Normentheorie (Kollisionsfrage)

Staatsrecht, Allgemeines und Besonderes Verwaltungsrecht (Bau-, Kommunal-, Polizei- und Sicherheitsrecht, BImSchG etc.)

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Tibor
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Normentheorie (Kollisionsfrage)

Beitrag von Tibor »

Liebe Foristen,

folgende Konstellation möchte ich zur Diskussion stellen:

Der Gesetzgeber (konkurrierende Gesetzgebung) macht einen Fehler. Wie üblich kommen Gesetzentwürfe aus den BMinisterien, werden zur Regierungsvorlage, gehen durch BT und BR und werden dann verkündet. Der Ablauf selbst ist klar und wird auch eingehalten.

Es gibt als Ausgangspunkt ein Gesetz, dass bisher §§ 1-50 enthält. Es hat eine aktuelle Fassung eines letzten Änderungsgesetzes; Annahmegemäß nehmen wir den 30.12.2019 an.

Nun kommt es zu einem Gesetzentwurf (Artikelgesetz 1) aus dem BMin 1 und es soll ein § 51 angefügt werden. Im Entwurf wird die Fassung vom 30.12.2019 referenziert.

Leider kommt auch BMin 2 auf die Idee das Gesetz zu ändern und mittels „Artikelgesetz 2“ §§ 51-69 anzufügen. Im Entwurf wird ebenfalls die Fassung vom 30.12.2019 referenziert. Es gibt keine Hinweise in den Materialien, dass man § 51 idF des BMin 1 aufheben wolle; beide haben auch einen völlig anderen materiellen Inhalt.

Nun kommt, was nicht passieren soll. Der Entwurf von BMin 1 wird durch BT/BR beschlossen und vom BPräs verkündet. Der Entwurf von BMin 2 ebenfalls; Verkündung ein Tag später. Ausfertigung beider Artikelgesetze erfolgt dann im BGBl, ebenfalls in der Reihenfolge.

Und nun? Gilt hier ganz schnöde Lex Posterior? Aus Gründen der Klarheit mE vorzuziehen, weil man ja sonst 2 unterschiedliche § 51 mit völlig unterschiedlichen - sich aber nicht entgegenstehenden - Inhalten im Gesetz hat. Irgendwie bin ich der Meinung, dass § 51 idF des Artikelgesetzes 1 nur 1 Tag wirksame Norm war.

Man könnte aber auch beide § akzeptieren und die Fortgeltung damit begründen, dass im Artikelgesetz nicht beschlossen wurde, § 51 idF des Artikelgesetzes 1 zu ersetzen.

Man könnte natürlich adhoc und ganz pragmatisch einen Berichtigungsprozess durchziehen; macht man aber irgendwie nicht.

Was meint ihr? Gibt es zwei verschiedene § 51 oder nur einen?

VG
Tibor
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Re: Normentheorie (Kollisionsfrage)

Beitrag von Gelöschter Nutzer »

Solange und soweit sich die Normen inhaltlich nicht widersprechen, sollten mE beide gelten. Dass sie beide die ungünstige gleiche Bezeichnung haben, spielt keine wesentliche Rolle. Die Nummerierung ist ja eher formaler Natur. Und auch sonst sind derartige Schömheitsfehler ja unschädlich (vgl "Absatz 1", obwohl es nur einen Absatz gibt).

Letztlich ist entscheidend, ob der späteren Norm ein Aufhebungswille zu entnehmen ist, was mE zu verneinen ist.
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Tibor
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Re: Normentheorie (Kollisionsfrage)

Beitrag von Tibor »

Also lex posterior nur bei materiell-widersprüchlichen Normen?

Wie würde man dann die Normen bezeichnen? § 51 X-Gesetz idF des Änderungsgesetzes 1?
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Sektnase
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Re: Normentheorie (Kollisionsfrage)

Beitrag von Sektnase »

Ich würde gegenteilig argumentieren. Das Gesetzgebungsverfahren muss (insoweit) streng formalisiert ablaufen. So wäre es immer der Auslegung überlassen, ob eine Neuregelung unter einem bestehenden §§ wirklich (den ganzen) Paragraphen abändert wollte. Von den Schwierigkeiten der Anwendung (§§ XY in der Form der Änderung vom..) mal abgesehen. Ob ein Gesetz letztlich wirksam ist, ist unklar genug :D
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Re: Normentheorie (Kollisionsfrage)

Beitrag von Gelöschter Nutzer »

Tibor hat geschrieben: Donnerstag 17. September 2020, 23:21 Also lex posterior nur bei materiell-widersprüchlichen Normen?

