Seite 94 von 102

Re: NSU-Prozess

Verfasst: Mittwoch 19. Juli 2017, 00:23
von Urs Blank
An diesem Mittwoch sollen die Schlussvorträge beginnen.

http://www.deutschlandfunk.de/oberlandesgericht-muenchen-plaedoyers-im-nsu-prozess.1939.de.html?drn:news_id=770105 (Verwaister Link automatisch entfernt)

Re: NSU-Prozess

Verfasst: Samstag 22. Juli 2017, 19:00
von Tobias__21
Passend zum Thema Schlussvorträge: Tonbandaufzeichnung des Plädoyers des Generalbundesanwalts unzulässig

http://blog.burhoff.de/2017/07/wir-mach ... -volltext/

Re: NSU-Prozess

Verfasst: Montag 24. Juli 2017, 13:23
von Mr_Black
Strafrechtler vor: Ist das so?
Der Streit am Ende der Beweisaufnahme im NSU-Prozess lenkt den Blick auf ein schier unglaubliches Defizit des Strafprozesses: Es gibt dort kein Inhaltsprotokoll, Aussagen werden nirgendwo festgehalten. Das ist vorsintflutlich.
Dann soll sich der Angeklagte doch das Gerichtsprotokoll besorgen und alles nachlesen, ist das schnelle Gegenargument. Es sticht nicht. Denn es gibt kein Protokoll; nicht im Strafprozess. Das aber weiß kaum jemand. Wer im Bundestag die Stenografen sitzen sieht, die jedes Wort mitschreiben, der kann sich nicht vorstellen, dass ausgerechnet im Strafprozess, wo es um Mord und Totschlag geht, um lebenslang oder Bewährung, nichts protokolliert wird. In den Protokollen stehen nur lapidare Sätze wie: "Der Zeuge erschien und machte Angaben zur Sache." Was er sagte, steht da nicht. Oder: "Der Zeuge wurde unvereidigt entlassen." Welche Fragen ihm gestellt wurden, erfährt man nicht.
http://www.sueddeutsche.de/politik/nsu- ... -1.3596042

In jedem Zivilprozess wird ganz selbstverständlich jede Zeugenaussage (fast) wortgenau protokolliert. Warum nicht im Strafrecht? Und wie kann man so arbeiten?

Re: NSU-Prozess

Verfasst: Montag 24. Juli 2017, 13:41
von Ara
Mr_Black hat geschrieben:Strafrechtler vor: Ist das so?
Der Streit am Ende der Beweisaufnahme im NSU-Prozess lenkt den Blick auf ein schier unglaubliches Defizit des Strafprozesses: Es gibt dort kein Inhaltsprotokoll, Aussagen werden nirgendwo festgehalten. Das ist vorsintflutlich.
Dann soll sich der Angeklagte doch das Gerichtsprotokoll besorgen und alles nachlesen, ist das schnelle Gegenargument. Es sticht nicht. Denn es gibt kein Protokoll; nicht im Strafprozess. Das aber weiß kaum jemand. Wer im Bundestag die Stenografen sitzen sieht, die jedes Wort mitschreiben, der kann sich nicht vorstellen, dass ausgerechnet im Strafprozess, wo es um Mord und Totschlag geht, um lebenslang oder Bewährung, nichts protokolliert wird. In den Protokollen stehen nur lapidare Sätze wie: "Der Zeuge erschien und machte Angaben zur Sache." Was er sagte, steht da nicht. Oder: "Der Zeuge wurde unvereidigt entlassen." Welche Fragen ihm gestellt wurden, erfährt man nicht.
http://www.sueddeutsche.de/politik/nsu- ... -1.3596042

In jedem Zivilprozess wird ganz selbstverständlich jede Zeugenaussage (fast) wortgenau protokolliert. Warum nicht im Strafrecht? Und wie kann man so arbeiten?
Es kommt drauf an welches Rechtsmittel es gibt. Vor dem Amtsgericht werden die Zeugenaussagen auch wortgetreu protokolliert. Vor dem Landgericht gibt es tatsächlich nur noch ein Protokoll zu den Förmlichkeiten der Hauptverhandlung. Dort steht beim Zeugen dann "Der Zeuge machte Angaben zur Sache".

Der Grund ist, dass man eh nur noch die Revision als Rechtsmittel hat. Die Revision darf die Hauptverhandlung ja eh nicht rekonstruieren und daher kommt es auf den Wortlaut der Aussagen nicht an. Wenn ein Zeuge vor dem Landgericht ausgesagt hat das Auto war Blau und im Urteil steht "Der glaubwürdige Zeuge X erklärte glaubhaft, dass der Wagen Rot war", dann hast du Pech gehabt. Das ist mit der Revision nicht mehr angreifbar. Zumindest nicht dann, wenn dein einziges Argument ist "der Zeuge hat aber gesagt, der Wagen war Blau und nicht Rot!". Die StPO geht davon aus, dass die Urteile vom LG und OLG die Zeugenaussage immer richtig wiedergeben.

