Jugendstrafrecht - Erfahrung eines Schöffen

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Ara
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Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von Ara »

Tobias__21 hat geschrieben:Mal ne andere Frage @Ara und @Enigma:

Woher rührt Euer Interesse für das Jugendstrafrecht? Hattet Ihr einen strafrechtlichen Schwerpunkt während dem Studium?
War hier großer Bestandteil des Schwerpunktes. Sowohl Jugendstrafrecht als auch Jugendkriminologie. In der Praxis hat man eher wenig damit zu tun, weil kaum Verteidiger in Jugendstrafaachen auftauchen. Ehrlicherweise muss man auch sagen, dass die meiste. Jugendrichter und Jugendstaatsanwälte nicht unbedingt das machen was die JGG und was aktuelle Erkenntnis der Wissenschaft gebieten. Die ham nämlich auch das Problem nie an der Uni Jugendkriminologie (oder auch nur Kriminologie) gehört zu haben und neben dem Job keine Zeit sich damiT zu beschäftigen.
thh hat geschrieben: Insgesamt überzeugt mich die Argumentation im Übrigen wenig. Wäre es zutreffend, dass sich auch schwere Gewalt- und Straftaten schlicht "auswachsen", wäre es ja geradezu geboten, die Betreffenden so lange durch Inhaftierung von ihren potentiellen Opfern zu isolieren, nicht wahr? Im Jugendstrafvollzug treffen sie ohnehin nur auf andere Jugendliche, die sie - dieser Logik folgend - kaum negativ beeinflussen können, weil sie ebenfalls dem Selbstheilungsprozess unterliegen. Ansonsten könnte man das Jugendstrafrecht schlicht für Täter bis 25 Jahre abschaffen, weil sie danach geläutert durchs Leben gehen. Das erscheint mir insgesamt ein doch eher unterkomplexer Ansatz zu sein.
Ich bin mir nicht sicher ob das ernstgemeint ist oder zynisch. Die Turning-Points (wie Beziehung, Familiengründung, Ausbildung usw) treten nur in Freiheit auf. Auch ist bekannt, dass gerade im Alter 13-18 Jahren eine Abkopplung vom Elternhaus und die Erlernung der Selbstständigkeit erfolgt. Das ist im Gefängnis nicht möglich, wenn dir Essen gebracht wird und bestimmt wird wann du duscht. Die Entwicklung die ein Mensch in diesen 5 Jahren durchläuft prägt ihn meist mehr als die restlichen 70 Jahre.

Man könnte Jugendstrafrecht ganz abschaffen ja. Belgien sieht zB die strafmündigkeit mit 18 vor. Man regelt dort alles mit dem Sozialrecht.
Die von der Klägerin vertretene Auffassung, die Beeinträchtigung des Wohngebrauchs sei durch das Zumauern der Fenster nur unwesentlich beeinträchtigt, ist so unverständlich, dass es nicht weiter kommentiert werden soll. - AG Tiergarten 606 C 598/11
Tobias__21
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Re: Jugendstrafrecht - Erfahrung eines Schöffen

Beitrag von Tobias__21 »

@Ara: Danke, interessant. In den Jugendverhandlungen (sowohl Richter als auch JSG) in denen ich dabei war, waren immer Verteidiger am Start. Das waren auch immer dieselben Gesichter. Ein Verteidiger scheint mir nichts anderes als Jugendsachen zu machen. Den seh ich jede Woche nur am Gebäude für Jugendsachen (das ist hier etwas versetzt neben dem eigentlichen Gericht). Die Sache mit dem Jugendstaatsanwalt scheint mir auch eine pro forma Sache zu sein. Hier machen das Berufsanfänger, neben der üblichen Sitzungsarbeit im Erwachsenenstrafrecht. Was die genau zum Jugendstaatsanwalt befähigt, weiss ich auch nicht. Gut, die meisten haben selbst Kinder, aber dass es da irgendeine besondere Ausbildung im Vorfeld gibt, scheint mir nicht der Fall zu sein. Zumindest nix was über eine Art Seminar/Kurs hinausgeht (wobei ich selbst das bezweifle). Der Begriff steht halt so im Gesetz. Wie es bei den Richtern aussieht weiss ich nicht. Die, die ich erlebt habe, schienen mir allesamt sehr erfahren in der Materie.
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Re: Jugendstrafrecht - Erfahrung eines Schöffen

