Vorsatz und Irrtum

Straf-, Strafprozeß- und Ordnungswidrigkeitenrecht sowie Kriminologie

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maximilianyes
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Vorsatz und Irrtum

Beitrag von maximilianyes »

Hallo,

ich bin Abiturient und mache den Zusatzkurs Recht.

Dort haben wir einige Begriffe geklärt und leider komme ich nicht ganz zurecht. Ich würde mich sehr über einige (für Normalsterbliche verständliche) Antworten :)

1) Was meint der Satz: "Beim dolus directus I ist das voluntative Element stark ausgeprägt, beim dolus directus II das kognitive Element."
2) Wieso wird die bewusste Fahrlässigkeit und der bedingte Vorsatz durch das kognitive Element abgegrenzt?
3) In unserem Buch steht, dass es eine Vielzahl andere Theorien gäbe. Dort steht, dass teilweise nur auf das kognitive Element abgestellt, teilweise wird darauf abgestellt, Voraussetzung schafft, dass der Erfolg ausbleibt. Was ist damit gemeint?
4) A steht auf Feld, B macht Schießübungen, denkt, dass er auf eine Vogelscheuche zielt, dabei ist es A. Er schießt, warum ist es der objektive Tatbestand Paragraph 212? --> Es ist sorgfaltswidrig, nicht zu überprüfen, ob sich auf dem Feld jemand befindet. Warum nicht, warum folgt daraus die Fahrlässigkeit?
5) Da steht noch, es solle zwischen Verbotsirrtum bei normativen (?) Tatbestandsmerkmalen und Pargraph 16 unterschieden werden. Wo ist der genaue Unterschied?
6) 6:16, was meint sie da? https://www.youtube.com/watch?v=ZcQmpjhUXb8
7) Person bestellt 5 Kölsch, hat zu wenig Geld eingesteckt. Der Barkeeper markiert die Anzahl auf 'nem Bierdeckel, die Person radiert also 3 Striche weg, bezahlt nur 2. Er hat Urkundenfälschung begangen, aber er meinte, er wusste nicht, dass es eine wahr. Nun steht in unserem Buch: "Hatte er Tatsache-/ und Bedeutungskenntnis, so ist es als vorsätzlich zu behandeln." 8:07 was meint sie da? https://www.youtube.com/watch?v=ZcQmpjhUXb8 9:10, wieso kannte er die Merkmale? Wieso ist der Irrtum kein Bestandsmerkmal des 16, sondern warum hat er vorsätzlich gehandelt?
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Re: Vorsatz und Irrtum

Beitrag von GetMeOut »

Ohne inhaltlich zu antworten, scheinen mir die Fragen doch aus einem anderen Grund interessant. Aus der Bezeichnung „Zusatzkurs Recht“ schließe ich, dass eine gewisse Einführung in das deutsche Recht erfolgen soll. Die Fragen zielen hingegen auf ein strafrechtliches Kleinklein, teilweise auf praxisferne Theorienstreits.

Ich habe meine Zweifel, ob Schüler hier wirklich einen Mehrwert erhalten, sofern sie nicht später ohnehin Jura studieren möchten. Praxisferne gibt es an der Uni bereits im Überfluss. Von der Schule würde ich mir Handfestes wünschen, angefangen bei so profanen Dingen wie der Steuererklärung. Auch das Strafrecht hält genügend Themen bereit, die im Alltag von Bedeutung sind (aktuell etwa Rammstein oder Aiwanger und die diesbzgl. Berichterstattung). Der Theorienfetisch wird dagegen kaum von Nutzen sein.
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Re: Vorsatz und Irrtum

Beitrag von thh »

GetMeOut hat geschrieben: Montag 4. September 2023, 23:32Die Fragen zielen hingegen auf ein strafrechtliches Kleinklein, teilweise auf praxisferne Theorienstreits.
Den Eindruck habe ich nicht; es scheint mir vielmehr um die Vermittlung strafrechtlicher Grundlagen zu gehen.

