Wenige Richter – und weitreichende Entscheidungsbefugnisse

Staatsrecht, Allgemeines und Besonderes Verwaltungsrecht (Bau-, Kommunal-, Polizei- und Sicherheitsrecht, BImSchG etc.)

Moderator: Verwaltung

Dikastes
Noch selten hier
Noch selten hier
Beiträge: 25
Registriert: Montag 20. August 2018, 20:36
Ausbildungslevel: Interessierter Laie

Wenige Richter – und weitreichende Entscheidungsbefugnisse

Beitrag von Dikastes »

Anlass für diesen Thread ist das Urteil, mit dem der Verfassungsgerichtshof für Nordrhein-Westfalen die Abschaffung der Stichwahlen um das Amt des Bürgermeisters für verfassungswidrig erklärt hat. Wenn man sich das Sondervotum (Rn. 198) ansieht, dann erkennt man: Die Entscheidung fiel mit der denkbar knappsten Mehrheit (4:3) !

Mit dem Inhalt der Entscheidung des Gerichts bin ich sehr zufrieden. Dennoch frage ich mich: Ist es gut, dass ein ziemlich kleines (Richter-)Gremium mit hauchdünner Mehrheit den Willen des Gesetzgebers beiseiteschieben kann?

Ähnliche Fragen habe ich mir schon bei anderen Anlässen gestellt:

Beispiel 1:
siehe oben; hier nur um der Nummerierung Willen erneut aufgeführt

Beispiel 2:
Das Bundesverfassungsgericht kippt das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung. Mehrere hundert Bundestagsabgeordnete – von denen ja sicher die meisten auf dem Boden der Werteordnung des Grundgesetztes stehen – haben sich über § 217 StGB monatelang Gedanken gemacht; und dann genügen acht Richter, um das zu kippen.

Beispiel 3:
Eine Kammer des Bundesverfassungsgerichts kippt einen BGH-Beschluss. Leider kann ich mich an die Thematik nicht mehr erinnern und habe auch keinen Nachweis. Aber ist es wirklich so, dass drei BVerfG-Richter mehr wissen und mehr können als fünf BGH-Richter? Wahrscheinlich haben sie einfach nur mehr Macht...

Beispiel 4:
Seit 1993 sind für Berufungen gegen Urteile des Schöffengerichts die kleinen Strafkammern zuständig. Dazu Meyer-Goßner, § 76 GVG, Rn. 1: „Das ist ein Systembruch…“

Beispiel 5:
Hier sind nicht die einzelnen Beschlüsse interessant, sondern die Entwicklung:
  • OLG Celle, 24.08.2010 (Verwaister Link http://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/portal/page/bsndprod.psml?doc.id=KORE200592011&st=ent&doctyp=juris-r&showdoccase=1&paramfromHL=true#focuspoint automatisch entfernt) (im Leitsatz ein Schreibversehen – eigentlich § 56f Abs. 1)
  • OLG Stuttgart, 12.12.2018: gleiches Ergebnis wie das OLG Hamm, aber das OLG Stuttgart setzt sich noch detaillierter mit dem Willen des Gesetzgebers auseinander (früher erwogener, aber nicht umgesetzter Fassungsentwurf)
Hätte man nicht gleich im ersten Anlauf mehr Argumente sammeln und abwägen und so frühzeitig eine überzeugende / tragfähige Lösung finden können? Anscheinend macht es doch einen Unterschied, ob sich drei Richter oder ob sich neun Richter mit einer Rechtsfrage befassen…

Ganz nebenbei:
Kann mir jemand erklären, wieso das OLG Hamm die Sache nicht dem BGH vorgelegt hat? Zwar machen die Richter aus Hamm gleich im Leitsatz deutlich, dass sie anderer Meinung sind als das OLG Celle; aber dann begründen sie nicht einmal, weshalb sie nicht vorlegen…


Fazit:
Mir ist nicht immer wohl bei dem Gedanken, dass ziemlich kleine Spruchkörper punktuell ziemlich viel Macht entfalten können, sei es gegenüber anderen Gerichten, sei es gegenüber dem Gesetzgeber.

Was meint ihr dazu?

Auch die Judikative bedarf der demokratischen Legitimation, und diese ist ja in Deutschland auch gegeben, wenn auch eher indirekt. Aber wenn ein Gericht schon nicht unbedingt das „Spektrum des Volkswillens“ widerspiegeln kann, sollte es dann nicht wenigstens in höherem Maße das Spektrum der unter Juristen vertretenen Positionen / Ideen / Erfahrungen widerspiegeln?