Beitrag von Gelöschter Nutzer »

Tobias__21 hat geschrieben:@Ara: Danke, interessant. In den Jugendverhandlungen (sowohl Richter als auch JSG) in denen ich dabei war, waren immer Verteidiger am Start. Das waren auch immer dieselben Gesichter. Ein Verteidiger scheint mir nichts anderes als Jugendsachen zu machen. Den seh ich jede Woche nur am Gebäude für Jugendsachen (das ist hier etwas versetzt neben dem eigentlichen Gericht). Die Sache mit dem Jugendstaatsanwalt scheint mir auch eine pro forma Sache zu sein. Hier machen das Berufsanfänger, neben der üblichen Sitzungsarbeit im Erwachsenenstrafrecht. Was die genau zum Jugendstaatsanwalt befähigt, weiss ich auch nicht. Gut, die meisten haben selbst Kinder, aber dass es da irgendeine besondere Ausbildung im Vorfeld gibt, scheint mir nicht der Fall zu sein. Zumindest nix was über eine Art Seminar/Kurs hinausgeht (wobei ich selbst das bezweifle). Der Begriff steht halt so im Gesetz. Wie es bei den Richtern aussieht weiss ich nicht. Die, die ich erlebt habe, schienen mir allesamt sehr erfahren in der Materie.
In der Schweiz müssen Jugendanwälte (= Jugendstaatsanwälte) noch zusätzlich Weiterbildung in Richtung Pädagogik, Psychologie und Soziologie vorweisen bzw. das entspricht dem Stellenprofil. Anwälte, die Jugendliche vertreten, werden wieder angefragt, weil diese durch Erfahrung mit der Materie den Grundgedanken des Jugendstrafrechts besser verstehen, das erleichtert die Zusammenarbeit und hat Vorrang im Jugendstrafrecht, wo stark teamorientiert gearbeitet wird, um die Jugendlichen zu resozialisieren. Die Gerichtsverhandlung ist nur ein Aspekt, die meisten Sitzungen finden in den Einrichtungen der Wiedereingliederung statt, zusammen mit den Sozialpädagogen, Eltern oder Beiständen etc. und den Jugendlichen selbst.
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Ara
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Re: Jugendstrafrecht - Erfahrung eines Schöffen

Beitrag von Ara »

Tobias__21 hat geschrieben:Die Sache mit dem Jugendstaatsanwalt scheint mir auch eine pro forma Sache zu sein. Hier machen das Berufsanfänger, neben der üblichen Sitzungsarbeit im Erwachsenenstrafrecht. Was die genau zum Jugendstaatsanwalt befähigt, weiss ich auch nicht. Gut, die meisten haben selbst Kinder, aber dass es da irgendeine besondere Ausbildung im Vorfeld gibt, scheint mir nicht der Fall zu sein.
Dazu aus dem Eisenberg:

"Abgesehen von der eher ungenauen und unvollständigen Zusammenstellung bedeutsamer Disziplinen ist mit Peters (85, 594) davon auszugehen, dass eine Ausbildung zur Erlangung entsprechender Kenntnisse notwendig ist (ähnlich Dallinger/Lackner Rn 5; Scholz DVJJ-J 99, 238: „fundierte Kenntnisse in der Kriminologie“; vgl aus psychologischer Sicht auch schon Waldeck RdJ 56, 216, 232f); denn auch durch langjährige Berufspraxis werden diese erforderlichen Kenntnisse nicht erworben (dazu schon Hinrichsen RdJ 55, 366f; Messerer UJ 51, 2, 4)."

Die Praxis sieht so aus, dass häufig die einzige Qualifikation ist, dass der StA selbst Kinder hat.