Die Abgrenzung der Vorsatzformen, von Vorsatz und Fahrlässigkeit und die Irrtumslehre sind absolute Grundlagen und auch von hoher praktischer Relevanz (die Abgrenzung Vorsatz/Fahrlässigkeit mehr, die Irrtumsfragen weniger). Man kann damit in der Praxis nur dann sinnvoll umgehen, wenn man darin theoretisch trittsicher ist.
GetMeOut hat geschrieben: Montag 4. September 2023, 23:32Von der Schule würde ich mir Handfestes wünschen, angefangen bei so profanen Dingen wie der Steuererklärung.
An einer zur allgemeinen Hochschulreife hinführenden Schule geht es - hoffentlich - nicht darum, dass man das Ausfüllen von Formularen lernt. Um die Steuererklärung zu verstehen (!), bedarf es steuerrechtlicher Kenntnisse, die in einem Zusatzkurs nicht sinnvoll vermittelbar sind.
GetMeOut hat geschrieben: Montag 4. September 2023, 23:32Auch das Strafrecht hält genügend Themen bereit, die im Alltag von Bedeutung sind (aktuell etwa Rammstein oder Aiwanger und die diesbzgl. Berichterstattung).
Die man allerdings nur dann rechtlich sinnvoll diskutieren kann, wenn man das Handwerkszeug dazu hat.
GetMeOut hat geschrieben: Montag 4. September 2023, 23:32Der Theorienfetisch wird dagegen kaum von Nutzen sein.
Eine sichere theoretische Grundlage ist die Voraussetzung für eine praktische Tätigkeit - jedenfalls jenseits von tradierten Mythen à la "ich weiß auch nicht warum, aber so haben wir das bei uns schon immer gemacht".
Zuletzt geändert von thh am Dienstag 5. September 2023, 08:48, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Vorsatz und Irrtum

Beitrag von thh »

maximilianyes hat geschrieben: Montag 4. September 2023, 17:00Dort haben wir einige Begriffe geklärt und leider komme ich nicht ganz zurecht. Ich würde mich sehr über einige (für Normalsterbliche verständliche) Antworten :)
Ich werde mich - als Praktiker O:) - um Verständlichkeit bemühen, auf die Gefahr wissenschaftlicher Ungenauigkeit hin. :-)
maximilianyes hat geschrieben: Montag 4. September 2023, 17:001) Was meint der Satz: "Beim dolus directus I ist das voluntative Element stark ausgeprägt, beim dolus directus II das kognitive Element."
Um es auf eine einfache Formal zu bringen: Vorsatz ist Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung.

Wer den objektiven Tatbestand verwirklichen will, also bei einem Tötungsdelikt einen Menschen töten will, handelt vorsätzlich. Das gilt auch dann, wenn er sich unsicher ist, ob das klappen wird. Bei der Tötungsabsicht (direkter Vorsatz ersten Grades, dolus directus I) ist also das Willenselement (das voluntative Element) ganz stark, das Wissenselement kann auch schwach ausgeprägt sein (muss es aber natürlich nicht).

Vorsätzlich handelt aber auch der, der sicher weiß, dass sein Handeln einen Menschen töten wird. Das will er vielleicht gar nicht, es ist ihm vielleicht egal, aber er weiß ganz genau, was passieren wird. Beim dolus directus II steht also das Wissenselement im Vordergrund, das Willenselement kann schwach ausgeprägt sein.

Beim bedingten Vorsatz schließlich sind sowohl Willens- als auch Wissenselement schwach ausgeprägt. Der Täter hält es für möglich, dass er einen Menschen töten wird, und nimmt das billigend in Kauf, findet sich damit ab. Würde er den Tod nicht nur für möglich halten, sondern sich sicher sein, dass er eintritt, wären wir beim direkten Vorsatz.

Abgegrenzt davon wird die bewusste Fahrlässigkeit dadurch, dass der Täter es wiederum für möglich hält, einen Menschen zu töten, aber darauf setzt, das schon alles gutgehen wird. (Das ist in der Theorie einfach, in der Praxis schwierig, weil man Menschen kaum in den Kopf gucken kann.)

Ich versuche einmal ein Beispiel:

Der alte weiße Mann W überquert gerade an einem Zebrastreifen die Straße, als der Porschefahrer P heranbraust.