Ich bin selbst Mitglied in diversen Gremien verschiedener Größe, und ich habe immer wieder den Eindruck, dass in den größeren Gremien mehr verschiedene Argumente auf den Tisch kommen und auch länger diskutiert wird. Ich neige auch zu der These, dass in größeren Gremien die Konstanz und Konsistenz von Entscheidungen eher gegeben ist.

Auch interessant:
Bis 1924 haben die Senate des Reichgerichts in der Besetzung mit je sieben, die Senate der Oberlandesgerichte in der Besetzung mit je fünf Mitgliedern entschieden. Das ist mir nicht unsympathisch!
Omnimodofacturus
Fleissige(r) Schreiber(in)
Fleissige(r) Schreiber(in)
Beiträge: 263
Registriert: Mittwoch 26. September 2018, 20:42
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: Wenige Richter – und weitreichende Entscheidungsbefugnisse

Beitrag von Omnimodofacturus »

Dikastes hat geschrieben: Donnerstag 4. Juni 2020, 22:26
Ganz nebenbei:
Kann mir jemand erklären, wieso das OLG Hamm die Sache nicht dem BGH vorgelegt hat? Zwar machen die Richter aus Hamm gleich im Leitsatz deutlich, dass sie anderer Meinung sind als das OLG Celle; aber dann begründen sie nicht einmal, weshalb sie nicht vorlegen…


Vermutlich weil kein Fall des § 121 Abs. 2 GVG vorlag und daher eine Vorlage schon unzulässig wäre.


Im Übrigen sehe ich schon die Vorteile einer Kammerbesetzung gegenüber einer Einzelrichterentscheidung. In gewisser Hinsicht ist der Trend zum Einzelrichter in der Prozessordnungen auch gestoppt (§ 76 Abs. 2 GVG ist ja 2012 restriktiver als zuvor gefasst worden). In ähnlicher Weise gilt das für die ab 2021 ja wiederum erweiterten Zivilkammern und Zivilsenate mit gesetzlichen Sonderzuständigkeiten; das sind ja auch immer originäre Kammersachen.
Letztlich haben sich da auch die Spar- und Effizienzphantasien der Bundesländer, die letztlich dahinter steckten, nie ganz materialisiert.

Allerdings: Bei mehr als 3 Richtern sehe ich den Vorteil weiterer Richter eher gering, weil dann zwangsläufig die Zahl der Richter vergrößert, die nicht in der Sache drinstecken können (weil etwa das Durcharbeiten jeder Akte durch 7 Richter die Entscheidungen stark verzögern würde) und daher auf die Zusammenfassung und den Vorschlag des Berichterstatters, insbesondere wenn bereits mit dem Vorsitzenden abgestimmt, angewiesen sind.
Benutzeravatar
Tibor
Fossil
Fossil
Beiträge: 16446
Registriert: Mittwoch 9. Januar 2013, 23:09
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: Wenige Richter – und weitreichende Entscheidungsbefugnisse

Beitrag von Tibor »

"Just blame it on the guy who doesn't speak English. Ahh, Tibor, how many times you've saved my butt."
Liz
Mega Power User
Mega Power User
Beiträge: 3246
Registriert: Sonntag 22. Oktober 2017, 17:03
Ausbildungslevel: Anderes

Re: Wenige Richter – und weitreichende Entscheidungsbefugnisse

Beitrag von Liz »

Mehr Meinungen machen nicht zwingend bessere und überzeugendere Entscheidungen. Zumal weniger Richter nicht heißt, dass gar keine Auseinandersetzung mit abweichenden Ansichten erfolgt, denn eine Entscheidung sollte sich auch mit der bereits vorhandenen, abweichenden Rechtsprechung und Literatur auseinandersetzen.