Oder Eisenberg wieder:

"Nach einer bundesweiten Umfrage (betr knapp 800 Staatsanwälte mit mindestens teilweiser Tätigkeit in JStrafsachen) wurden etwa 60 % der Befragten „zufällig“ JStaatsanwälte, und nur etwa ein Drittel hat sich um eine Stelle als JStaatsanwalt bemüht (s Albrecht DVJJ 84, 155)."
Die von der Klägerin vertretene Auffassung, die Beeinträchtigung des Wohngebrauchs sei durch das Zumauern der Fenster nur unwesentlich beeinträchtigt, ist so unverständlich, dass es nicht weiter kommentiert werden soll. - AG Tiergarten 606 C 598/11
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Re: Manches muss einfach gemeldet werden

Beitrag von [enigma] »

thh hat geschrieben: Insgesamt überzeugt mich die Argumentation im Übrigen wenig. Wäre es zutreffend, dass sich auch schwere Gewalt- und Straftaten schlicht "auswachsen", wäre es ja geradezu geboten, die Betreffenden so lange durch Inhaftierung von ihren potentiellen Opfern zu isolieren, nicht wahr? Im Jugendstrafvollzug treffen sie ohnehin nur auf andere Jugendliche, die sie - dieser Logik folgend - kaum negativ beeinflussen können, weil sie ebenfalls dem Selbstheilungsprozess unterliegen. Ansonsten könnte man das Jugendstrafrecht schlicht für Täter bis 25 Jahre abschaffen, weil sie danach geläutert durchs Leben gehen. Das erscheint mir insgesamt ein doch eher unterkomplexer Ansatz zu sein.
Deine Kritik an diesem Ansatz ist auch nicht viel komplexer ;) Die Selbstheilungsprozesse setzen die soziale Einwirkung von außen voraus, freiheitsentziehende Maßnahmen stehen dem entgegen, weil das soziale Umfeld in der Haft immer schlechter sein wird, als draußen. Man könnte natürlich den Jugendstrafvollzug zwingend und konsequent an den Erziehungsbedürfnissen orientieren, was aber in nur sehr wenigen Jugendhaftanstalten in Deutschland der Fall ist. Selbst dann werden die mit der Haft verbundenen, nachteiligen Sozialisierungseffekte aber erst bei Freiheitsentzug von über einem Jahr ausgeglichen. Weil die erzieherische Einwirkung im Vollzug in der kurzen Zeit ansonsten nicht möglich ist, der Jugendliche aber den negativen Auswirkungen (Unselbstständigkeit, Kontakt zu anderen Straftätern, Stigmatisierung, Verschlechterung der Resozialisierungsmöglichkeiten) voll ausgesetzt ist. Diese Erkenntnis (damals wohl eher noch 6 Monate statt ein Jahr) hatte man bereits in den späten 40er Jahren (vgl. BT-Drcks I/4437 S. 5, r.Sp.), einer Zeit, in der Kuschelpädagogik nicht wirklich en vogue war ;)

Deshalb besteht im Jugendstrafrecht tatsächlich die Tendenz, die Vollstreckung kurzer Jugendstrafen so gut es geht zu vermeiden. Die hM der Lit geht - im Übrigen sehr wohl mit empirisch belegten Argumenten - mittlerweile wie gesagt davon aus, dass Jugendstrafen unter einem Jahr in aller Regel mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen. Die Praxis scheint das zu akzeptieren. Jugendstrafen ab einem Jahr werden aber gerade nicht häufiger ausgesetzt als bei Erwachsenen, siehe oben.
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Re: Jugendstrafrecht - Erfahrung eines Schöffen

Beitrag von Eagnai »

Tobias__21 hat geschrieben:Die Sache mit dem Jugendstaatsanwalt scheint mir auch eine pro forma Sache zu sein. Hier machen das Berufsanfänger, neben der üblichen Sitzungsarbeit im Erwachsenenstrafrecht. Was die genau zum Jugendstaatsanwalt befähigt, weiss ich auch nicht. Gut, die meisten haben selbst Kinder, aber dass es da irgendeine besondere Ausbildung im Vorfeld gibt, scheint mir nicht der Fall zu sein.
In dem Bezirk, in dem ich das Referendariat gemacht habe, war es völlig üblich, dass auch Referendare den Sitzungsdienst in Jugendstrafsachen wahrnehmen. Da kann man dann wirklich nicht mehr von einem "Jugendstaatsanwalt" reden.

