Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Straf-, Strafprozeß- und Ordnungswidrigkeitenrecht sowie Kriminologie

Moderator: Verwaltung

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in dubio
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von in dubio »

famulus hat geschrieben:
Urs Blank hat geschrieben:Versteht man Art. 101 GG, § 16 GVG als umfassenden Schutz der rechtsprechenden Organe vor manipulierenden Eingriffen (so z. B. BVerfG, Beschluss vom 23.05.2012, Az. 2 BvR 610/12, „Doppelvorsitz beim BGH“), dürfte die Entscheidung des 2. Strafsenats im Ergebnis (die Begründung kennen wir ja noch nicht) m. E. kaum zu beanstanden sein, ob sie uns in der Praxis passt oder nicht.
Ohne vertiefte Auseinandersetzung mit der Rechtslage verstehe ich die Aufregung über die Entscheidung, dass ein Gericht, dem einem gesetzlichen Tätigkeitsverbot unterliegende Personen angehören, fehlerhaft besetzt ist, auch nicht.
Sehe ich genauso.
Ich glaube nicht, dass es ein derart großes Problem in der Praxis ist, wie es hier von manchen gemeint wird. Ja, die frische Lebenszeitrichterin im typischen Kinderwunschalter ist ein gewisser Risikofaktor. Ich frage mich nur, ob sie ein wesentlich größerer Risikofaktor ist, als der stark adipöse Kammervorsitzende im besten Herzinfarktalter. Wenn das Klima in der Kammer aber einigermaßen passt, sollte es doch wohl möglich sein, den Kinderwunsch mit möglichen Umfangsverfahren in Einklang zu bringen. Wenn jetzt ein umfangreicheres Verfahren von geplanten 40 auf 60 Hauptverhandlungstage anschwillt, würde die Rücksichtnahme auf die Kammer die persönliche Lebensplanung der Richterin nach meinem Dafürhalten nicht übermäßig beeinträchtigen. Anders sieht es aus, wenn aus geplanten 40 plötzlich unvorhergesehen 100 oder mehr Hauptverhandlungstage werden. Aber wie wahrscheinlich ist es, dass so etwas tatsächlich nicht absehbar ist? Und sollte sich eine derartige Verzögerung abzeichnen, muss eben ein Ergänzungsrichter eingesetzt werden, alles andere ist grob fahrlässig. Spart man am Ergänzungsrichter, muss man eben damit leben, dass ein Prozess 2x durchgezogen werden muss.
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thh
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Re: AW: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von thh »

in dubio hat geschrieben:Wenn das Klima in der Kammer aber einigermaßen passt, sollte es doch wohl möglich sein, den Kinderwunsch mit möglichen Umfangsverfahren in Einklang zu bringen.
Wie macht man das (legal)? Die Spruchkörperbesetzung ergibt sich aus dem kamnerinternen GVP.
in dubio hat geschrieben: Wenn jetzt ein umfangreicheres Verfahren von geplanten 40 auf 60 Hauptverhandlungstage anschwillt, würde die Rücksichtnahme auf die Kammer die persönliche Lebensplanung der Richterin nach meinem Dafürhalten nicht übermäßig beeinträchtigen.
Das verstehe ich, ehrlich gesagt, nicht recht. Es stellt sich also heraus, dass die HV länger als erwartet dauert, so dass sie vor der Entbindung nicht abgeschlossen werden kann. Wie nimmt die Richterin da jetzt Rücksicht? Schnell mal abtreiben und später nochmal versuchen?
in dubio hat geschrieben:Anders sieht es aus, wenn aus geplanten 40 plötzlich unvorhergesehen 100 oder mehr Hauptverhandlungstage werden. Aber wie wahrscheinlich ist es, dass so etwas tatsächlich nicht absehbar ist? Und sollte sich eine derartige Verzögerung abzeichnen, muss eben ein Ergänzungsrichter eingesetzt werden, alles andere ist grob fahrlässig.
Wenn sich die Verzögerung während der HV abzeichnet, ist es dafür eben zu spät.
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Urs Blank
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von Urs Blank »

