hlubenow hat geschrieben:Es ist doch eigentlich allgemeine Meinung, daß es ein Makel des Strafverfahrens ist, daß es sich vornehmlich um den Angeklagten kümmert, und daß die Rechte des Opfers, bzw. der Angehörigen des Opfers stärker berücksichtigt werden sollten.
Zumindest in der strafrechtlichen Praxis würde ich eher davon ausgehen, dass die Auffassung vorherrscht, die Ausweitung der Opferbeteiligung habe das Maß des Erträglichen erreicht, wenn nicht überschritten.
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Der Strafprozess soll gerade kein Parteiprozess sein, in dem das Opfer oder seine Angehörigen dem (mutmaßlichen ...) Täter gegenübertreten und mit ihm abrechnen, ihm ihren - verständlichen - Schmerz, meist ihre Wut, vielleicht auch ihren Hass ins Gesicht schleudern können, während er sich das von Gesetzes wegen anhören muss, die bei Äußerungen der Angeklagten "verächtlich schnauben" oder "abschätzige Kommentare murmeln" (und zwar offensichtlich so, dass sie für Zuschauer verständlich sind), die ihr Leid gegen das den Angeklagten zuzufügende Leid abwägen.
Der - nicht selten schwierigen - Ermittlung des (möglichst) wahren Sachverhalts und der Findung einer angemessenen Sanktion tut die Befrachtung des Verfahrens mit Emotionen nicht gut, und welches (mutmaßliche ...) Opfer kann schon
nicht emotional sein?
Der Strafprozess hat eine klare Aufgabe: den strafrechtlich relevanten Sachverhalt aufzuklären (nicht aber einen geschichtlichen Lebensvorgang aufzuklären und die Fragen zu beantworten, mit denen sich Angehörige oft quälen, die aber für die Schuld- und Rechtsfolgenentscheidung nicht von Bedeutung sind) und eine angemessene Rechtsfolge zu finden, mit der der Staat (nicht die Angehörigen) straft, unpersönlich (und nicht aus persönlicher Betroffenheit), als Sühne für die Schuld (nicht aber als Vergeltung durch Betroffene), zur individuellen und kollektiven "Abschreckung" und Mahnung zur Einhaltung der Gesetze, und mit dem Ziel, den Bestraften (danach wieder) in die Gesellschaft einzugliedern. Dafür haben Strafverfolgungsbehörden und die Strafjustiz umfangreiche, tiefgehende Eingriffsrechte, die auch nur daraus ihre Rechtfertigung gewinnen und die in einem Parteiprozess, wo das (mutmaßliche ...) Opfer seinem (mutmaßlichen ...) Peiniger gegenübertritt, keinen Platz haben dürften.
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Dieser Aufgabe, diesem Ziel und Zweck des Strafprozesses ist es immanent, dass die Angeklagten mehr im Fokus stehen als die Geschädigten, und zwar in mehrerlei Hinsicht:
Zum einen trifft bei der Klärung der Schuldfrage der Vorwurf den Angeklagten, und daher ist es immer von Bedeutung, was er sich gedacht hat, was er gefühlt, was er getan hat, denn er muss vorsätzlich gehandelt oder eine Sorgfaltspflicht verletzt haben. Viel weniger bedeutsam sind Verhalten und vor allem Gedankenwelt des Geschädigten, denn für die Mehrzahl der Tatbestände ist es weitgehend egal, wie der Geschädigte sich verhalten hat.
Zum anderen steht auch bei der Strafzumessung die Persönlichkeit des Angeklagten im Vordergrund, nicht die des Geschädigten, denn das Maß der Schuld des Angeklagten ist festzustellen, nicht aber das Verhalten des Geschädigten, es sei denn, er hat auch "Schuld" an dem Geschehen. Es darf keine Rolle für die Strafzumessung spielen, ob das Nesthäkchen, der Augenstern einer glücklichen Familie, die erfolgreiche Jurastudentin sinnlos totgefahren wird oder der Säufer, dessen Frau insgeheim ganz froh ist, dass er sie jetzt nicht mehr jeden zweiten Abend verprügelt - denn wir bewerten nicht zwischen der fahrlässigen Tötung wertvoller Menschen oder lebensunwerten Lebens, und das ist auch gut so. Dann aber spielt die Persönlichkeit des Tatopfers zu Recht kaum eine Rolle, und dann gibt es auch keinen Grund, sie näher zu erörtern. Auch dafür gibt es freilich seinen Platz, wo es nur und ausschließlich um das Opfer geht, aber dieser Platz ist nicht der Gerichtssaal, sondern - zum Beispiel - die Trauerfeier. So wenig angebracht es wäre, dem Täter zu gestatten, auf der Trauerfeier zu verkünden, dass vielleicht das Opfer auch unvorsichtig gefahren sei (oder auch nur, sich zu entschuldigen, wenn das nicht gewünscht wird), so wenig haben abfälliges Gemurmel und spöttisches Schnauben und - nachvollziehbare, berechtigte - Vorwürfe und Anwürfe der leidenden Hinterbliebenen im Gerichtssaal ihren angemessenen Platz.