Re: NSU-Prozess

Verfasst: Montag 24. Juli 2017, 13:48
von Mr_Black
Also wenn dann im Urteil steht, die Zeugen hätten in der Gesamtschau eindeutig bestätigt, dass Frau Zschäpe der leitende Kopf der NSU war und sich für Morde ihrer treuen Untergeben bediente, dann kann das die Verteidigung nicht mehr angreifen? Das Revisionsrecht geht davon aus, dass das Gericht zahlreiche Formfehler begehen könnte, aber eine Zeugenaussage missverstehen oder falsch auslegen erscheint unmöglich?

Re: NSU-Prozess

Verfasst: Montag 24. Juli 2017, 14:27
von Ara
Wenn du erstmal wüsstest was für Schikanen sich Revisionsgerichte sonst noch so ausgedacht haben, um unliebsame Beschwerden los zu werden.

Aber ja: Fehler bei der Beweiswürdigung sind nur per Sachrüge anzugreifen, da die Beweiswürdigung Kernaufgabe des Tatsachengerichts nach § 261 StGB ist und daher grundsätzlich nicht überprüfbar. Rekonstruktion der Beweisaufnahme ist nicht erlaubt. Also kann man nur angreifen, dass die Feststellungen als solches lückenhaft oder widersprüchlich seien. Nicht aber, dass das Gericht einen Zeugen missverstanden hat oder das irgendwie falsch gewürdigt hat.

Willkommen im Abenteuerland des Revisionsrechts.

Re: NSU-Prozess

Verfasst: Montag 24. Juli 2017, 14:33
von sai
Ara hat geschrieben:Wenn du erstmal wüsstest was für Schikanen sich Revisionsgerichte sonst noch so ausgedacht haben, um unliebsame Beschwerden los zu werden.

Aber ja: Fehler bei der Beweiswürdigung sind nur per Sachrüge anzugreifen, da die Beweiswürdigung Kernaufgabe des Tatsachengerichts nach § 261 StGB ist und daher grundsätzlich nicht überprüfbar. Rekonstruktion der Beweisaufnahme ist nicht erlaubt. Also kann man nur angreifen, dass die Feststellungen als solches lückenhaft oder widersprüchlich seien. Nicht aber, dass das Gericht einen Zeugen missverstanden hat oder das irgendwie falsch gewürdigt hat.

Willkommen im Abenteuerland des Revisionsrechts.
Immer vor dem Hintergrund, dass Art. 19 IV GG keinen Instanzenzug gewährleistet. Es geht also nicht allein darum, irgendwas von den Gerichten "fernzuhalten", sondern gerade auch darum, Aufgaben und Befugnisse zwischen den Gerichten sachgerecht zu verteilen.

Re: NSU-Prozess

Verfasst: Montag 24. Juli 2017, 17:48
von thh
Mr_Black hat geschrieben:Strafrechtler vor: Ist das so?
Der Streit am Ende der Beweisaufnahme im NSU-Prozess lenkt den Blick auf ein schier unglaubliches Defizit des Strafprozesses: Es gibt dort kein Inhaltsprotokoll, Aussagen werden nirgendwo festgehalten. Das ist vorsintflutlich.
Es ist vor allem - in dieser Form - Quatsch.
Mr_Black hat geschrieben:In jedem Zivilprozess wird ganz selbstverständlich jede Zeugenaussage (fast) wortgenau protokolliert. Warum nicht im Strafrecht?
Ein Protokoll muss auch im Strafprozess die "wesentlichen Ergebnisse der Vernehmungen" enthalten, wenn Berufung möglich ist, also am Amtsgericht, denn da kann es Bedeutung für die erneute Beweisaufnahme haben. ("Könnte", muss man sagen, weil die Brauchbarkeit doch sehr übersichtlich zu sein pflegt.) Ist nur das Rechtsmittel der Revision gegeben, bedarf es einer Protokollierung nicht.
Mr_Black hat geschrieben:Und wie kann man so arbeiten?
Wozu sollte man für die Arbeit ein "fast" wortgenaues Protokoll der Zeugenaussagen benötigen?
Mr_Black hat geschrieben:Also wenn dann im Urteil steht, die Zeugen hätten in der Gesamtschau eindeutig bestätigt, dass Frau Zschäpe der leitende Kopf der NSU war und sich für Morde ihrer treuen Untergeben bediente, dann kann das die Verteidigung nicht mehr angreifen?
Jedenfalls nicht damit, dass die Zeugen das nicht so gesagt hätten.
Mr_Black hat geschrieben:Das Revisionsrecht geht davon aus, dass das Gericht zahlreiche Formfehler begehen könnte, aber eine Zeugenaussage missverstehen oder falsch auslegen erscheint unmöglich?
Auf die Sachrüge prüft das Revisionsgericht nur anhand der Urteilsgründe - ob mithin die Feststellungen ausreichen, ob sie von der Beweiswürdigung getragen werden und ob die rechtliche Würdigung den Schuldspruch trägt und die Strafzumessung keine durchgreifenden Mängel aufweist.

