abweichende Eröffnung - 264 StPO - Freispruch

Straf-, Strafprozeß- und Ordnungswidrigkeitenrecht sowie Kriminologie

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Zippocat
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abweichende Eröffnung - 264 StPO - Freispruch

Beitrag von Zippocat »

Lieber Schwarm,

die StA klagt A wegen einer Tat der Körperverletzung zum Nachteil des O an und schildert folgenden konkreten Anklagesatz:

Am 1.1.21 ging A abends einkaufen. Bei Lidl geriet er mit B über die Maßnahmen der Bundesregierung zur Bekämpfung der Pandemie in Streit. Nachdem A dem B in Notwehr mit einem wuchtigen Faustschlag ins Gesicht niederstreckte, wandte er sich kurz darauf dem Freund O des B zu, geriet mit diesem über die vorangegangene Situation (insbesondere die Frage Notwehr ja/nein) in Streit und schlug ohne Notwehrwillen diesem mit einem Faustschlag zwei Zähne aus.

Die StA meint, dass der erste Schlag gegen B durch Notwehr gedeckt war und hat insoweit nach § 170 II StPO eingestellt.

Das Gericht beurteilt die Notwehrsituation anders und meint, dass nicht nur eine KV zN O, sondern auch eine zN B vorliegt. Das geht Gericht geht daneben von einer prozessualen Tat (§ 264 StPO) aus, weil das Verhalten des A ggü. B und O nur einheitlich gewürdigt werden könne.

Var. 1.: Mit dem EÖB will das Gericht daher rechtlich abweichend eröffnen (§207 III StPO) wegen zwei Taten der KV.
Var. 2.: Das Gericht lässt unverändert zu und weist im EÖB lediglich darauf hin, dass wegen der angeklagten prozessualen Tat auch eine Verurteilung wegen einer weiteren Tat der KV zN B möglich erscheint.

Zulässig? Mit welchen Folgen?

a. eine prozessuale Tat?
mE +, da die Handlungen nicht nur äußerlich ineinander übergehen, sondern auch innerlich derart unmittelbar miteinander verknüpft sind, dass der Unrechts- und Schuldgehalt der einen Handlung nicht ohne die Umstände, die zu der anderen Handlung geführt haben, richtig gewürdigt werden kann.

b. steht § 170 II StPO bzgl. B entgegen?
mE -, Gegenstand der Anklage nach § 264 StPO ist die Tat im strafprozessualen Sinne; wenn es daher um mehrere Tatvorwürfe gegen einen Beschuldigten geht und der hinreichende Tatverdacht sich bezüglich einzelner Delikte tatsächlich oder rechtlich nicht belegen lässt, kann Gegenstand einer Teil-Einstellung nach § 170 II StPO stets nur eine strafprozessuale Tat nach § 264 StPO sein, aber keine Teil-Einstellung innerhalb einer prozessualen Tat.

c. Freispruch erforderlich, wenn doch Notwehr?
+, bei abweichender Eröffnung (Vergleich Vorwürfe selbständige Taten der Anklage (in Form der Zulassungsentscheidung) <-> Urteil)
-, bei nur rechtlichem Hinweis

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Urs Blank
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Re: abweichende Eröffnung - 264 StPO - Freispruch

Beitrag von Urs Blank »

Ich würde hier - entsprechend BGH, Beschluss vom 6. Juni 2008, 2 StR 189/08, dort: unmittelbar aufeinander folgende Tötungshandlungen gegen zwei Personen - eher von zwei prozessualen Taten ausgehen.
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Zippocat
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Re: abweichende Eröffnung - 264 StPO - Freispruch

Beitrag von Zippocat »

Danke für den Hinweis auf die Entscheidung (die mich ehrlich gesagt nicht völlig überzeugt).

Ich sehe die Gefahr widersprechender Entscheidungen, da unterschiedliche prozessuale Taten eben auch in unterschiedlichen Verfahren angeklagt werden können.

Wenn dann - gerade bei Tötungsdelikten - selbst "ein noch so enger äußerer, zeitlicher und psychologischer Zusammenhang verschiedene Tötungshandlungen nicht zu einer Tat" - (iSd § 264 StPO) machen kann, besteht doch die greifbare Gefahr, dass es zu letztlich zufälligen Ergebnissen kommen kann. Auch aus Sicht des Angeklagten wäre mE schwer nachvollziehbar, dass der Sachverhalt nicht mit rechtskräftigen Abschlusses des Verfahrens endgültig entschieden ist, sondern ggf. eine weitere Verhandlung wegen der "anderen prozessualen Tat" drohen kann.
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