Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Staatsrecht, Allgemeines und Besonderes Verwaltungsrecht (Bau-, Kommunal-, Polizei- und Sicherheitsrecht, BImSchG etc.)

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sai
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von sai »

Tibor hat geschrieben: Freitag 18. Januar 2019, 07:40 Das Problem ist doch, dass man gerade Menschen mit geringem Einkommen aus Arbeit das nicht mehr erklären könnte, wenn es nun bei SGB2 kaum noch Sanktionen gibt. Der Staat beraubt sich seines Einflusses auf vernünftige Bezahlungen, wenn er immer auf die Tarifautonomie zeigt, die gerade im "Billiglohnsegment" erodiert ist. Tatsächlich muss der Staat einen Mindestlohn mit ordentlichem Abstand (in €) gesetzlich regeln, wenn er auch das Existenzminimum (wegen mir auch sprachlich nicht als Einkommen) mehr oder weniger bedingungslos gewährt.
Genau das ist das Problem. Ich bin - als SPD-Mitglied - immer noch der festen Überzeugung, dass es insbesondere solche Forderungen "meiner" Partei sind, die die ursprüngliche Stammwählerschaft der Arbeiter in die Hände von Linken und AfD treibt.

Natürlich kann man juristisch begründen, warum es einen kürzungsresistenten Kern von Grundsicherung geben müsste. Wenn der Paketbote oder die Floristin aber 50 Stunden pro Woche arbeiten und am Ende 100€ mehr in der Tasche haben, interessiert die das einen Scheiß.
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Tibor
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von Tibor »

sai hat geschrieben: Freitag 18. Januar 2019, 08:02 Natürlich kann man juristisch begründen, warum es einen kürzungsresistenten Kern von Grundsicherung geben müsste. Wenn der Paketbote oder die Floristin aber 50 Stunden pro Woche arbeiten und am Ende 100€ mehr in der Tasche haben, interessiert die das einen Scheiß.
Wichtig ist ja nur, dass man den Mindestlohn nicht zur Entlassungsfalle macht. Zur Zeit ist es doch so, dass Geringverdiener dann ihren Job verlieren und unter dann schlechteren Bedingungen als "Scheinselbständige" oder echte Unternehmer weitermachen. Am Ende des Tages reicht dann das Geld immernoch nicht und es wird aufgestockt. Der Mindestlohn muss demzufolge mit Maßnahmen flankiert wird, die Scheinselbständigkeit bekämpfen, entsprechende Strukturen verhindern und nicht SGB2 als "Auffangnetz" liefern. Aber auch hier ist ja die Entwicklung damals leider in Richtung "ich AG" gestolpert und hat viele Menschen in Selbständigkeit geschickt, die keinerlei unternehmerische Erfahrung hatten. Die Folge ist gerade wirtschaftliche Abhängigkeit vom Auftraggeber ohne Schutz des Arbeitsrechts.
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von ThorstenV »

Tibor hat geschrieben: Freitag 18. Januar 2019, 07:40 Das Problem ist doch, dass man gerade Menschen mit geringem Einkommen aus Arbeit das nicht mehr erklären könnte, wenn es nun bei SGB2 kaum noch Sanktionen gibt.
Im Gegenteil, das funktioniert prima. Man muss nichts weiter tun, als unsere Hauptideologie zugrundelegen: der freie Markt regelt das alles am Besten.
Je mehr sich weigern überhaupt zu arbeiten, desto besser können die Arbeiter höhere Löhne durchsetzen.

War doch ganz einfach und schmerzlos, oder? :twevil
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von Ant-Man »

Urteilsverkündung in Sachen "Sanktionen im SGB II" durch das BVerfG am 05.11.2019 um 10.00 Uhr
Julia
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von Julia »

Und ein erfreuliches Urteil: Sanktionen von 60% bzw 100% sind verfassungswidrig, für 30% bedarf es ebenfalls Anpassungen.
Ich habe heute mal wieder meinen Glauben ein Stück weit zurückgewonnen :)
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Tor des Monats
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von Tor des Monats »

Julia hat geschrieben: Dienstag 5. November 2019, 10:46 Und ein erfreuliches Urteil: Sanktionen von 60% bzw 100% sind verfassungswidrig, für 30% bedarf es ebenfalls Anpassungen.
Ich habe heute mal wieder meinen Glauben ein Stück weit zurückgewonnen :)
Zum Thema Glauben zurückgewonnen: mal sehen, inwieweit es jetzt nachträglich Entschädigungen o.ä. gibt? :)
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von KlausKommBett »

Na ja, also wenn man sich den Urteilsspruch gesamt anschaut sagt er, 1. 30 % nach derzeitiger gesetzlicher Ausgestaltung grundsätzlich nicht verfassungswidrig, es muss jedoch einiges angepasst werden bzgl des Verfahrens. Eine pauschale Kürzung um einen festgelegten nicht individuellen Zeitraum egal bei welchem Vergehen wurde meinem Verständnis nach kassiert. Auch muss jeder sich durch aktives Tun von dieser Sanktion befreien können.

Weiterhin sagt er gleich im nächsten Satz, 2. dem Gesetzgeber steht es frei auch höhere Sanktionen als 30 % zu verhängen, sofern es weitere andauernde Verstöße gibt!

Jedoch liegen bei den vorgesehenen 60 % oder höhere Sanktionen keine Erkenntnisse über deren Wirkung vor und der Gesetzgeber kann daher die Menschen in diesem Rahmen nach DERZEITIGEM Kenntnisstand in dieser Höhe und Dauer nicht sanktionieren.