1) P sagt sich: "Da ist ja W, den ich schon mein ganzes Leben hasse! Den überfahre ich jetzt, dann ist er tot. Endlich habe ich meine Chance. Ich hoffe, ich erwische ihn noch, so dass er mir nicht mehr ausweichen kann." ---> P will den W unbedingt töten --> dolus directus I

2) P sagt sich: "Oh, ein Fußgänger. Wenn ich jetzt abbremse, und sei es nur zum Ausweichen, erwischt mich vielleicht die Polizei, die mich verfolgt, und mein Führerschon ist doch eh schon weg. Also halte ich lieber drauf. Das kann er bei diesem Tempo nicht überleben. Blöd, aber so ist das Leben." ---> P ist sich sicher, dass er den W töten wird, auch wenn ihm das eigentlich gar nicht recht ist ---> dolus directus II

3) P sagt sich: "Verdammt, was steht denn der alte Mann da! Wenn ich jetzt bremse, erwischen mich die Bullen. Naja, ich ziele mal auf die Lücke hinter ihm, müsste passen, wenn er nicht plötzlich stehenbleibt - und wenn ich ihn erwische, dann ist es halt so, besser er als ich." --> P ist nicht sicher, was passieren wird, aber wenn er den W tötet, ist das auchg okay ---> dolus eventualis

4) P sagt sich: "Verdammt, was steht denn der alte Mann da! Wenn ich jetzt bremse, erwischen mich die Bullen. Naja, ich bremse mal etwas ab und fahre hinter ihm vorbei, das ist etwas kitzlig, aber wird schon gutgehen, der sieht mich ja auch kommen." ---> bewusste Fahrlässigkeit
maximilianyes hat geschrieben: Montag 4. September 2023, 17:002) Wieso wird die bewusste Fahrlässigkeit und der bedingte Vorsatz durch das kognitive Element abgegrenzt?
Das halte ich für falsch. Der Unterschied liegt im voluntativen Element.
maximilianyes hat geschrieben: Montag 4. September 2023, 17:003) In unserem Buch steht, dass es eine Vielzahl andere Theorien gäbe. Dort steht, dass teilweise nur auf das kognitive Element abgestellt, teilweise wird darauf abgestellt, Voraussetzung schafft, dass der Erfolg ausbleibt. Was ist damit gemeint?
Es gibt, wie so oft in der Rechtswissenschaft, eine Vielzahl von Theorien - manche älter und somit überholt, manche konnten sich (sei es in der Wissenschaft, sei es in der Rechtsprechung) nicht durchsetzen. Eine kurze Übersicht solcher Theorien zum bedingten Vorsatz findet sich bspw. hier: https://www.uni-trier.de/fileadmin/fb5/ ... orsatz.pdf In der Praxis sind diese Theorien schon deshalb nicht relevant, weil die - höchstrichterliche - Rechtsprechung ihnen nicht folgt.
maximilianyes hat geschrieben: Montag 4. September 2023, 17:004) A steht auf Feld, B macht Schießübungen, denkt, dass er auf eine Vogelscheuche zielt, dabei ist es A. Er schießt, warum ist es der objektive Tatbestand Paragraph 212?
Der objektive Tatbestand des § 212 StGB ist verwirklicht, wenn durch das Handeln (oder Unterlassen, im Fall einer Garantenstellung) ein anderer Mensch getötet wird. A schießt, trifft B, B ist tot ---> objektiver Tatbestand verwirklicht.

Das Problem liegt im subjektiven Bereich. A wusste nicht, dass er auf B schießt, sondern dachte, dass er auf eine Vogelscheuche zielt. Das ist ein Irrtum über tatsächliche Umstände, § 16 StGB, der zum Entfall des Vorsatzes führt. Ohne Vorsatz fehlt es aber am subjektiven Tatbestand des § 212 StGB.
maximilianyes hat geschrieben: Montag 4. September 2023, 17:00 --> Es ist sorgfaltswidrig, nicht zu überprüfen, ob sich auf dem Feld jemand befindet. Warum nicht, warum folgt daraus die Fahrlässigkeit?
Die Frage "warum nicht" verstehe ich nicht ganz. Auch ohne weitere Rechtskenntnisse erscheint es mir verständlich, dass man nicht einfach auf freiem Feld herumballern darf, ohne sich zu vergewissern, worauf man schießt. Es reicht nicht, zu denke, das sei eine Vogelscheuche; solange B sich nicht gerade als Vogelscheuche verkleidet hat, muss man (ggf. mit einem Fernglas, ggf. durch Herangehen und dann Zurücklaufen) sich sicher überzeugen, dass es auch wirklich eine Vogelscheuche ist. Das ist die beim Umgang mit Schusswaffen erforderliche Sorgfalt.