In meinem heutigen Bezirk werden zwar keine Referendare in Jugendsachen geschickt, sonst kann es aber jeden treffen (sowohl Staats- als auch Amtsanwälte, auch solche, die sonst kein Jugenddezernat haben). Auf den verpflichtenden Ersttagungen für Berufsanfänger wird mal kurz ein paar Stunden lang auf die Besonderheiten des Jugendstrafrechts eingegangen, das war es dann aber auch schon mit der "Ausbildung". Ich habe mich beim Berufseinstieg noch vergleichsweise vertraut gefühlt mit der Materie, weil das Jugendstrafrecht Teil meines SPB war und ich in der Wahlstation bei einem Jugendrichter/Jugendschöffengericht war, aber im Normalfall bleibt es jedem selbst überlassen, ob und wie er sich für die Sitzungen in die Thematik einarbeitet.
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Re: Jugendstrafrecht - Erfahrung eines Schöffen

Beitrag von [enigma] »

Eagnai hat geschrieben:
Tobias__21 hat geschrieben:Die Sache mit dem Jugendstaatsanwalt scheint mir auch eine pro forma Sache zu sein. Hier machen das Berufsanfänger, neben der üblichen Sitzungsarbeit im Erwachsenenstrafrecht. Was die genau zum Jugendstaatsanwalt befähigt, weiss ich auch nicht. Gut, die meisten haben selbst Kinder, aber dass es da irgendeine besondere Ausbildung im Vorfeld gibt, scheint mir nicht der Fall zu sein.
In dem Bezirk, in dem ich das Referendariat gemacht habe, war es völlig üblich, dass auch Referendare den Sitzungsdienst in Jugendstrafsachen wahrnehmen. Da kann man dann wirklich nicht mehr von einem "Jugendstaatsanwalt" reden.
War in BaWü bis vor Kurzem auch noch der Fall, ist mittlerweile aber nicht mehr zulässig.
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Re: Jugendstrafrecht - Erfahrung eines Schöffen

Beitrag von Honigkuchenpferd »

Ich habe inzwischen zu dem Thema nochmals nachgelesen. Dabei hat sich, wie erwartet, gezeigt, dass der Vergleich der Rückfallquoten, der hier ins Feld geführt worden ist, als solcher nicht als brauchbar angesehen wird, weil dabei Äpfel mit Birnen verglichen werden.
Der Schluss auf die spezialpräventive Ineffektivität des Jugendvollzugs kann schon deshalb nicht gezogen werden, weil sich die richterliche Anordnungsentscheidung an ganz spezifischen Anforderungen orientiert, die bereits auf das dem Gericht erkennbare Rückfallrisiko Bezug nehmen: Zur Bewährung ausgesetzt werden darf die Vollstreckung der Jugendstrafe nur dann, wenn für das Gericht „zu erwarten ist, dass der Jugendliche … auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs … künftig einen rechtschaffenen Lebenswandel führen wird“ (§ 21 Abs. 1 Satz 1 JGG). Wenn also die zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe mit Blick auf die Rückfallquote besser abschneidet als die nicht ausgesetzte Jugendstrafe, dann spiegelt sich in den unterschiedlichen Quoten vermutlich lediglich wider, dass sich das Gericht an den gesetzlichen Anwendungsvoraussetzungen für die Bewährungsaussetzung orientiert und dabei das Risiko weiterer Straftaten offenbar im wesentlichen zutreffend eingeschätzt hat. Solange nicht auszuschließen ist, dass die Unterschiede in den Legalbewährungsquoten lediglich auf den im Gesetz angelegten Selektionseffekt hinweisen, kann über die spezialpräventive Effektivität der jeweiligen Sanktionsformen keine Aussage getroffen werden.
Nachzulesen bei Bernd-Dieter Meier, Die präventive Wirkung der jugendstrafrechtlichen Sanktionen (der übrigens auch noch darauf hinweist, dass ein entsprechender Vergleich zwischen Jugend- und Erwachsenenstrafrecht sogar zu dem Ergebnis kommen würde, dass es bei Letzterem zu weniger Rückfällen kommt; natürlich hieße auch das, Äpfel und Birnen zu vergleichen).
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Re: Jugendstrafrecht - Erfahrung eines Schöffen

