grenzen eng(er) gesteckt sind, ist sicher zutreffend, m.E. aber auch nachvollziehbar, nimmt man den Richtervorbehalt ernst.
2 BvR 1444/00, Rn. 48 hat geschrieben:Die Strafverfolgungsbehörden müssen regelmäßig versuchen, eine Anordnung des instanziell und funktionell zuständigen Richters zu erlangen, bevor sie eine Durchsuchung beginnen. Nur in Ausnahmesituationen, wenn schon die zeitliche Verzögerung wegen eines solchen Versuchs den Erfolg der Durchsuchung gefährden würde, dürfen sie selbst die Anordnung wegen Gefahr im Verzug treffen, ohne sich zuvor um eine richterliche Entscheidung bemüht zu haben. Die Annahme von Gefahr im Verzug kann nicht allein mit dem abstrakten Hinweis begründet werden, eine richterliche Entscheidung sei gewöhnlicherweise zu einem bestimmten Zeitpunkt oder innerhalb einer bestimmten Zeitspanne nicht zu erlangen. Dem korrespondiert die verfassungsrechtliche Verpflichtung der Gerichte, die Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters, auch durch die Einrichtung eines Eil- oder Notdienstes, zu sichern.
Ich halte das für unmissverständlich: es muss immer dann zumindest versucht werden, den Richter zu erreichen, wenn nicht schon der Versuch den Erfolg gefährden würden. Das BVerfG spricht in dieser Entscheidung - und anderen Entscheidungen - auch ausdrücklich von "erreichen", was Fernkommunikationsmittel einschließt. Vgl. dazu auch:
2 BvR 2267/06, Rn. 4 hat geschrieben:Die Annahme, dass der Richter in Eilfällen eine strafprozessuale Durchsuchung ausnahmsweise mündlich anordnen kann [...], unterliegt keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. BVerfGE 20, 162 <227>; 103, 142 <154>). Das Landgericht hat anhand der ausführlichen Dokumentation einen Eilfall willkürfrei angenommen, indem es den konkreten Tatverdacht erst gegen 15.00 Uhr für gegeben erachtete und die Gefährdung eines Vollzugs der beabsichtigten Maßnahme durch die Herbeiführung eines schriftlichen Beschlusses bejaht hat. Diese Einschätzung liegt aufgrund des Zeitintervalls zwischen mündlicher Anordnung der strafprozessualen Maßnahme gegen 16.00 Uhr und ihrer Ausführung gegen 18.00 Uhr nicht fern.