Wer diese Sorgfaltspflichten verletzt, lässt die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht und handelt daher fahrlässig.
maximilianyes hat geschrieben: Montag 4. September 2023, 17:005) Da steht noch, es solle zwischen Verbotsirrtum bei normativen (?) Tatbestandsmerkmalen und Pargraph 16 unterschieden werden. Wo ist der genaue Unterschied?
Das ist jetzt schon eher komplex, weil es um einen Sonderfall des Tatbestandsirrtums geht. Ein normatives Tatbestandsmerkmal ist bspw. die Fremdheit der Sache oder die Rechtswidrigkeit der Bereicherung beim Diebstahl oder Raub. Das sind letztlich Rechtsbegriffe, keine Tatsachen; ein Irttum darüber ist trotzdem Tatbestandsirrtum, § 16 StGB, und führt daher zum Wegfall des Vorsatzes, und kein Verbotsirrtum, § 17 StGB.

Das ist deshalb ungewöhnlich, weil man sich normalerweise merken kann, dass § 16 StGB Tatsachen, also reale Umstände in der Welt, betrifft, und § 17 StGB rechtliche Regelungen. Wenn A auf B schießt, weil er denkt, B sei eine Vogelscheuche, dann irrt er über tatsächliche Umstände in der Welt; die Welt, die Tatsachen, ist/sind anders als er denkt. Er denkt, er tue etwas anderes (auf Vogelscheuche schießen) als das, was er tatsächlich tut (auf einen Menschen schießen). Das ist ein Tatbestandsirrtum. Wenn A auf B schießt, weil er denkt, er dürfe das, weil B unbefugt auf seinem Feld herumläuft, dann weiß er genau, was er tut, denkt aber, er dürfe das - das ist ein bloßer Verbotsirrtum, der nur bei Unvermeidbarkeit (an die sehr hohe Anforderungen gestellt werden) zur Straffreiheit und sonst allenfalls zu einer Strafmilderung führt.

Mit dieser einfachen Formel kommt man bei normativen Tatbestandsmerkmalen nicht weiter. Wenn A dem B 50 EUR klaut, weil er denkt, das seien seine 50 EUR, die der B 5 Minuten vorher eingesteckt habe, dann weiß er genau, was er tut, und irrt keineswegs über den Tatbestand - er will 50 EUR wegnehmen, und er nimmt 50 EUR weg. Er irrt nur über eine Rechtsfrage - weil er denkt, es seien seine 50 EUR, und nicht die des B. Klingt nach einem Verbotsirrtum, ist aber ein Tatbestandsirrtum, weil die Fremdheit der Sache beim Diebstahl ein normatives Tatbestandsmerkmal ist.
maximilianyes hat geschrieben: Montag 4. September 2023, 17:007) Person bestellt 5 Kölsch, hat zu wenig Geld eingesteckt. Der Barkeeper markiert die Anzahl auf 'nem Bierdeckel, die Person radiert also 3 Striche weg, bezahlt nur 2. Er hat Urkundenfälschung begangen, aber er meinte, er wusste nicht, dass es eine wahr.
Man muss sich immer genau fragen, worüber Person P irrt.

Man könnte annehmen, dass P darüber irrt, dass die Striche auf dem Bierdeckel eine Urkunde sind, also über eine Tatsache, ein Merkmal des gesetzlichen Tatbestands, die Urkundeneigenschaft, mit der Folge, dass ein Tatbestandsirrtum (§ 16 StGB) vorliegt und der Vorsatz entfällt.

Das ist aber der falsche Ansatz. P weiß genau, was er tut: er manipuliert an den Aufzeichnungen des Barkeeps. (Und er weiß auch, dass das so nicht in Ordnung sein kann.) Er weiß hingegen nicht, was eine Urkunde ist, und glaubt deshalb vielleicht, sein Handeln sei keine Urkundenfälschung (sondern nur Betrug). Darauf kommt es aber letztlich nicht an. Er weiß tatbestandlich genau, was er tut, er glaubt nur, das sei nicht verboten. Das ist aber dann kein Tatbestandsirrtum, sondern allenfalls ein Verbotsirrtum, den er zudem hätte vermeiden könne.

Das ist die sog. Parallelwertung in der Laiensphäre: Der P hat keine Ahnung, was für den Jurist eine Urkunde ist, weil er eben Laie ist. Der P weiß aber genau, dass er an den Notizen des Barkeeps herumfummelt und dass das nicht okay ist, weil er am Ende dann zu wenig zahlt. Auch als Laie weiß er, dass er Unrecht tut. Er weiß nur nicht, dass dieses Unrecht juristisch als Urkundenfälschung gewertet wird.