Auch mit einer Verfahrensrüge lässt sich nicht vorbringen, dass das Ergebnis der Beweisaufnahme falsch widergegeben worden sei, denn eine Rekonstruktion der Hauptverhandlung ist unzulässig.

(Mir erschließt sich auch nicht, warum es hilfreicher sein sollte, wenn im Zweifel der Urkundsbeamte die Zeugenaussage missversteht oder falsch protokolliert ...)

Re: NSU-Prozess

Verfasst: Montag 24. Juli 2017, 18:49
von Mr_Black
thh hat geschrieben: Auch mit einer Verfahrensrüge lässt sich nicht vorbringen, dass das Ergebnis der Beweisaufnahme falsch widergegeben worden sei, denn eine Rekonstruktion der Hauptverhandlung ist unzulässig.

(Mir erschließt sich auch nicht, warum es hilfreicher sein sollte, wenn im Zweifel der Urkundsbeamte die Zeugenaussage missversteht oder falsch protokolliert ...)

Wenn also das Gericht das Ergebnis einer Zeugenaussage falsch wiedergibt und darauf die Verurteilung stützt, kann man das weder rechtlich angreifen, noch überhaupt zweifelsfrei belegen?

Im Zivilprozess muss der Zeuge seine protokollierte Aussage so genehmigen. Wenn er sagt, das Auto war rot und der Urkundsbeamte (bzw. der diktierende Richter) versteht und vermerkt blau, dann fällt das auf.

Re: NSU-Prozess

Verfasst: Montag 24. Juli 2017, 19:01
von Ara
Mr_Black hat geschrieben:
thh hat geschrieben: Auch mit einer Verfahrensrüge lässt sich nicht vorbringen, dass das Ergebnis der Beweisaufnahme falsch widergegeben worden sei, denn eine Rekonstruktion der Hauptverhandlung ist unzulässig.

(Mir erschließt sich auch nicht, warum es hilfreicher sein sollte, wenn im Zweifel der Urkundsbeamte die Zeugenaussage missversteht oder falsch protokolliert ...)

Wenn also das Gericht das Ergebnis einer Zeugenaussage falsch wiedergibt und darauf die Verurteilung stützt, kann man das weder rechtlich angreifen, noch überhaupt zweifelsfrei belegen?

Im Zivilprozess muss der Zeuge seine protokollierte Aussage so genehmigen. Wenn er sagt, das Auto war rot und der Urkundsbeamte (bzw. der diktierende Richter) versteht und vermerkt blau, dann fällt das auf.
Naja seien wir ja mal realistisch. Es ist ja nicht so, dass ein Zeuge aussagt und dann alle darüber schweigen und auf einmal dann das Urteil auftaucht. In der Regel wird sich ja schon darüber ausgetauscht und es fällt auf, wenn die Verfahrensbeteiligte es völlig unterschiedlich aufgefasst haben.

In der Praxis ist es selten ein Problem, dass das Gericht den Zeugen missverstanden hat. Viel häufiger gibt es unterschiedliche Auffassungen zur Würdigung von dem was der Zeuge so gesagt hat. Das soll aber gerade nicht in der Revision überprüft werden. Das ist ja so gewollt.

Re: NSU-Prozess

Verfasst: Montag 24. Juli 2017, 20:42
von thh
Mr_Black hat geschrieben:Wenn also das Gericht das Ergebnis einer Zeugenaussage falsch wiedergibt und darauf die Verurteilung stützt, kann man das weder rechtlich angreifen, noch überhaupt zweifelsfrei belegen?
Ja. (Ob sich das zweifelsfrei belegen ließe, ist revisionsrechtlich irrelevant.)
Mr_Black hat geschrieben:Im Zivilprozess muss der Zeuge seine protokollierte Aussage so genehmigen. Wenn er sagt, das Auto war rot und der Urkundsbeamte (bzw. der diktierende Richter) versteht und vermerkt blau, dann fällt das auf.
Wie viele Zivilprozesse dauern denn mehrere komplette Sitzungstage, ggf. Monate oder Jahre, haben eine zwei- oder dreistellige Anzahl von Zeugen, die nicht selten über Stunden, manchmal auch Tage vernommen werden?