Bei Eingriffen in das Existenzminimum darf der Gesetzgeber niemals Menschen in irgendeiner Weise gefährden. Und da nicht klar ist wie sich solch eine Totalsanktion auswirkt bzw Sanktionen mit ähnlicher Höhe wurde es kassiert.

Ich könnte mir folgendes vorstellen. Zukünftig wird bei andauernden Verstößen auf Sachleistungen umgestellt. Heißt, Miete und KV wird immer gewährt. Essen und Trinken gibts nur noch mit Gutscheinen für die Sanktionsdauer.

Erstmal darf es aber keine über 30 % Sanktionen geben, da es hierfür keine verfassungskonforme Regelung gibt.

Der liebe Hubertus nickt immer fleißig während des Urteilsspruchs läuft dann aber ziemlich rot an als es zu den Konsequenzen kam.
stilzchenrumpel
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von stilzchenrumpel »

KlausKommBett hat geschrieben: Dienstag 5. November 2019, 18:18 ...

Bei Eingriffen in das Existenzminimum darf der Gesetzgeber niemals Menschen in irgendeiner Weise gefährden. Und da nicht klar ist wie sich solch eine Totalsanktion auswirkt bzw Sanktionen mit ähnlicher Höhe wurde es kassiert.

Ich könnte mir folgendes vorstellen. Zukünftig wird bei andauernden Verstößen auf Sachleistungen umgestellt. Heißt, Miete und KV wird immer gewährt. Essen und Trinken gibts nur noch mit Gutscheinen für die Sanktionsdauer.

...
a) Die Sanktion trifft immer den Regelbedarf (§ 20 SGB 2) nicht die Bedarfe für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB 2)

b) Bei Sanktionen jenseits 30 % sieht das SGB 2 bereits Regelungen mit Sachleistungen (auf Antrag und teils als Ermessensentscheidung) vor:

§ 31 a Abs. 3 SGB 2
Bei einer Minderung des Arbeitslosengeldes II um mehr als 30 Prozent des nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs kann der Träger auf Antrag in angemessenem Umfang ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbringen. Der Träger hat Leistungen nach Satz 1 zu erbringen, wenn Leistungsberechtigte mit minderjährigen Kindern in einem Haushalt leben. Bei einer Minderung des Arbeitslosengeldes II um mindestens 60 Prozent des für den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs soll das Arbeitslosengeld II, soweit es für den Bedarf für Unterkunft und Heizung nach § 22 Absatz 1 erbracht wird, an den Vermieter oder andere Empfangsberechtigte gezahlt werden.

Nach meiner (begrenzten) praktischen Erfahrung am SG wurden bei mehr als 30 % durch die Berliner Jobcenter immer Lebensmittelgutscheine ausgestellt - natürlich nur auf Antrag. Die Regelung im letzten Satz soll vermeiden, dass der Leistungsempfänger Mietrückstände in kauf nimmt, um die Sanktion auf den Regelbedarf abzufedern.
Hier gibt es nichts zu sehen, ich trolle nur.
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von McLawster »

stilzchenrumpel hat geschrieben: Dienstag 5. November 2019, 20:34
KlausKommBett hat geschrieben: Dienstag 5. November 2019, 18:18 ...

Bei Eingriffen in das Existenzminimum darf der Gesetzgeber niemals Menschen in irgendeiner Weise gefährden. Und da nicht klar ist wie sich solch eine Totalsanktion auswirkt bzw Sanktionen mit ähnlicher Höhe wurde es kassiert.

Ich könnte mir folgendes vorstellen. Zukünftig wird bei andauernden Verstößen auf Sachleistungen umgestellt. Heißt, Miete und KV wird immer gewährt. Essen und Trinken gibts nur noch mit Gutscheinen für die Sanktionsdauer.

...
a) Die Sanktion trifft immer den Regelbedarf (§ 20 SGB 2) nicht die Bedarfe für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB 2)
§ 31 Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 2: Unter Umständen entfällt das ALG II vollständig. Das umfasst dann auch die Bedarfe für Unterkunft und Heizung.
stilzchenrumpel
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Re: Hartz IV Sanktionen und die Verfassung

Beitrag von stilzchenrumpel »

McLawster hat geschrieben: Mittwoch 13. November 2019, 22:03
stilzchenrumpel hat geschrieben: Dienstag 5. November 2019, 20:34
KlausKommBett hat geschrieben: Dienstag 5. November 2019, 18:18 ...

Bei Eingriffen in das Existenzminimum darf der Gesetzgeber niemals Menschen in irgendeiner Weise gefährden. Und da nicht klar ist wie sich solch eine Totalsanktion auswirkt bzw Sanktionen mit ähnlicher Höhe wurde es kassiert.

Ich könnte mir folgendes vorstellen. Zukünftig wird bei andauernden Verstößen auf Sachleistungen umgestellt. Heißt, Miete und KV wird immer gewährt. Essen und Trinken gibts nur noch mit Gutscheinen für die Sanktionsdauer.

...
a) Die Sanktion trifft immer den Regelbedarf (§ 20 SGB 2) nicht die Bedarfe für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB 2)
§ 31 Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 2: Unter Umständen entfällt das ALG II vollständig. Das umfasst dann auch die Bedarfe für Unterkunft und Heizung.
Autsch, das hatte ich überhaupt nicht mehr richtig auf dem Schirm. Habe ich tatsächlich nie gesehen (war ja nur eine begrenzte Zeit), einmal eine 60% Sanktion, das wars.
Hier gibt es nichts zu sehen, ich trolle nur.
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