Und schließlich übt im Strafverfahren der Staat ganz unmittelbar und so hart und stringent wie sonst kaum irgendwo (außer vielleicht durch die Finanzverwaltung ...) seine (justizielle) Macht aus, und dafür muss er sich rechtfertigen; dem stehen (vielleicht zu) umfangreiche prozessuale Sicherungen auf Seiten desjenigen gegenüber, gegen den der Staat seine Machtfülle zum Tragen bringt. Auch deshalb muss es im Strafverfahren im Kern um die Rechte der Angeklagten gehen, und auch deshalb verträgt sich die Ausübung des staatlichen Strafanspruchs nur sehr schlecht mit der Vertretung der Opferinteressen im selben Verfahren.
hlubenow hat geschrieben:Deshalb gibt es ja schon Institute wie die Nebenklage, den Täter-/Opfer-Ausgleich und das Adhäsionsverfahren oder Institutionen wie den Weißen Ring. Wobei eigentlich Einigkeit herrscht, daß dies immer noch nicht ausreicht und daß das Strafverfahren verfahrensbedingt immer noch zu täterzentriert ist.
Diese Einigkeit sehe ich bei den professionellen Verfahrensbeteiligten keineswegs. Auf keiner Seite.
Die Nebenklage ist realiter auf der einen Seite nicht selten geeignet, das Verfahren massiv zu belasten, zu verkomplizieren und seinen "Erfolg" - sowohl im Sinne der Nebenkläger als auch Sinne der Sachverhaltsaufklärung und Strafzumessung -- zu gefährden. Auf der anderen Seite führt sie fast immer zu enttäuschten Erwartungen bei der Nebenklage, weil der Strafprozess nicht leisten kann, was man sich von ihm erwartet: Aufklärung und Antworten nach dem Wie, vor allem aber dem Warum, die es oft genug nicht gibt oder die dann erschreckend banal sind; Mitgefühl, Entschuldigung, Wiedergutmachung, Übernahme von Verantwortung durch die Täter; die Möglichkeit, abzuschließen. Diese Wünsche sind verständlich; sie sind aber oft schon bei Unfällen oder Erkrankungen (oder Selbsttötungen) nicht zu erfüllen, und noch viel weniger sind sie es in einem rechtsstaatlichen Verfahren. Niemand kann gezwungen werden, "die Wahrheit" oder überhaupt auszusagen, sich zu entschuldigen, zu bereuen oder Verantwortung zu übernehmen - erst recht überfrachten diese Wünsche den Strafprozess.
hlubenow hat geschrieben:Aber daß jemand sagt, das soll auch so sein, und die Opfer und ihre Angehörigen sollen doch sehen, wo sie bleiben, ist reichlich abwegig und verkennt letztlich auch die Aufgaben eines Rechtsstaates.
Ja, das soll so sein. Das Strafverfahren dient der Feststellung der Schuld und der Festlegung der Strafe des Täters. Er wird beschuldigt, angeklagt, muss sich verteidigen und wird dann abgeurteilt und im Zweifel bestraft. Natürlich steht er deshalb im Zentrum dieses Verfahrens, und das kennzeichnet gerade den Rechtsstaat.
Nein, natürlich sollen die Angehörigen" nicht sehen, wo sie bleiben". Der geeignete Platz für ihre Fragen, ihre Trauer, ihre Wut, ihre Vorwürfe, ihr Leid, ihre Anklage, ihre Rachewünsche ist aber nicht der Strafprozess. Der kann nämlich nicht einerseits neutral dem (möglicherweise gar unschuldigen) Angeklagten und zugleich empathisch-mitfühlend dem Opfer (wenn es denn eines ist) gegenübertreten.
Und Opfer wie Angehörige brauchen jedenfalls in der Zeit der Trauer alles, aber keine objektive Bewertung des Geschehens. Die Eltern, die ihre Kinder weiter an der belebten Straße fangen spielen lassen, obwohl sie mehrfach im Eifer des Spiels auf dieselbe rennen, wollen
natürlich die Bestrafung des Autofahrers, der ihr Kind totgefahren hat, obschon der Unfall für ihn - rechtlich - unvermeidbar war, und des Verkehrsdezernenten, weil der keine Geschwindigkeitsbegrenzung oder Gitter an der Gehwegkante angebracht hat, und sie wollen das mit aller Macht und blindlings und ohne Gefühl für Zwischentöne, und das ist auch ihr gutes Recht, wie es auch ihr gutes Recht ist, damit für sich selbst von der Frage abzulenken, ob nicht auch sie eine - vielleicht sogar die größte - Mitschuld tragen. Es ist aber
nicht ihr gutes Recht, diesem unbedingten, mit der objektiven Sachlage nicht vereinbaren Bestrafungswunsch in einem Strafverfahren Ausdruck zu verleihen, und es ist sicherlich für niemanden förderlich, wenn Verteidigung, Richter oder Staatsanwaltschaft ihnen - objektiv zutreffend - mitteilen müssen, dass wenn überhaupt jemand eine Schuld am Tod ihres Kindes trägt, sie das sind, oder wenn gar (als Reaktion auf ihr Verhalten) Strafanzeige gegen sie wegen fahrlässiger Tötung erstattet und ggf. gegen sie ermittelt wird.