Und dann muss man rein praktisch sehen, dass größere Kammern schlichtweg langsamer sind und deshalb weniger Fälle erledigen können. Das ist dann sowohl eine Frage der Kosten als auch der begrenzten Personalressourcen (insbesondere R2-Richter wachsen nicht auf Bäumen). Dementsprechend sehe ich etwa die Versuche des Bundesgesetzgebers das Kammerprinzip in Zivilsachen über die Schiene der Sonderzuständigkeiten zu stärken eher kritisch, wenn nicht gleichzeitig entsprechend mehr Richter zur Verfügung stehen. Dann explodieren nämlich entweder die Verfahrenslaufzeiten oder es wird doch quasi alles wieder auf den Einzelrichter übertragen.
Benutzeravatar
thh
Super Mega Power User
Super Mega Power User
Beiträge: 5292
Registriert: Dienstag 18. August 2009, 15:04
Ausbildungslevel: Interessierter Laie

Re: Wenige Richter – und weitreichende Entscheidungsbefugnisse

Beitrag von thh »

Dikastes hat geschrieben: Donnerstag 4. Juni 2020, 22:26Mit dem Inhalt der Entscheidung des Gerichts bin ich sehr zufrieden. Dennoch frage ich mich: Ist es gut, dass ein ziemlich kleines (Richter-)Gremium mit hauchdünner Mehrheit den Willen des Gesetzgebers beiseiteschieben kann?
Wäre es gut, wenn "der Wille des Gesetzgebers" sich keiner Überprüfung stellen müsste (denn ein Gericht, das kopfzahlmäßig an ein Parlament heranreicht, ist mit Sicherheit nicht arbeitsfähig)? Unsere Geschichte beantwortet diese Frage mit "nein".
Dikastes hat geschrieben: Donnerstag 4. Juni 2020, 22:26[/b][/u]Das Bundesverfassungsgericht kippt das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung. Mehrere hundert Bundestagsabgeordnete – von denen ja sicher die meisten auf dem Boden der Werteordnung des Grundgesetztes stehen – haben sich über § 217 StGB monatelang Gedanken gemacht; und dann genügen acht Richter, um das zu kippen.
Die Annahme, dass sich "mehrere hundert Abgeordnete" überhaupt intensiver mit der Vorlage befasst haben, wäre bereits nachweispflichtig. Dass sie sich "monatelang" Gedanken gemacht haben, erscheint mir völlig fernliegend. Und schließlich: "Mehrheit" ist kein Garant für Richtigkeit, sonst müssten wir sofort auf Geschworenengerichte umstellen.
Dikastes hat geschrieben: Donnerstag 4. Juni 2020, 22:26Eine Kammer des Bundesverfassungsgerichts kippt einen BGH-Beschluss. Leider kann ich mich an die Thematik nicht mehr erinnern und habe auch keinen Nachweis. Aber ist es wirklich so, dass drei BVerfG-Richter mehr wissen und mehr können als fünf BGH-Richter?
Welche drei Richter? Schon aus der Kopfzahl der wissenschaftlichen Mitarbeiter im Vergleich zur Kopfzahl der Verfassungsrichter wird deutlich, wer den Löwenanteil der Arbeit jedenfalls bei den Kammerbeschlüssen leistet. Und sagen wir mal so: jedenfalls im Strafrecht zeigt sich, dass - wer auch immer für den Inhalt der Beschlüsse verantwortlich ist - häufig nicht allzuviel von der Materie versteht.
Dikastes hat geschrieben: Donnerstag 4. Juni 2020, 22:26Beispiel 4:
Seit 1993 sind für Berufungen gegen Urteile des Schöffengerichts die kleinen Strafkammern zuständig. Dazu Meyer-Goßner, § 76 GVG, Rn. 1: „Das ist ein Systembruch…“
Was soll daran, letztlich, neu sein? Über die Revision gegen Urteil der Großen Strafkammer, die jedenfalls u.a. in Umfangs- und Schwurgerichtssachen (und zuvor immer) in 5er-Besetzung ergeht, entscheidet der BGH-Strafsenat auch (nur) in 5er-Besetzung. So what?

Und wo soll da ein Problem liegen?

Viel relevanter als die Zahl der Richter - und im Regelfall kennen sowieso nur der Vorsitzende und der Berichterstatter die Akten näher, egal wie viele Richter sonst noch an der Hauptverhandlung teilnehmen - ist auf der einen Seite deren Qualifikation und Berufserfahrung (das unterscheidet sowohl den BGH-Senat von der Strafkammer als auch die Kleine Strafkammer, der ein Vorsitzender Richter vorsitzt, vom Schöffengericht) und zum anderen die zur Verfügung stehende Zeit, d.h. die Verfahrensanzahl, die zu bewältigen ist.
Dikastes hat geschrieben: Donnerstag 4. Juni 2020, 22:26 Fazit:
Mir ist nicht immer wohl bei dem Gedanken, dass ziemlich kleine Spruchkörper punktuell ziemlich viel Macht entfalten können, sei es gegenüber anderen Gerichten, sei es gegenüber dem Gesetzgeber.

