Anubis hat geschrieben:Ich weiß nicht so recht, wie ich einen Einstieg in dieses Thema finde…
Bekanntlich weicht das Rechtsempfinden weiter Teile der Bevölkerung oft von der Rechtsprechung ab, was im Strafrecht besonders deutlich wird, wo von der Bevölkerung gerne auch mal sehr harte Strafen für Verbrechen gefordert werden oder Urteile als zu milde empfunden werden. Bereitet es Euch manchmal Kopfzerbrechen, warum Recht- und Rechtsempfinden scheinbar soweit voneinander abweichen?
Bei der Kritik an vermeintlich zu milden Urteilen, die natürlich ohne Kenntnis des eigentlichen Falls ausschließlich auf oftmals dürftigen Pressemitteilungen basiert, wird häufig angeführt, die weltfremden Richter hätten bestimmt anders geurteilt, wenn sie sich in die Rolle des Opfers hineinversetzt hätten. Wenn z.B. bei einer fahrlässigen Tötung eine Bewährungsstrafe verhängt wird, findet sich sehr schnell jemand, der schreit, der Richter hätte das anders gesehen, wenn sein Sohn hätte dran glauben müssen.
Mein Eindruck ist, dass Menschen, die ansonsten über zu lasche Urteile wettern, sich ebenso laut beschweren, wenn sie selbst beschuldigt werden. Dann ist die Justiz selbstredend viel zu hart.
Bei aller Bereitschaft zu Justizkritik: In den allermeisten Fällen sind die Entscheidungen in einem völlig vertretbaren Rahmen. Über Problemfälle kann und muss man diskutieren. Ich bin mir auch nicht sicher, ob die Rechtspraxis sich tatsächlich vom Gerechtigkeitsempfinden in der breiten Bevölerung entfernt hat, oder ob das nur herbeigeredet/herbeigeschrien wird. Die Lautstärke, mit der Missstände behauptet werden, sagt nur sehr bedingt etwas über die Validität der Argumente aus. Aber egal, ob berechtigt, oder nicht, die von Anubis angesprochene Diskussion besteht - und die Politik reagiert bereits darauf. Ob die Strafrechtsverschärfungen der letzten Monate sinnvoll sind, darf indes bezweifelt werden.
immer locker bleiben hat geschrieben:hlubenow hat geschrieben:Vor allem hatte ich mal darüber nachgedacht, daß eine Rechtswissenschaft als Wissenschaft (die also ein der Welt immanentes Phänomen untersucht) eigentlich versuchen müßte, herauszufinden, was das Rechtsempfinden, bzw. das Rechtsgefühl überhaupt ist, wann es entsteht und wie es sich äußert.
Das ist ja überhaupt nicht Gegenstand des Fachs, das man als "Rechtswissenschaft" heute (und schon immer) studieren kann.
Doch. Das ist Teil des Fachs. Nur weil die meisten Studenten zu den Grundlagenveranstaltungen Rechssoziologie und Rechtsphilosophie nicht hingehen und auch kein Buch lesen, heißt es nicht, dass das nicht Teil der Disziplin wäre.
Dazu vollste Zustimmung. Hier gibt/gäbe es zumindest Ansätze für die angesprochenen Probleme. Allerdings findet rechtssoziologische Forschung so gut wie nicht statt. Irgendwie scheint empirische Forschung bei Juristen verpönt zu sein. Selbst bei aktuellen kriminologischen Aufsätzen ist die Datenbasis oft hoffnungslos veraltet und genüt den Standards anderer Disziplinen ("echte" Soziologie, Psychologie) nicht. Damit fehlt es an einer soliden Grundlage auch und gerade für rechtspolitische Dikussionen. Ich sehe hier ein großes Versäumnis der rechtswissenschaftlichen Forschung. Darüber, ob der schlechte Zustand der Fächer oder das mangelnde Interesse der Stundenten die Ursache ist, kann man trefflich streiten. Hat ein wenig von Henne-Ei-Problem.
hlubenow hat geschrieben:
Ich dachte mehr an einen psychologischen Ansatz, den man wahrscheinlich aber erst verwirklichen kann, wenn man das Gehirn besser versteht.
Es gibt ja auch Sozialpsychologie. Bei dem gegenwärtigen Zuschnitt der Fakultäten könnte man das am besten bei Rechtssoziologie oder Kriminologie andocken.
Natürlich kann man warten, bis man das Gehirn besser versteht. Oder man nähert sich in den Bereichen bereits jetzt den empirischen Wissenschaften an. Für Grundlagenforschung kann es doch gar nicht zu früh sein.
dumdum hat geschrieben:
Problematisch ist, was die Rechtspraxis oft aus dem Recht macht - gerade wenn es um die geschickte Verwendung prozessualer Regeln usw. geht...
Diese Aussage meinst Du doch hoffentlich nicht ernst. Die Einhaltung prozessualer Regeln zur Urteilsfindung ist elementare Voraussetzung eines Rechtsstaats (als Stichworte nur "geronnenes Verfassungsrecht" und "Legitimation durch Verfahren"). Wenn eine Entscheidung, der die "geschickte Verwendung prozessualer Regeln" zu Grunde liegt, nicht mit dem eigenen Gerechtigkeitsgefühl übereinstimmt, heißt das nicht, dass die Rechtspraxis etwas problematisches aus dem Recht gemacht hat. Wahrscheinlicher ist aber, dass der eigene Gerechtigkeitskompass Schlagseite hat.
Für eine Rechtspraxis, die prozessuale Regeln außer Acht lässt, um zu verhindern, dass etwas vermeintlich problematisches aus dem Recht gemacht wird, gibt es einen Fachterminus: Willkür.
Dass man solche rechtsstaatlichen Grundsätze einem juristischen Laien erklären muss - geschenkt. Dass das für Journalisten, die hauptberuflich über Prozesse berichten, nicht selbstverständlich ist - traurig, aber damit kann und muss man umgehen. Dass sowas ernsthaft in einem juristischen Fachforum behauptet wird, finde ich aber erschütternd. Vielleicht besteht ja ein Zusammenhang zu dem schlechten Zustand der Grundlagenfächer...