Beitrag von [enigma] »

Honigkuchenpferd hat geschrieben:Ich habe inzwischen zu dem Thema nochmals nachgelesen. Dabei hat sich, wie erwartet, gezeigt, dass der Vergleich der Rückfallquoten, der hier ins Feld geführt worden ist, als solcher nicht als brauchbar angesehen wird, weil dabei Äpfel mit Birnen verglichen werden.
Der Schluss auf die spezialpräventive Ineffektivität des Jugendvollzugs kann schon deshalb nicht gezogen werden, weil sich die richterliche Anordnungsentscheidung an ganz spezifischen Anforderungen orientiert, die bereits auf das dem Gericht erkennbare Rückfallrisiko Bezug nehmen: Zur Bewährung ausgesetzt werden darf die Vollstreckung der Jugendstrafe nur dann, wenn für das Gericht „zu erwarten ist, dass der Jugendliche … auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs … künftig einen rechtschaffenen Lebenswandel führen wird“ (§ 21 Abs. 1 Satz 1 JGG). Wenn also die zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe mit Blick auf die Rückfallquote besser abschneidet als die nicht ausgesetzte Jugendstrafe, dann spiegelt sich in den unterschiedlichen Quoten vermutlich lediglich wider, dass sich das Gericht an den gesetzlichen Anwendungsvoraussetzungen für die Bewährungsaussetzung orientiert und dabei das Risiko weiterer Straftaten offenbar im wesentlichen zutreffend eingeschätzt hat. Solange nicht auszuschließen ist, dass die Unterschiede in den Legalbewährungsquoten lediglich auf den im Gesetz angelegten Selektionseffekt hinweisen, kann über die spezialpräventive Effektivität der jeweiligen Sanktionsformen keine Aussage getroffen werden.
Nachzulesen bei Bernd-Dieter Meier, Die präventive Wirkung der jugendstrafrechtlichen Sanktionen (der übrigens auch noch darauf hinweist, dass ein entsprechender Vergleich zwischen Jugend- und Erwachsenenstrafrecht sogar zu dem Ergebnis kommen würde, dass es bei Letzterem zu weniger Rückfällen kommt; natürlich hieße auch das, Äpfel und Birnen zu vergleichen).
Der angeblich nicht belegte nachteilige - oder sogar positive - Effekt von vollstreckten Jugendstrafen ist in der Lit aber ne krasse Mindermeinung. Im Streng findet mit dieser These eine ausführliche Auseinandersetzung über fast ein ganzes Kapitel statt. Habe das Buch hier gerade nicht vorliegen, kann aber später gerne Fundstellen geben. Die Rückfallquote bei jugendlichen Tätern, die für schwere Gewaltdelikte im Bereich mittlerer Jugendstrafen gar keine Sanktion erhalten, weil sie nicht entdeckt wurden, ist übrigens auch deutlich geringer als bei Tätern, gegen die wegen vergleichbarer Delikte Freiheitsstrafen vollstreckt wurden. Der nachteilige Effekt von vollstreckten Jugendstrafen wird im Übrigen gerade nicht ausschließlich mit Rückfallquoten begründet, sondern ausführlich mit über Jahrzehnte erforschten entwicklungspsychologischen Erkenntnissen.
Zuletzt geändert von [enigma] am Mittwoch 12. Juli 2017, 13:42, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Jugendstrafrecht - Erfahrung eines Schöffen

Beitrag von Honigkuchenpferd »

Wenn du eine Fundstelle lieferst, schaue ich mir das an. Ich bezweifle aber stark, dass das eine "krasse Mindermeinung" ist. Es ist ja offensichtlich, dass der bloße Vergleich der Rückfallquoten die Folgerungen mit den Prämissen vermengt.