Was meint ihr dazu?
Ich ziehe Klasse der Masse vor.
Dikastes hat geschrieben: Donnerstag 4. Juni 2020, 22:26Auch interessant:
Bis 1924 haben die Senate des Reichgerichts in der Besetzung mit je sieben, die Senate der Oberlandesgerichte in der Besetzung mit je fünf Mitgliedern entschieden. Das ist mir nicht unsympathisch!
Wenn mir 15 Richter zur Verfügung stehen, die im Jahr 1.878 Verfahren erledigen müssen, dann würde ich es lieber sehen, dass sich drei Senate in einer 5er-Besetzung mit jeweils 626 Verfahren befassen als zwei Senate, die zu siebt jeweils 939 Verfahren erledigen müssen.
Tibor hat geschrieben: Donnerstag 4. Juni 2020, 23:52 Zu Mehraugen:

https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitge ... ettansicht
Das Schöne ist ja, dass der Senat des Autors das "10-Augen-Prinzip" sehr bald wieder abgeschafft hat, weil es sich als nicht praktikabel erweist. Die anderen Senate vertreten mithin die Ansicht, dass es ausreicht, wenn BE und Vorsitzender das Revisionsheft komplett zur Kenntnis genommen haben; der weise Fischer hingegen hält das für mehr oder weniger verfassungswidrig und macht es trotzdem. Die Sachzwänge, you know. Aber besser man hat (natürlich einzig richtige) Überzeugungen, die man dann aus Praktikabilitätsgründen ignoriert, als wenn man gar nicht der einzig richtigen Überzeugung ist, nehme ich an.
Benutzeravatar
Tibor
Fossil
Fossil
Beiträge: 16446
Registriert: Mittwoch 9. Januar 2013, 23:09
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: Wenige Richter – und weitreichende Entscheidungsbefugnisse

Beitrag von Tibor »

thh hat geschrieben: Freitag 5. Juni 2020, 14:30
Tibor hat geschrieben: Donnerstag 4. Juni 2020, 23:52 Zu Mehraugen:

https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitge ... ettansicht
Das Schöne ist ja, dass der Senat des Autors das "10-Augen-Prinzip" sehr bald wieder abgeschafft hat, weil es sich als nicht praktikabel erweist. Die anderen Senate vertreten mithin die Ansicht, dass es ausreicht, wenn BE und Vorsitzender das Revisionsheft komplett zur Kenntnis genommen haben; der weise Fischer hingegen hält das für mehr oder weniger verfassungswidrig und macht es trotzdem. Die Sachzwänge, you know. Aber besser man hat (natürlich einzig richtige) Überzeugungen, die man dann aus Praktikabilitätsgründen ignoriert, als wenn man gar nicht der einzig richtigen Überzeugung ist, nehme ich an.
Ein Streit um des Kaisers Bart. Tatsächlich kommt es nicht darauf an, ob alle Mitglieder des Spruchkörpers mal die Akte durchgeblättert haben, sondern ob der Berichterstatter ordentlich arbeitet und eine Beratung im vollständigen Spruchkörper mehr ist, als nur ein Vortrag des Votums und gefälliges Abnicken.
"Just blame it on the guy who doesn't speak English. Ahh, Tibor, how many times you've saved my butt."
Benutzeravatar
thh
Super Mega Power User
Super Mega Power User
Beiträge: 5292
Registriert: Dienstag 18. August 2009, 15:04
Ausbildungslevel: Interessierter Laie

Re: Wenige Richter – und weitreichende Entscheidungsbefugnisse

Beitrag von thh »

Tibor hat geschrieben: Freitag 5. Juni 2020, 15:01Ein Streit um des Kaisers Bart. Tatsächlich kommt es nicht darauf an, ob alle Mitglieder des Spruchkörpers mal die Akte durchgeblättert haben, sondern ob der Berichterstatter ordentlich arbeitet und eine Beratung im vollständigen Spruchkörper mehr ist, als nur ein Vortrag des Votums und gefälliges Abnicken.
Da sind wir uns einig. Wenn man allerdings eine andere Ansicht dazu hat - was ja legitim ist - und wie u.a. in dem von Dir verlinkten Beitrag nahelegt, dass es entscheidend auf die Kenntnis aller Mitglieder des Gremiums ankommt, dann aber anders handelt, hat das schon ein G'schmäckle.
Benutzeravatar
Strich
Mega Power User
Mega Power User
Beiträge: 2278
Registriert: Samstag 9. Januar 2016, 16:52
Ausbildungslevel: Anderes