Siehe dazu hier: https://www.juraforum.de/lexikon/parall ... iensphaere

(Die Youtube-Links habe ich mir aus Zeitgründen nicht angeschaut, sorry.)
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Re: Vorsatz und Irrtum

Beitrag von Strich »

GetMeOut hat geschrieben: Montag 4. September 2023, 23:32 Ohne inhaltlich zu antworten, scheinen mir die Fragen doch aus einem anderen Grund interessant. Aus der Bezeichnung „Zusatzkurs Recht“ schließe ich, dass eine gewisse Einführung in das deutsche Recht erfolgen soll. Die Fragen zielen hingegen auf ein strafrechtliches Kleinklein, teilweise auf praxisferne Theorienstreits.

Ich habe meine Zweifel, ob Schüler hier wirklich einen Mehrwert erhalten, sofern sie nicht später ohnehin Jura studieren möchten. Praxisferne gibt es an der Uni bereits im Überfluss. Von der Schule würde ich mir Handfestes wünschen, angefangen bei so profanen Dingen wie der Steuererklärung. Auch das Strafrecht hält genügend Themen bereit, die im Alltag von Bedeutung sind (aktuell etwa Rammstein oder Aiwanger und die diesbzgl. Berichterstattung). Der Theorienfetisch wird dagegen kaum von Nutzen sein.
Also das dachte ich mir bei den Fragen auch. Da wird ja Wissen auf dem Niveau des kleinen Scheins vermittelt. Wozu? Es würde ausreichen, den Schülern die Grundlagen der Grundlagen beizubringen: Was ist Vorsatz, wie funktioniert Gesetzesanwendung etc. Niemand sollte sich da mit Theorien beschäftigen.
Stehe zu deinen Überzeugungen soweit und solange Logik oder Erfahrung dich nicht widerlegen. Denk daran: Wenn der Kaiser nackt aussieht ist der Kaiser auch nackt ... .
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Re: Vorsatz und Irrtum

Beitrag von thh »

Strich hat geschrieben: Dienstag 5. September 2023, 10:52Also das dachte ich mir bei den Fragen auch. Da wird ja Wissen auf dem Niveau des kleinen Scheins vermittelt. Wozu?
Zum Verständnis der Grundlagen des Strafrechts. Das kann man mit ein wenig Theorie und geeigneten Beispielen sehr schön veranschaulichen.
Strich hat geschrieben: Dienstag 5. September 2023, 10:52Es würde ausreichen, den Schülern die Grundlagen der Grundlagen beizubringen: Was ist Vorsatz
Genau das wird ja vermittelt. Zur Darstellung des Vorsatzes gehören die Vorsatzformen, die Abgrenzung von der Fahrlässigkeit, die Darstellung, was Fahrlässigkeit ist, und die Irrtumslehre dazu.
Strich hat geschrieben: Dienstag 5. September 2023, 10:52Niemand sollte sich da mit Theorien beschäftigen.
Genau das geschieht ja auch nicht, bzw. nur in der Form, dass es weitere Theorien gibt.

Zum Verständnis des Strafrechts gehören diese Grundlagen dazu, wie im Zivilrecht das Abstraktionsprinzip dazugehört. Ansonsten kann man das jeweilige Rechtsgebiet nicht verstehen, sondern nur auswendig lernen, dass das eben nun einmal so ist.

Für die gymnasiale Oberstufe halte ich den Ansatz für genau richtig. Im Physikunterricht lernt man ja auch nicht, dass Fahrzeuge in Kurven nach außen getragen werden, sondern warum das so ist. Die Veranstaltung heißt ja auch "Zusatzkurs Recht" und nicht "Lebenspraxis - was man beim Mieten einer Wohnung und der Steuererklärung beachten sollte".
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Re: Vorsatz und Irrtum

Beitrag von maximilianyes »

Ja, Tatsache stimmt ich da tbh zu; es gab bei uns die Wahl zwischen Grundlagen Strafrecht und Cannabis und da ich es wirklich verstehen will, habe ich mich für das erste entschieden.

"Würde er den Tod nicht nur für möglich halten, sondern sich sicher sein, dass er eintritt, wären wir beim direkten Vorsatz." Ist nicht hier das voluntative Element eher schwach ausgeprägt (er nimmt es "nur" in Kauf, aber er weiß es sicher: Ist es da nicht dieser bedingte Vorsatz (Grad 2)?