Das, was du meinst und wohl auch im Streng drin stehen dürfte, beruht - wie Meier ebenfalls darlegt - wohl eher auf experimentellen und quasi-experimentellen Untersuchungen, deren Aussagewert aber wiederum sehr beschränkt ist (und übrigens die These bestätigt, dass die rein empirische Grundlagen für all diese Behauptungen nicht sonderlich gut ist).
Die Rückfallquote bei jugendlichen Tätern, die für schwere Gewaltdelikte im Bereich mittlerer Jugendstrafen gar keine Sanktion erhalten, weil sie nicht entdeckt wurden, ist übrigens auch deutlich geringer als bei Tätern, gegen die wegen vergleichbarer Delikte Freiheitsstrafen vollstreckt wurden.
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Re: Jugendstrafrecht - Erfahrung eines Schöffen

Beitrag von [enigma] »

Honigkuchenpferd hat geschrieben:Wenn du eine Fundstelle lieferst, schaue ich mir das an. Ich bezweifle aber stark, dass das eine "krasse Mindermeinung" ist. Es ist ja offensichtlich, dass der bloße Vergleich der Rückfallquoten die Folgerungen mit den Prämissen vermengt.
Deshalb beschränkt man sich ja auch nicht auf den reinen Vergleich von Rückfallquoten. Quantitative Vergleiche bringen da ohnehin wenig. Denn wenn man den negativen Effekt auf die Entwicklung unterstellt, sind natürlich auch geringe Rückfallquoten mit dafür deutlich intensiveren Straftaten ein Problem.
Honigkuchenpferd hat geschrieben:Das, was du meinst und wohl auch im Streng drin stehen dürfte, beruht - wie Meier ebenfalls darlegt - wohl eher auf experimentellen und quasi-experimentellen Untersuchungen, deren Aussagewert aber wiederum sehr beschränkt ist (und übrigens die These bestätigt, dass die rein empirische Grundlagen für all diese Behauptungen nicht sonderlich gut ist).
Nach allem, was ich bisher zum Jugendstrafrecht gelesen habe, beruht gerade die Mindermeinung, die am pädagogischen Effekt zweifelt und eine stärkere Berücksichtigung des Vergeltungsgedankens fordert auf unbewiesenen Behauptungen.
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Re: Jugendstrafrecht - Erfahrung eines Schöffen

Beitrag von Honigkuchenpferd »

[enigma] hat geschrieben:Deshalb beschränkt man sich ja auch nicht auf den reinen Vergleich von Rückfallquoten. Quantitative Vergleiche bringen da ohnehin wenig. Denn wenn man den negativen Effekt auf die Entwicklung unterstellt, sind natürlich auch geringe Rückfallquoten mit dafür deutlich intensiveren Straftaten ein Problem.
Dann sollte man aber auch offen dazu stehen. Du kannst nicht bestreiten, dass die Aussagen hier im Thread andere waren und den Eindruck erweckten, es handele sich dabei um harte Empirie.
Nach allem, was ich bisher zum Jugendstrafrecht gelesen habe, beruht gerade die Mindermeinung, die am pädagogischen Effekt zweifelt und eine stärkere Berücksichtigung des Vergeltungsgedankens fordert auf unbewiesenen Behauptungen.
Das vertritt Meier, übrigens ein ausgewiesener Experte, so auch nicht - weder allgemein noch in dem zitierten Beitrag. Es ging darum, dass der bloße Vergleich der Rückfallquoten aus den genannten Gründen nicht tauglich ist.
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Re: Jugendstrafrecht - Erfahrung eines Schöffen

Beitrag von [enigma] »

Honigkuchenpferd hat geschrieben:
Wo kommt denn das her?!
Aus dem Streng. Der empirische Vergleich bestimmter Gruppen mit Kontrollgruppen ist im Übrigen wissenschaftlich anerkannt. Natürlich bietet dieser nie einen absoluten Beweis, bessere Methoden gibt es in den aber nun mal nicht.
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Re: Jugendstrafrecht - Erfahrung eines Schöffen

Beitrag von [enigma] »