Re: Wenige Richter – und weitreichende Entscheidungsbefugnisse

Beitrag von Strich »

Auch wenn ich gerne auf bei dem Fischerbashing einsteige, ist seine Ansicht nachvollziehbar. Alle im Senat sollen die Entscheidung vertreten, was erfordert, dass alle die Akte kennen. An den Grad von "kennen" kann man jetzt unterschiedliche Anforderungen stellen. Ich halte aber eher die Ansicht für begründungsbedürftig, die meint, es reiche aus, sich das alles vom Berichterstatter erzählen zu lassen. Das du (und Liz) dich hier wieder mit der Sicht "Richter haben schnell alles wegzuerledigen" hervortust, wundert nicht :-P.

Was mich immer überzeugt hat war, dass man sich für gewöhnlich irgendwann in der Kammer "kennt" und daher weiß, wie der andere arbeitet. Ich halte es auch nicht für notwendig eine Akte durchzuarbeiten, wenn der BE ein Typ ist, der mir in Diskussionen um Rechtsfragen aus meinen Fällen stets Gedanken aufzeigt, an die ich vorher nicht gedacht habe und das meinen Fall löst. Da kann man natürlich selbst in die Akte schauen. Die Wahrscheinlichkeit, dass einem dann noch der große Wurf gelingt, ist gering und rechtfertigt den Aufwand nicht. Umgekehrt kann es natürlich nicht sein, dass die äußeren Bedingungen so geschaffen sind, dass ich im Grunde so verfahren muss, um meine Arbeit zu erledigen, gerade wenn der BE bspw. neu ist und ich schon seit 20 Jahren Beamtenrecht mache.
Stehe zu deinen Überzeugungen soweit und solange Logik oder Erfahrung dich nicht widerlegen. Denk daran: Wenn der Kaiser nackt aussieht ist der Kaiser auch nackt ... .
- Daria -

www.richtersicht.de

Seit 31.05.2022 Lord Strich
Benutzeravatar
Tibor
Fossil
Fossil
Beiträge: 16446
Registriert: Mittwoch 9. Januar 2013, 23:09
Ausbildungslevel: Ass. iur.

Re: Wenige Richter – und weitreichende Entscheidungsbefugnisse

Beitrag von Tibor »

Strich hat geschrieben: Freitag 5. Juni 2020, 15:23 ... sich das alles vom Berichterstatter erzählen zu lassen. ...
Eine vernünftige Spruchkörpertätigkeit erfordert ein Votum, dass die anderen im Spruchkörper ausreichende Zeit vor dem Termin lesen können.
"Just blame it on the guy who doesn't speak English. Ahh, Tibor, how many times you've saved my butt."
Benutzeravatar
Strich
Mega Power User
Mega Power User
Beiträge: 2278
Registriert: Samstag 9. Januar 2016, 16:52
Ausbildungslevel: Anderes

Re: Wenige Richter – und weitreichende Entscheidungsbefugnisse

Beitrag von Strich »

Sie erfordert auch noch andere Sachen ...
Stehe zu deinen Überzeugungen soweit und solange Logik oder Erfahrung dich nicht widerlegen. Denk daran: Wenn der Kaiser nackt aussieht ist der Kaiser auch nackt ... .
- Daria -

www.richtersicht.de

Seit 31.05.2022 Lord Strich
Swann
Urgestein
Urgestein
Beiträge: 6456
Registriert: Donnerstag 28. Dezember 2006, 09:04

Re: Wenige Richter – und weitreichende Entscheidungsbefugnisse

Beitrag von Swann »

thh hat geschrieben: Freitag 5. Juni 2020, 14:30
Was soll daran, letztlich, neu sein? Über die Revision gegen Urteil der Großen Strafkammer, die jedenfalls u.a. in Umfangs- und Schwurgerichtssachen (und zuvor immer) in 5er-Besetzung ergeht, entscheidet der BGH-Strafsenat auch (nur) in 5er-Besetzung. So what?