Will sagen: die Zeugenaussage noch einmal ins Protokoll zu diktieren und dann noch einmal zu verlesen skaliert jetzt eher nicht so.

Aber dafür gilt immerhin der Vortrag der Staatsanwaltschaft nicht als zugestanden, falls er nicht bestritten wurde. :)

Re: NSU-Prozess

Verfasst: Montag 24. Juli 2017, 21:04
von Ara
thh hat geschrieben: Aber dafür gilt immerhin der Vortrag der Staatsanwaltschaft nicht als zugestanden, falls er nicht bestritten wurde. :)
Kommt auf den Amtsrichter drauf an :P

Re: NSU-Prozes

Verfasst: Montag 24. Juli 2017, 21:59
von julée
Ara hat geschrieben:
Mr_Black hat geschrieben:
thh hat geschrieben: Auch mit einer Verfahrensrüge lässt sich nicht vorbringen, dass das Ergebnis der Beweisaufnahme falsch widergegeben worden sei, denn eine Rekonstruktion der Hauptverhandlung ist unzulässig.

(Mir erschließt sich auch nicht, warum es hilfreicher sein sollte, wenn im Zweifel der Urkundsbeamte die Zeugenaussage missversteht oder falsch protokolliert ...)

Wenn also das Gericht das Ergebnis einer Zeugenaussage falsch wiedergibt und darauf die Verurteilung stützt, kann man das weder rechtlich angreifen, noch überhaupt zweifelsfrei belegen?

Im Zivilprozess muss der Zeuge seine protokollierte Aussage so genehmigen. Wenn er sagt, das Auto war rot und der Urkundsbeamte (bzw. der diktierende Richter) versteht und vermerkt blau, dann fällt das auf.
Naja seien wir ja mal realistisch. Es ist ja nicht so, dass ein Zeuge aussagt und dann alle darüber schweigen und auf einmal dann das Urteil auftaucht. In der Regel wird sich ja schon darüber ausgetauscht und es fällt auf, wenn die Verfahrensbeteiligte es völlig unterschiedlich aufgefasst haben.

In der Praxis ist es selten ein Problem, dass das Gericht den Zeugen missverstanden hat. Viel häufiger gibt es unterschiedliche Auffassungen zur Würdigung von dem was der Zeuge so gesagt hat. Das soll aber gerade nicht in der Revision überprüft werden. Das ist ja so gewollt.
Umgekehrt habe ich jetzt Anwälten schon ziemlich häufig erklären müssen, dass es ja schön ist, wenn sie so ein dynamisches Gespräch mit dem Zeugen abhalten, ich dann aber beim besten Willen beim Mitschreiben zwecks anschließendem Diktat nicht hinterherkomme, insbesondere wenn sie die Zeugen mit zig Detailfragen bombardieren, die irgendwie mit ins Protokoll sollten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Strafrichtern wesentlich besser geht, insbesondere, wenn sie nicht die unmittelbare Kontrolle ihrer Mitschriften durch das öffentliche Diktieren haben.

Re: NSU-Prozess

Verfasst: Dienstag 25. Juli 2017, 06:59
von Zippocat
http://www.spiegel.de/panorama/justiz/n ... 59473.html
SPON hat geschrieben:In Deutschland ist es nicht üblich, dass Gerichtsverhandlungen protokolliert werden.
:drinking:

Re: NSU-Prozess

Verfasst: Dienstag 25. Juli 2017, 09:54
von Syd26
Mr_Black hat geschrieben:
Im Zivilprozess muss der Zeuge seine protokollierte Aussage so genehmigen. Wenn er sagt, das Auto war rot und der Urkundsbeamte (bzw. der diktierende Richter) versteht und vermerkt blau, dann fällt das auf.
Ich bestreite das in dieser Pauschalität. Die meisten Zeugen sind bei einem ganz normalen Zivilprozess zum ersten Mal vor Gericht. Meist läuft es doch so ab, dass der Richter das Band nochmal vorspielt und die Zeugen das schlicht abnicken. Da sagt niemand, dass man beim zweiten Satz falsch verstanden wurde.

Wenn einer sagt, das Auto sei rot gewesen und alle anderen geben an, dieses war blau, werden Gericht und Anwälte in der Regel genauer nachfragen. Sollte es nur diesen einen Zeugen geben, wird man das eher nicht aufklären können.