Der dolus eventualis ist also dann wohl eher ein "na wenn schon", oder?
Was genau ist denn der bedingte Vorsatz: ist das der dolus eventualis? Beim dolus eventualis ist es ja okay, er ist sich nicht sicher, aber es ist okay und bei der bewussten Fahrlässigkeit ist ja gar nicht von einem voluntativen Element die Rede? Aber auf der anderen Seite ist das kognitive Element bei beiden gleich, oder? Bei beiden ist es unsicher, oder glaubt der eine (dolus eventualis) gar nicht zu 100 % das alles gut gehen wird, sondern ihm ist es einfach egal?
"Klingt nach einem Verbotsirrtum, ist aber ein Tatbestandsirrtum, weil die Fremdheit der Sache beim Diebstahl ein normatives Tatbestandsmerkmal ist." was meinst du mit Fremdheit der Sache?

"Darauf kommt es aber letztlich nicht an. Er weiß tatbestandlich genau, was er tut, er glaubt nur, das sei nicht verboten. " wieso glaubt er, es sei nicht verboten? er macht es bewusst und wieso ist es dann ein Verbotsirrtum, ist ihm nicht bewusst, was eine "Urkunde" ist?
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Re: Vorsatz und Irrtum

Beitrag von thh »

maximilianyes hat geschrieben: Dienstag 5. September 2023, 17:05 "Würde er den Tod nicht nur für möglich halten, sondern sich sicher sein, dass er eintritt, wären wir beim direkten Vorsatz." Ist nicht hier das voluntative Element eher schwach ausgeprägt (er nimmt es "nur" in Kauf, aber er weiß es sicher: Ist es da nicht dieser bedingte Vorsatz (Grad 2)?
Wer sicher weiß, dass sein Handeln einen anderen tötet (den Tatbestand verwirklicht), der handelt mit direktem Vorsatz (zweiten Grades), auch wenn er das nicht will.

Bedingter Vorsatz liegt (nur) vor, wenn der Täter den Taterfolg (nur) für möglich hält und ihn (nur) billigend in Kauf nimmt.

Man kann sich im Prinzip merken:

- direkter Vorsatz 1. Grades (Absicht): der Täter will den Taterfolg; er muss ich dann nicht sicher sein, dass er eintreten wird; direkter Wille der Tatbestandsverwirklichung, maximales Wollen (voluntatives Element)

- direkter Vorsatz 2. Grades (sicheres Wissen): der Täter ist sich sicher, dass er den Taterfolg herbeiführen wird; muss ihn dann nicht wollen; sicheres Wissen der Tatbestandsverwirklichung, maximales Wissen (kognitives Element)

- bedingter Vorsatz: der Täter ist sich nicht sicher, dass er den Taterfolg herbeiführen wird, hält es aber immerhin für möglich; er will den Taterfolg auch nicht, aber nimmt ihn in Kauf; das ist also nur ein bißchen Wissen und nur ein bißchen Wollen
maximilianyes hat geschrieben: Dienstag 5. September 2023, 17:05Der dolus eventualis ist also dann wohl eher ein "na wenn schon", oder?
Ja, genau, das ist eine andere Formel für das Wollenselement beim bedingten Vorsatz.
maximilianyes hat geschrieben: Dienstag 5. September 2023, 17:05Was genau ist denn der bedingte Vorsatz: ist das der dolus eventualis?
Ja, das ist der deutsche Begriff.

dolus directus I = direkter Vorsatz 1. Grades = Absicht
dolus directus II = direkter Vorsatz 2. Grades = sicheres Wissen
dolus eventualis = bedingter Vorsatz = billigendes Inkaufnehmen (des möglichen Taterfolgs)
maximilianyes hat geschrieben: Dienstag 5. September 2023, 17:05Beim dolus eventualis ist es ja okay, er ist sich nicht sicher, aber es ist okay und bei der bewussten Fahrlässigkeit ist ja gar nicht von einem voluntativen Element die Rede?
Ja, weil bei der bewussten Fahrlässigkeit das Willenselement gerade fehlt. Der Täter ist sich nicht sicher, dass er den Taterfolg herbeiführen wird (jemand töten wird), und er will das auch nicht, noch nicht einmal billigend in Kauf nehmen, sondern geht davon aus, dass es schon gutgehen wird.
maximilianyes hat geschrieben: Dienstag 5. September 2023, 17:05 "Klingt nach einem Verbotsirrtum, ist aber ein Tatbestandsirrtum, weil die Fremdheit der Sache beim Diebstahl ein normatives Tatbestandsmerkmal ist." was meinst du mit Fremdheit der Sache?
Diebstahl ist die Wegnahme einer fremden beweglichen Sache in der Absicht rechtswidriger Zueignung.