Neu ist daran, dass dem GVG das Konzept einer zunehmenden Anzahl von Berufsrichtern im Rechtsmittelzug zugrunde lag. Im Zivilprozess die Steigerung von 1-3-5-7 vom Amtsgericht zum Reichsgericht. Im Strafprozess gab es in der Urfassung des GVG beim Amtsgericht ausschließlich Schöffengerichte, am Landgericht teilte sich die Zuständigkeit in die Strafkammer (regelmäßig mit 5 (!) Berufsrichtern besetzt, nur in Privatklage- und Berufungssachen wegen Übertretungen mit 3 Berufsrichtern) und das Schwurgericht (mit 3 Berufsrichtern besetzt, die aber gar nicht über die Schuldfrage entschieden).

Man kann also durchaus bemerken, dass die Regelbesetzung von fünf Berufsrichtern, die dem Ur-GVG für minder bedeutsame landgerichtliche Strafsachen vorschwebte, heute allenfalls von Staatsschutzstrafsachen von besonderem Umfang erreicht wird. Und dass im Jahr 1877 über eine Berufung gegen ein amtsgerichtliches Urteil fünf Berufsrichter entschieden (wenn keine Übertretung betroffen war) und heute einer.
Theopa
Super Power User
Super Power User
Beiträge: 1328
Registriert: Mittwoch 9. Juli 2014, 18:09
Ausbildungslevel: RA

Re: Wenige Richter – und weitreichende Entscheidungsbefugnisse

Beitrag von Theopa »

Tibor hat geschrieben: Freitag 5. Juni 2020, 15:56 Eine vernünftige Spruchkörpertätigkeit erfordert ein Votum, dass die anderen im Spruchkörper ausreichende Zeit vor dem Termin lesen können.
Das Problem dabei dürfte der Filter durch den Berichterstatter sein.

Ich hatte zuletzt bei einer Berufung ein (für uns glücklicherweise günstiges) Urteil, bei welchem der BE am LG eine der Vernehmungen eines Zeugen knapp 2 Jahre nach dem Ereignis wohl überhaupt nicht mehr bedacht bzw. einfach vergessen und die Entscheidung praktisch komplett auf die wesentlich ausführlichere zweite Vernehmung etwa 4 Jahre nach dem Ereignis gestützt hat. Dabei gab es durchaus gewisse Widersprüche zwischen den Aussagen. Wenn zwei Kollegen die Akte vor dem Urteil noch einmal kritisch durchblättert hätten wäre das das mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit wenigstens einem aufgefallen. Ich gehe daher einfach mal davon aus, dass das unterblieben ist.
Benutzeravatar
thh
Super Mega Power User
Super Mega Power User
Beiträge: 5292
Registriert: Dienstag 18. August 2009, 15:04
Ausbildungslevel: Interessierter Laie

Re: Wenige Richter – und weitreichende Entscheidungsbefugnisse

Beitrag von thh »

Strich hat geschrieben: Freitag 5. Juni 2020, 15:23Auch wenn ich gerne auf bei dem Fischerbashing einsteige, ist seine Ansicht nachvollziehbar. Alle im Senat sollen die Entscheidung vertreten, was erfordert, dass alle die Akte kennen.
Naja, die "Akte" ist das Senatsheft, also Urteil, Revisionsbegründung(en), Zuschrift des GBA.
Strich hat geschrieben: Freitag 5. Juni 2020, 15:23An den Grad von "kennen" kann man jetzt unterschiedliche Anforderungen stellen. Ich halte aber eher die Ansicht für begründungsbedürftig, die meint, es reiche aus, sich das alles vom Berichterstatter erzählen zu lassen.
Sagen wir mal so: dass in einem erstinstanzlichen Kollegialgericht die Beischläfer, pardon, Beisitzer, die Akten näher kennen, erscheint mir eher Sonderfall als Regel. Dann kommen im Strafrecht noch die Schöffen dazu, die die Akten nicht kennen dürfen; in der Großen Strafkammer in Vollbesetzung kennen also von fünf Richtern in der Regel zwei die Akten. Klar, alle haben den unmittelbaren Eindruck aus der Hauptverhandlung, aber ohne Kenntnis der in der Regel nicht ganz schmalen Akten ist dessen Wert überschaubar.

Man darf auch nicht übersehen, dass es in der Revision primär um Rechtsfragen geht. Die lassen sich regelmäßig durchaus gut kondensieren.