Honigkuchenpferd hat geschrieben:
[enigma] hat geschrieben:Deshalb beschränkt man sich ja auch nicht auf den reinen Vergleich von Rückfallquoten. Quantitative Vergleiche bringen da ohnehin wenig. Denn wenn man den negativen Effekt auf die Entwicklung unterstellt, sind natürlich auch geringe Rückfallquoten mit dafür deutlich intensiveren Straftaten ein Problem.
Dann sollte man aber auch offen dazu stehen. Du kannst nicht bestreiten, dass die Aussagen hier im Thread andere waren und den Eindruck erweckten, es handele sich dabei um harte Empirie.
Nein, ich habe auch auf Erkenntnisse auf der Entwicklungspsychologie verwiesen, worüber du dich lustig gemacht und behauptet hast, es gebe keine empirischen Argumente, das seien alles bloße Behauptungen. Das ist aber wie gesagt nicht der Fall, es gibt natürlich empirische Vergleichsuntersuchungen. Diese sind aber nicht die einzige Grundlage.
Nach allem, was ich bisher zum Jugendstrafrecht gelesen habe, beruht gerade die Mindermeinung, die am pädagogischen Effekt zweifelt und eine stärkere Berücksichtigung des Vergeltungsgedankens fordert auf unbewiesenen Behauptungen.
Das vertritt Meier, übrigens ein ausgewiesener Experte, so auch nicht - weder allgemein noch in dem zitierten Beitrag. Es ging darum, dass der bloße Vergleich der Rückfallquoten aus den genannten Gründen nicht tauglich ist.
[/quote]

Deshalb sind die Rückfallquoten ja auch nur ein Indiz, die These wird dann in einer Gesamtschau entwickelt, in der Rückfallquoten natürlich mit einbezogen sind. Im Übrigen warnt auch Streng . wie die meisten Kriminologen - ausdrücklich vor der Überbewertung von Rückfallquoten, sie sind aber auch nicht gänzlich unbrauchbar. Zu behaupten, es gebe keinerlei empirische Hinweise auf die Überlegenheit des Erziehungsgedankens ggü dem Vergeltungsgedanken im Jugendstrafrecht, ist deshalb auch falsch.
Zuletzt geändert von [enigma] am Mittwoch 12. Juli 2017, 14:06, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Jugendstrafrecht - Erfahrung eines Schöffen

Beitrag von Honigkuchenpferd »

[enigma] hat geschrieben:Aus dem Streng. Der empirische Vergleich bestimmter Gruppen mit Kontrollgruppen ist im Übrigen wissenschaftlich anerkannt. Natürlich bietet dieser nie einen absoluten Beweis, bessere Methoden gibt es in den aber nun mal nicht.
Wie gesagt: Wenn du eine genaue Fundstelle angibst, schaue ich mir das an. Aber falls das tatsächlich so darin stehen sollte, liegt die Vermutung wiederum nahe, dass die Vergleichsgruppen eigentlich nicht vergleichbar sind und alle erdenklichen Korrelationen mit anderen (ggf. nicht mitgeteilten und nicht einmal erhobenen Umständen) viel naheliegender erklärt werden könnten.
[enigma] hat geschrieben:Nein, ich habe auch auf Erkenntnisse auf der Entwicklungspsychologie verwiesen, worüber du dich lustig gemacht und behauptet hast, es gebe keine empirischen Argumente, das seien alles bloße Behauptungen. Das ist aber wie gesagt nicht der Fall, es gibt natürlich empirische Untersuchungen. Diese sind aber nicht die einzige Grundlage.
Das stimmt so nicht. Ich habe mich darüber nicht lustig gemacht, sondern fand nur den pauschalen Verweis nicht sonderlich gewinnbringend. Und dass die wirklich empirische Grundlage dünn ist, bestätigt sich ja gerade. Natürlich kann man sich dann noch auf diese experimentellen und quasi-experimentellen Untersuchen berufen, aber das ist schon etwas deutlich anderes.
Deshalb sind die Rückfallquoten ja auch nur ein Indiz, die These wird dann in einer Gesamtschau entwickelt, in der Rückfallquoten natürlich mit einbezogen sind.
Das hat aus den genannten Gründen so nicht einmal einen indiziellen Wert.
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