Vernichtende Rezension

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Swann
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Re: Vernichtende Rezension

Beitrag von Swann »

Ara hat geschrieben: Donnerstag 18. Januar 2024, 15:54 Das ist sicherlich auch eine Vorwertung, diese basiert aber nicht auf dem Gusto der Wertung des einzelnen Richters, sondern entspricht der Realität. Der "Normalfall" (also der Fall der in der Regel oder durchschnittlich in der Praxis auftritt) ist ja tatsächlich "nicht so schlimm".
Eben das ist eine Wertung, die genauso sehr oder wenig in der Realität verankert ist wie die gegenteilige Bewertung. Nehmen wir mal an, der typische Fall des § 249 Abs. 1 StGB wäre der Räuber, der im öffentlichen Straßenland eine Handtasche oder einen Rucksack entwendet, indem er den Besitzer zuvor niederschlägt. Dann ist die Ermittlung, was der "typische Fall" eines Raubes ist, sicher eine in Teilen empirische Übung, jedenfalls lässt sich diese Wertung empirisch mit gewissen Grenzen nachprüfen.

Ob man aber diesen typischen Fall dann als eher geringfügige Alltagskriminalität oder Schwerkriminalität, die in einem gemeinschaftsgefährdenden Maße um sich gegriffen hat (generalpräventiver Strafschärfungsgrund!) einschätzt, ist nicht empirisch be- oder widerlegbar.
Nehmen wir Betäubungsmittelhandel in nicht geringen Mengen mit Cannabis: Was wird da gehandelt? Mal 50g? 100g? Mit 1Kg ist man in manchen Bundesländern schon ein großer Fisch. Mehr als 5Kg ist die Ausnahme. Im Gegensatz finden wir aber im Hamburger Hafen auch mal gelegentlich 5 Tonnen Cannabis in nem Container.

Der Strafrahmen ist 1 bis 15 Jahre. Da ist ja erkennbar, dass die 100g oder 1Kg nicht irgendwo in der Mitte bei 7 oder 8 Jahren landen kann, wenn ich den 5 Tonnen maximal 15 Jahre geben kann (selbst wenn bandenmäßig). Die Strafbarkeit der nicht geringen Menge beginnt irgendwo bei 50g und endet quasi im unendlichen Tonnenbereich. Das heißt vermutlich 95% der BtM-Verfahren wegen Cannabis sind irgendwo nahe an der unteren Schwelle.
Wenn man so argumentiert, ist es aber fraglich, ob man nicht die Ausreißer nach oben außer Betrachtung lassen sollte. Denn ich kann ja nicht jedem Räuber ein Jahr Freiheitsstrafe geben, weil es ja sein kann, dass ein anderer Räuber mit der Drohung einer Atombombenexplosion die Trillionen-Dollar-Note entwendet. Vielleicht sollte man daher eher auf den Median der üblichen Menge abstellen. Und wenn man da dann die Strafrahmenmitte als Ausgangspunkt nimmt, kommt ein ganz anderes Strafniveau raus.


Das trifft auf so ziemlich jeden Straftatbestand zu. Auch die in der Praxis am häufigsten auftretende Vergewaltigung ist regelmäßig näher am denkbar geringsten, aber noch strafbaren, Sachverhalt, als am denkbar schwersten Sachverhalt dran.
Auch wenn wir das als richtig unterstellen: Das nötigt nicht dazu, in diesen Fällen nur den unteren Strafrahmenbereich auszuschöpfen. Genauso gut könnte man als starting point für diese Fälle 7,5 Jahre nehmen (da durchschnittlicher Fall) und den unteren Strafrahmenbereich für persönliche Strafzumessungsumstände nutzen. Wenn du dir die Strafzumessung in England und Wales anschaust (für Sexualdelikte im Besonderen, aber auch sonst), hast du das Gegenmodell zum deutschen Entwurf. Sicher gibt es gute Gründe für das eine oder andere. Aber empirisch lässt sich das nicht unterfüttern.
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Ara
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Re: Vernichtende Rezension

Beitrag von Ara »

Swann hat geschrieben: Donnerstag 18. Januar 2024, 21:18 Wenn man so argumentiert, ist es aber fraglich, ob man nicht die Ausreißer nach oben außer Betrachtung lassen sollte. Denn ich kann ja nicht jedem Räuber ein Jahr Freiheitsstrafe geben, weil es ja sein kann, dass ein anderer Räuber mit der Drohung einer Atombombenexplosion die Trillionen-Dollar-Note entwendet. Vielleicht sollte man daher eher auf den Median der üblichen Menge abstellen. Und wenn man da dann die Strafrahmenmitte als Ausgangspunkt nimmt, kommt ein ganz anderes Strafniveau raus.
Das ist aber etwas was der Gesetzgeber zuvor berücksichtigen muss. Es ist seit Jahrzehnten gängige Rechtsprechung bei der Spielraumtheorie beim unteren Drittel einzusteigen und dann zu schauen, was strafschärfend oder strafmildernd ist. Dies ist ja auch dem Gesetzgeber bekannt und dementsprechend sind auch die Strafrahmen gewählt.