Ist die Sache nicht fremd oder die Zueignung nicht rechtswidrig, ist es auch kein Diebstahl.

Wenn der Täter jetzt irrütmlich denkt, die Sache sei nicht fremd (sondern seine) oder die Zueignung sei nicht rechtswidrig (weil er einen fälligen durchsetzbaren Anspruch auf die Sache habe), dann irrt er. Die Frage ist dann: Tatbestandsirrtum (§ 16 StGB) oder Verbotsirrtum (§ 17 StGB)?

Man könnte denken, weil der Täter über Rechtsgebriffe ("fremd", "rechtswidrig") irrt, sei es ein Verbotsirrtum. Weil "fremd" und "rechtswidrig" aber normative Tatbestandsmerkmale sind, ist es ein Tatbestandsirrtum.
maximilianyes hat geschrieben: Dienstag 5. September 2023, 17:05"Darauf kommt es aber letztlich nicht an. Er weiß tatbestandlich genau, was er tut, er glaubt nur, das sei nicht verboten. " wieso glaubt er, es sei nicht verboten?
Weil er glaubt, die Striche auf dem Bierdeckel seien keine Urkunde, also könne das Wegradieren nicht (als Urkundenfälschung) strafbar sein.
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Re: Vorsatz und Irrtum

Beitrag von maximilianyes »

Hey, danke, jetzt ist einiges klarer.
Nochmal zum Verständnis: warum sind rechtswidrig und fremd ein normatives Merkmal der Tat, aber er irrt ja trotzdem?
Es ist also egal, ob dem Mann mit dem Bier die Urkunde was sagt, es geht nur um den Willen?
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Re: Vorsatz und Irrtum

Beitrag von maximilianyes »

Vor allem
Wieso ist das Tatbestandsirrtum und kein Verbotsirrtum
"Das ist jetzt schon eher komplex, weil es um einen Sonderfall des Tatbestandsirrtums geht. Ein normatives Tatbestandsmerkmal ist bspw. die Fremdheit der Sache oder die Rechtswidrigkeit der Bereicherung beim Diebstahl oder Raub. Das sind letztlich Rechtsbegriffe, keine Tatsachen; ein Irttum darüber ist trotzdem Tatbestandsirrtum, § 16 StGB, und führt daher zum Wegfall des Vorsatzes, und kein Verbotsirrtum, § 17 StGB"
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Re: Vorsatz und Irrtum

Beitrag von ianos »

Beim Tatbestandsirrtum nach § 16 StGB irrt der Täter über das Vorliegen eines Tatumstands.
StGB hat geschrieben: § 16 Irrtum über Tatumstände
(1) Wer bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich. [...]
Beim Verbotsirrtum kennt der Täter dagegen sämtliche Tatumstände, wertet diese aber fehlerhaft zu seinen Gunsten.
StGB hat geschrieben: § 17 Verbotsirrtum
Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte. [...]
Die im jeweiligen Fall maßgeblichen Tatumstände, auf die sich der Vorsatz der Täters beziehen muss, ergeben sich aus dem jeweiligen Straftatbestand, im Beispielfall mit dem Wegradieren der Striche auf dem Bierdeckel also aus
StGB hat geschrieben: § 267 Urkundenfälschung
(1) Wer zur Täuschung im Rechtsverkehr [...] eine echte Urkunde verfälscht [...], wird [...] bestraft.
Eine Urkunde ist eine verkörperte Gedankenerklärung, die zum Beweis im Rechtsverkehr geeignet und bestimmt ist und ihren Aussteller erkennen lässt.
Der im Beispiel genannte Bierdeckel verkörpert die Erklärung, wie viele Getränke der jeweilige Gast bestellt hat, er ist geeignet und dazu bestimmt am Ende des Gaststättenbesuchs bei der Abrechnung als Beweis darüber zu dienen, wie viele Getränke konsumiert wurden und bezahlt werden müssen und es ist deutlich, dass der Aussteller der Gastwirt bzw. einer seiner Mitarbeiter ist. Rechtlich handelt es sich beim Bierdeckel also um eine Urkunde.