Abgesehen davon: es ist ausdrücklicher Wunsch des Verfassungsgerichts, dass im Strafrecht über gravierende Eingriffsmaßnahmen außerhalb der üblichen Geschäftszeiten aufgrund eines kurzen fernmündlichen Berichts, der auf einem anderen kurzen fernmündlichen Bericht beruht, entschieden wird ...
Strich hat geschrieben: Freitag 5. Juni 2020, 15:23Das du (und Liz) dich hier wieder mit der Sicht "Richter haben schnell alles wegzuerledigen" hervortust, wundert nicht :-P.
Mir persönlich ist das gar nicht so wichtig, ob ein Angeklagter ein paar Jahre länger in U-Haft sitzt, weil das Revisionsverfahren länger dauert, aber dem Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen entspräche das wohl nicht so ganz.
Strich hat geschrieben: Freitag 5. Juni 2020, 15:23Was mich immer überzeugt hat war, dass man sich für gewöhnlich irgendwann in der Kammer "kennt" und daher weiß, wie der andere arbeitet. Ich halte es auch nicht für notwendig eine Akte durchzuarbeiten, wenn der BE ein Typ ist, der mir in Diskussionen um Rechtsfragen aus meinen Fällen stets Gedanken aufzeigt, an die ich vorher nicht gedacht habe und das meinen Fall löst. Da kann man natürlich selbst in die Akte schauen. Die Wahrscheinlichkeit, dass einem dann noch der große Wurf gelingt, ist gering und rechtfertigt den Aufwand nicht. Umgekehrt kann es natürlich nicht sein, dass die äußeren Bedingungen so geschaffen sind, dass ich im Grunde so verfahren muss, um meine Arbeit zu erledigen, gerade wenn der BE bspw. neu ist und ich schon seit 20 Jahren Beamtenrecht mache.
Man sollte sich ja doch der Hoffnung hingeben dürfen, dass Richter am Bundesgerichtshof überwiegend in die erste Kategorie fallen.
Tibor hat geschrieben: Freitag 5. Juni 2020, 15:56Eine vernünftige Spruchkörpertätigkeit erfordert ein Votum, dass die anderen im Spruchkörper ausreichende Zeit vor dem Termin lesen können.
Offensichtlich ist das nicht der Fall, wie sieben Jahrzehnte Tätigkeit der Strafsenate des BGH belegen ...
doohan
Häufiger hier
Häufiger hier
Beiträge: 87
Registriert: Dienstag 26. Mai 2020, 00:47
Ausbildungslevel: Interessierter Laie

Re: Wenige Richter – und weitreichende Entscheidungsbefugnisse

Beitrag von doohan »

thh hat geschrieben: Freitag 5. Juni 2020, 19:28 Abgesehen davon: es ist ausdrücklicher Wunsch des Verfassungsgerichts, dass im Strafrecht über gravierende Eingriffsmaßnahmen außerhalb der üblichen Geschäftszeiten aufgrund eines kurzen fernmündlichen Berichts, der auf einem anderen kurzen fernmündlichen Bericht beruht, entschieden wird ...
Die Entscheidung würde ich gerne sehen. Hast du ein Aktenzeichen?
Dikastes
Noch selten hier
Noch selten hier
Beiträge: 25
Registriert: Montag 20. August 2018, 20:36
Ausbildungslevel: Interessierter Laie

Re: Wenige Richter – und weitreichende Entscheidungsbefugnisse

Beitrag von Dikastes »

Omnimodofacturus hat geschrieben: Donnerstag 4. Juni 2020, 23:26
Dikastes hat geschrieben: Donnerstag 4. Juni 2020, 22:26 Ganz nebenbei:
Kann mir jemand erklären, wieso das OLG Hamm die Sache nicht dem BGH vorgelegt hat? Zwar machen die Richter aus Hamm gleich im Leitsatz deutlich, dass sie anderer Meinung sind als das OLG Celle; aber dann begründen sie nicht einmal, weshalb sie nicht vorlegen…
Vermutlich weil kein Fall des § 121 Abs. 2 GVG vorlag und daher eine Vorlage schon unzulässig wäre.
Ja, schon, das ist der Erklärungsansatz. Aber wenn ich mir die Entscheidungen durchlese, dann habe ich den Eindruck, dass sich die Fälle schon verdammt ähnlich sind.
Antworten