Aber ist es denn wirklich irgendwo (außerhalb des LG Darmstadt) gängige Praxis, dass im Fall des Falles die Richterin trotz Mutterschutz weiter an der Verhandlung teilnimmt, was ja - völlig unabhängig von der Besetzungs- und Revisionsproblematik - klar rechtswidrig wäre? Oder dass diese Option zumindest in die Planung der Geschäftsverteilung eingestellt wird?
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Tibor
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von Tibor »

Nein sicher nicht. Das Problem bei kleineren LG ist doch, dass die Richterin nach der Geburt sicherlich die Wahl hatte: Daheim beim Baby bleiben und nach der Elternzeit das Verfahren komplett neu durchzusitzen, bzw. den Kollegen das "anzutun" oder mal eben für die Verlesung von paar Beschlüssen im faktischen Schiebetermin reinzuschauen, um das lästige Verfahren fertig zu bekommen, ohne neu anfangen zu müssen.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von julée »

Tibor hat geschrieben:Nein sicher nicht. Das Problem bei kleineren LG ist doch, dass die Richterin nach der Geburt sicherlich die Wahl hatte: Daheim beim Baby bleiben und nach der Elternzeit das Verfahren komplett neu durchzusitzen, bzw. den Kollegen das "anzutun" oder mal eben für die Verlesung von paar Beschlüssen im faktischen Schiebetermin reinzuschauen, um das lästige Verfahren fertig zu bekommen, ohne neu anfangen zu müssen.
Eben, zumal ja vielleicht auch die junge Mutter froh ist, mal für ein paar Stunden aus dem Haus zu kommen und sich kurz den BZR-Auszug vorlesen zu lassen.

Und auch an größeren LG dürfte sich die Frage stellen, was tun, wenn die junge Richterin in einem Verfahren festsitzt, das nicht, wie zuvor gedacht, 3 oder 4 Monate, sondern 12 oder mehr Monate lang dauert? Kinder sind ja nicht immer so ganz planbar (bzw. ein Aufschub des Kinderwunsches auch nur begrenzt eine Option).
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von Swann »

Der 2. Strafsenat ist wieder mal zwischen seinen Sitzungsgruppen gespalten.

VRiBGH Fischer, RiBGH Krehl, RiBGH Eschelbach, RiBGH Zeng und Ri'inBGH Bartel wollen BtM aus dem Schutzbereich des § 253 StGB herausnehmen (BGH, Beschl. v. 01.06.2016 - 2 StR 335/15).

Demgegenüber sieht RiBGH Appl das offenbar anders als RiBGH Krehl, denn in der Besetzung VRiBGH Fischer, RiBGH Appl, RiBGH Eschelbach, RiBGH Zeng und Ri'inBGH Bartel soll es weitergehen wie bisher (BGH, Urt. v. 22.9.2016, 2 StR 27/16).

Der richtungsweisende Einfluss des Vorsitzenden auf die Rechtsprechung seines Senates scheint beim 2. Strafsenat nicht so ausgeprägt zu sein.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von thh »

Swann hat geschrieben:Der richtungsweisende Einfluss des Vorsitzenden auf die Rechtsprechung seines Senates scheint beim 2. Strafsenat nicht so ausgeprägt zu sein.
Vermutlich liest der Senat einfach zu wenig die ZEIT.
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batman
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von batman »