Wie würde man dann die Normen bezeichnen? § 51 X-Gesetz idF des Änderungsgesetzes 1?
Ja, denn lex posterior gilt mW nur, soweit zwei Normen tatsächlich kollidieren. Das ist hier inhaltlich gerade nicht der Fall.

Insgesamt würde ich wie folgt prüfen:

1. Wurde die erste Norm aufgehoben?
- nicht ausdrücklich
- wohl auch nicht konkludent, da die zweite Norm in Unkenntnis der ersten erlassen wurde. Zumal sie sich inhaltlich nicht widersprechen

2. Kollidieren die Normen iÜ (Verdrängung der ersten Norm, lex posterior)? Nein, nur bezüglich der Bezeichnung. Diese dürfte für die Frage der Kollision unmaßgeblich sein.
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Tibor
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Re: Normentheorie (Kollisionsfrage)

Beitrag von Tibor »

Danke. Ja, gestern Abend war wohl spät. Es kollidiert ja nicht die Norm (Gesetzesbefehl), sondern nur die Nummerierung.
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Re: Normentheorie (Kollisionsfrage)

Beitrag von Gelöschter Nutzer »

Gerne. Bin natürlich selbst kein Meister der Normentheorie und meine Stärke liegt eher im Bereich ZR, aber dieses Ergebnis erscheint mir auf jeden Fall am plausibelsten. :)
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Strich
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Re: Normentheorie (Kollisionsfrage)

Beitrag von Strich »

Schließe mich Suchender_ an. Anders wäre es zu beurteilen, wenn ÄG 1 § 50 ändert, was ÄG2 ebenfalls tut. Dann kommt es nämlich für die Frage, ob Normen kollidieren, nicht auf den Inhalt von § 50 an sondern auf den Inhalt von Artikel 1 des ÄG 1 und Artikel 1 des ÄG 2. Die kollidieren dann nämlich schon, weil sie beide den selben Paragraphen ändern. Dann gilt lex posterior.
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Re: Normentheorie (Kollisionsfrage)

Beitrag von scndbesthand »

Man sollte natürlich noch berücksichtigen, ob §§ 52-69 Fassung 2 ggf. Widersprüche zu § 51 Fassung 1 enthalten. Oder ob die Verfasser des Artikelgesetzes 2 Änderungen am Gesetz vorgenommen hätten, wenn sie § 51 Fassung 1 gekannt hätten.

Zudem: Wenn der Gesetzgeber bemerkt, dass es § 51 in Fassung 1 und Fassung 2 gibt und gleichwohl sich nicht veranlasst sieht, § 51 Fassung 1 in § 50a zu ändern, ist dann tatsächlich der Schluss gerechtfertigt, § 51 Fassung 1 solle noch gelten?
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Re: Normentheorie (Kollisionsfrage)

Beitrag von doohan »

Suchender_ hat geschrieben: Donnerstag 17. September 2020, 23:19 Solange und soweit sich die Normen inhaltlich nicht widersprechen, sollten mE beide gelten. Dass sie beide die ungünstige gleiche Bezeichnung haben, spielt keine wesentliche Rolle. Die Nummerierung ist ja eher formaler Natur. Und auch sonst sind derartige Schömheitsfehler ja unschädlich (vgl "Absatz 1", obwohl es nur einen Absatz gibt).

Letztlich ist entscheidend, ob der späteren Norm ein Aufhebungswille zu entnehmen ist, was mE zu verneinen ist.
Grundsätzlich gilt ein Gesetz nach seiner Ausfertigung; hier also beide.

Wenn allerdings die gleiche Nummerierung verwendet wird, ist es fraglich, ob damit das Bestimmtheitsgebot noch eingehalten wird; schon allein deswegen, weil in vielen Gesetzen über die Nummerierung auf andere Gesetze verwiesen wird. Spätestens wenn auf den §51 von einem anderen Gesetz verwiesen wird, dürfte das Bestimmtheitsgebot verletzt sein. Insofern halte ich die Meinung, die Bezeichnung spiele keine wesentliche Rolle, für gewagt ;-).

Das ändert jedoch erst mal nichts daran, dass beide Gesetze gelten und man sich darauf berufen kann (soweit nicht lex posterior das schon regelt). Es verbleibt im schlimmsten Fall dann nur der Gang nach Karlsruhe, da nur das BVerfG selbiges im Rahmen einer Normenkontrolle feststellen und den Zustand einstweilig regeln kann.

Das BVerfG wird in dem Fall zur Betriebswerkstatt für BT/BR und Bundespräsident; was dabei letztlich rauskommt, ist dann mehr oder minder für denjenigen, der sich darauf beruft, gewürfelt....
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