Ein anderes Vorgehen erscheint auch in der Praxis mehr Probleme zu schaffen als zu lösen. Weil die "Spitzen" die ich abfangen muss, nach oben deutlich mehr sind als nach unten. Dies liegt ja auch in den Opportunitätsentscheidungen begründet, zumindest wenn es um Vergehen geht. Man kann es sicherlich anders machen, aber es spricht vieles dafür, dass es so wie es gemacht wird, schon ganz gut ist. Und so wie es gängige Praxis ist, ist eine Durchschnittsstrafe im unteren Drittel nicht auffällig, sondern das zu erwartende.
Die von der Klägerin vertretene Auffassung, die Beeinträchtigung des Wohngebrauchs sei durch das Zumauern der Fenster nur unwesentlich beeinträchtigt, ist so unverständlich, dass es nicht weiter kommentiert werden soll. - AG Tiergarten 606 C 598/11
Swann
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Re: Vernichtende Rezension

Beitrag von Swann »

Ara hat geschrieben: Freitag 19. Januar 2024, 16:56 Das ist aber etwas was der Gesetzgeber zuvor berücksichtigen muss. Es ist seit Jahrzehnten gängige Rechtsprechung bei der Spielraumtheorie beim unteren Drittel einzusteigen und dann zu schauen, was strafschärfend oder strafmildernd ist. Dies ist ja auch dem Gesetzgeber bekannt und dementsprechend sind auch die Strafrahmen gewählt.

Ein anderes Vorgehen erscheint auch in der Praxis mehr Probleme zu schaffen als zu lösen. Weil die "Spitzen" die ich abfangen muss, nach oben deutlich mehr sind als nach unten. Dies liegt ja auch in den Opportunitätsentscheidungen begründet, zumindest wenn es um Vergehen geht. Man kann es sicherlich anders machen, aber es spricht vieles dafür, dass es so wie es gemacht wird, schon ganz gut ist. Und so wie es gängige Praxis ist, ist eine Durchschnittsstrafe im unteren Drittel nicht auffällig, sondern das zu erwartende.
Mit ersterem gebe ich dir Recht. Die Erste-Drittel-Rechtsprechung ist so eingefahren, dass es vermutlich einer gesetzgeberischen Korrektur bedürfte, um sie zu ändern. Naheliegend wäre etwa die Einführung von Sentencing Guidelines wie immer mal wieder diskutiert.

Ein solcher Wandel würde in der Praxis allerdings m.E. nicht sonderlich viele Probleme bereiten. Klar, wenn man als Obergrenze 15 Jahre für die zeitige Freiheitsstrafe beibehielte, dann würde zB der 500kg Koks-Dealer vll nur zwei Jahre weniger kriegen als der 5t-Dealer. Aber auch jetzt kriegt man zB für dreißig Wohnungseinbruchdiebstähle 4 Jahre Gesamtfreiheitsstrafe und für fünfzig 4,5 Jahre. Auf der Ebene der Gesamtfreiheitsstrafenbildung ist schon jetzt ein ähnlicher "Mengenrabatt" System.

Die Kernfrage ist doch eigentlich: Findet man es richtig, schärfere Strafen zu verhängen? Und dafür gibt es viel Für und Wider.
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Re: Vernichtende Rezension

Beitrag von Strich »

Man könnte ja auch argumentieren, dass der Strafrahmen faktisch von der Mitte her gehandhabt wird und die "Untere Drittel Rspr." nicht stimmt: Der Strafrahmen reicht faktisch ja von § 153 StPO bis was auch immer das Gesetz als Höchstgrenze da vorsieht. Schaut man sich das an, sieht man, dass wahrscheinlich der Durchschnittsdieb tatsächlich in der Mitte des so verstandenen Strafrahmens landet.
Stehe zu deinen Überzeugungen soweit und solange Logik oder Erfahrung dich nicht widerlegen. Denk daran: Wenn der Kaiser nackt aussieht ist der Kaiser auch nackt ... .
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Re: Vernichtende Rezension

Beitrag von Swann »

Wir reden ja auch über Raub und Vergewaltigung, da passt das nicht ganz.
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Re: Vernichtende Rezension

Beitrag von OJ1988 »

Alles sehr interessant, könnte ihr das aber ggf. auslagern? Meine Hoffnung auf eine noch nicht gelesene vernichtende Rezension wird bei jedem Post aufs Neue enttäuscht....
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Re: Vernichtende Rezension

Beitrag von Strich »

Swann hat geschrieben: Dienstag 23. Januar 2024, 20:52 Wir reden ja auch über Raub und Vergewaltigung, da passt das nicht ganz.
Stimmt ^^ Okay, weitermachen.
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Re: Vernichtende Rezension

Beitrag von Joshua »

OJ1988 hat geschrieben: Mittwoch 24. Januar 2024, 14:35 Alles sehr interessant, könnte ihr das aber ggf. auslagern? Meine Hoffnung auf eine noch nicht gelesene vernichtende Rezension wird bei jedem Post aufs Neue enttäuscht....
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