Durch den 2. Senat verläuft eben ein Graben. Mal sehen, wo sich Herr Grube einsortiert...
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Justitian
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von Justitian »

batman hat geschrieben: Neuer Anlauf: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-b ... =0&anz=195
Ist nicht eigentlich die Postpendenzfeststellung viel problematischer als die echte Wahlfeststellung? Ohne die Postpendenz müsste ja sogar ein Freispruch ergehen wenn die alte Tat nicht angeklagt ist, bei der Wahlstellung geht es ja "nur" um das Delikt dessetwegen verurteilt wird.
"[...] führt das ja nicht dazu, dass eine Feststellungsklage mit dem Inhalt "Wie wird das Wetter morgen?" zulässig wird" - Swann, 01.03.17
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von sai »

Justitian hat geschrieben:
batman hat geschrieben: Neuer Anlauf: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-b ... =0&anz=195
Ist nicht eigentlich die Postpendenzfeststellung viel problematischer als die echte Wahlfeststellung? Ohne die Postpendenz müsste ja sogar ein Freispruch ergehen wenn die alte Tat nicht angeklagt ist, bei der Wahlstellung geht es ja "nur" um das Delikt dessetwegen verurteilt wird.
Das eigentliche Problem bzw der Kern der Diskussion ist die Frage, ob die Wahlfestellung materielles Strafrecht oder Prozessrecht ist. Ersterenfalls fehlt es für alle Ausprägungen an der gesetzlichen Grundlage.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von batman »

Der 5. Strafsenat hat übrigens nach 2 Jahren Interregnum wieder einen Vorsitzenden.
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Zippocat
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von Zippocat »

Wie Urteile bei Tötungsdelikten eben so beginnen...
BGH, 2 StR 19/16 hat geschrieben:Der Angeklagte A. D. benutzte oft den Bürgersteig vor der Doppelgarage des Zeugen Dr. J. zum Abstellen seines Fahrzeugs.
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von [enigma] »

Zippocat hat geschrieben:Wie Urteile bei Tötungsdelikten eben so beginnen...
BGH, 2 StR 19/16 hat geschrieben:Der Angeklagte A. D. benutzte oft den Bürgersteig vor der Doppelgarage des Zeugen Dr. J. zum Abstellen seines Fahrzeugs.
Falsches Urteil? Clickbait? :-k ;)
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Zippocat
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von Zippocat »

[enigma] hat geschrieben:
Zippocat hat geschrieben:Wie Urteile bei Tötungsdelikten eben so beginnen...
BGH, 2 StR 19/16 hat geschrieben:Der Angeklagte A. D. benutzte oft den Bürgersteig vor der Doppelgarage des Zeugen Dr. J. zum Abstellen seines Fahrzeugs.
Falsches Urteil? Clickbait? :-k ;)
Danke :twevil

Az. stimmt, Link nicht. Meinen Post kann ich nicht mehr editieren, daher: http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-b ... =509&pos=2
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Urs Blank
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Re: Aktuelles aus dem Strafrecht (reloaded)

Beitrag von Urs Blank »

Das BMJV plant eine Verschärfung des Strafrechts: Der Strafrahmen des minder schweren Falls nach § 244 Abs. 3 StGB soll für Wohnungseinbruchsdiebstähle nicht mehr gelten.

http://www.zeit.de/politik/deutschland/ ... re-strafen

Die Argumente (mögliche traumatische Folgen für die Opfer u. ä.) sind übrigens dieselben, mit denen bei der großen Strafrechtsreform 1998 die Beförderung des Wohnungseinbruchsdiebstahls vom Regelbeispiel des § 243 Abs. 1 Nr. 1 StGB a. F. zur selbständigen Qualifikation des § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB gerechtfertigt wurde. Prognostisch ist dann für 2030 mit einer Aufwertung zum Verbrechenstatbestand zu rechnen...

Überflüssig zu sagen, dass es sich um Symbolpolitik erster Güte handelt: Weder wird sich irgendein potentieller Täter von dieser Gesetzesänderung abschrecken lassen, noch sind irgendwelche Probleme der Praxis bekannt, innerhalb der geltenden Strafrahmen angemessene Strafen für Einbrecher auszuurteilen.
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