Wenn der Täter nun den Bierdeckel nicht als Urkunde erkennt, weil er denkt, dass eine Urkunde ein Schriftstück mit Unterschrift und im besten Fall noch Wachsssiegel darunter sei, könnte man annehmen, dass er über einen Tatumstand des § 267 StGB, nämlich die Urkundseigenschaft des Bierdeckels, irrt und daher einem den Vorsatz ausschließenden Tatumstandsirrtum unterliegt.

Anders als etwa bei dem (deskriptiven) Tatbestandsmerkmal "töten" im Rahmen eines Totschlags, das jedem auch ohne juristische Vorbildung sofort klar ist, handelt es sich bei der Urkunde aber um ein normatives Tatbestandsmerkmal. Würde man verlangen, dass der Täter korrekt subsumiert, was eine Urkunde ist, könnten sich praktisch nur noch ausgebildete Juristen wegen Urkundenfälschung strafbar machen. Daher lässt man ausreichen, dass der Täter die Zuordnung des entsprechenden Tatumstands zutreffend als "Parallelwertung in der Laiensphäre" vollzogen hat.

Bedeutet im Beispiel:

Der Täter wusste, dass der Bierdeckel die Erklärung darüber enthält, wieviele Getränke er konsumiert hat, dass er bei der Abrechnung herangezogen werden sollte um den Endbetrag zu ermitteln und dass grundsätzlich nur der Gastwirt Striche auf dem Bierdeckel hinzufügen oder streichen durfte. Deshalb wusste er zwar trotzdem nicht, dass der Bierdeckel rechtlich als Urkunde betrachtet wird, aber alle unrechtsrelevanten Merkmale des Urkundsbegriffs hatte er in seinen Vorsatz aufgenommen. Deshalb handelte er in Kenntnis aller Tatumstände, er irrt sich lediglich über die Verbotenheit seiner Handlung, erliegt also einem Verbotsirrtum nach § 17 StGB.

Ein Tatbestandsirrtum läge dagegen vor, wenn der begriffsstutzige Täter verkannt hätte, dass die Striche auf dem Bierdeckel seine bestellten Getränke repräsentieren, sondern dachte, der Gastwirt male eine Sonne auf den Bierdeckel und bei den Strichen handele es sich um stilisierte Sonnenstrahlen. Wenn er dann daran manipuliert, handelt er ohne Vorsatz, weil ihm auch in der Laiensphäre nicht klar war, dass er eine Erklärung, die zum Beweis im Rechtsverkehr bestimmt war, verfälscht hat.
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Re: Vorsatz und Irrtum

Beitrag von maximilianyes »

Er wusste also alles, was zur Urkunde dazu gehört.
Der Irrtum ist kein Tatbestandsirrtum, er hat also vorsätzlich gehandelt, er unterliegt nur einem Verbotsirrtum.

Aber wieso handelt er damit vorsätzlich? Er hat das mit in seinen Vorsatz reingenommen, warum handelt er dann insgesamt vorsätzlich?

Also wenn jemand die Tatsachen-/und Bedeutungskenntnis hat, wieso handelt man dann mit Vorsatz?
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Re: Vorsatz und Irrtum

Beitrag von ianos »

maximilianyes hat geschrieben: Sonntag 15. Oktober 2023, 11:49 Also wenn jemand die Tatsachen-/und Bedeutungskenntnis hat, wieso handelt man dann mit Vorsatz?
Weil Vorsatz den Willen zur Tatbestandsverwirklichung in Kenntnis aller objektiven Tatumstände bedeutet.
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Re: Vorsatz und Irrtum

Beitrag von Schnitte »

maximilianyes hat geschrieben: Sonntag 15. Oktober 2023, 11:49 Also wenn jemand die Tatsachen-/und Bedeutungskenntnis hat, wieso handelt man dann mit Vorsatz?
Ich will nicht aggressiv klingen, aber diese Frage illustriert gut, warum du erst theoretisch lernen (also Lehrbücher lesen und/oder Vorlesungen hören) solltest, ehe du anfängst, mit konkreten Fällen zu lernen. Hättest du dich auch nur mit den Grundlagen dessen beschäftigt, was Vorsatz im deutschen Strafrecht bedeutet, dann wüsstest du die Antwort auf diese Frage.
"Das Vertragsrecht der Bundesrepublik Deutschland und die gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten, die Erfüllung von Verträgen zu erzwingen [...], verstoßen nicht gegen göttliches Recht."

--- Offizialat Freiburg, NJW 1994, 3375
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