Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Straf-, Strafprozeß- und Ordnungswidrigkeitenrecht sowie Kriminologie

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Urs Blank
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Urs Blank »

batman hat geschrieben: Donnerstag 23. Dezember 2021, 20:15 Der Bundespräsident hat ausgefertigt, aber unter "erheblichen Bedenken".
https://www.sueddeutsche.de/politik/bun ... -1.5493966
Was soll das bedeuten: "Erneute parlamentarische Prüfung"? Letztlich kann dies ja nur ein neues Gesetzgebungsverfahren sein, nunmehr mit veränderten Mehrheiten, gerichtet darauf, die Verschärfung wieder aufzuheben. Die SPD, die sie mitgetragen hatte, müsste sich dafür eines anderen besinnen.

M. E. ist es staatspolitisch unziemlich, dass der Bundespräsident einem Parlamentsgesetz einen solchen Makel anheftet. Hält er es für verfassungswidrig, kann er die Ausfertigung verweigern, andernfalls sollte er schweigen. Machtpolitisch allerdings ein guter Schachzug, sowohl die (vermeintliche?) Mehrheitsmeinung der Bevölkerung zu bedienen als auch die erforderlichen Stimmen der FDP für seine eigene Wiederwahl zusammenzukratzen.
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Strich
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Strich »

https://www.sueddeutsche.de/politik/str ... -1.5505399

Man mag bei diesem Artikel, der Canabislegalisierung und weiterer Projekte der Bundesregierung fast meinen, dass da wieder Vernunft mitregiert.
Stehe zu deinen Überzeugungen soweit und solange Logik oder Erfahrung dich nicht widerlegen. Denk daran: Wenn der Kaiser nackt aussieht ist der Kaiser auch nackt ... .
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batman
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von batman »

Die gesetzliche Regelung zur Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Freigesprochenen in § 362 Nr. 5 StPO ist verfassungswidrig:

https://www.bundesverfassungsgericht.de ... 3-094.html
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Urs Blank
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Urs Blank »

Mit Sondervotum Langenfeld/Müller, das ich für überzeugender halte. Vor allem mit die Blick auf die Beispiele zum Vergleich von § 362 Nr. 1 - 4 StPO einerseits, Nr. 5 andererseits. Sie decken Inkonsistenzen der Mehrheitsmeinung auf. Insgesamt eine Entscheidung, in der abstrakte Prinzipien mehr zählen, als eine pragmatische - an realistischerweise zu erwartenden Fallgestaltungen orientierte - Sichtweise.
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Ara
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Ara »

Urs Blank hat geschrieben: Dienstag 31. Oktober 2023, 13:19 Mit Sondervotum Langenfeld/Müller, das ich für überzeugender halte. Vor allem mit die Blick auf die Beispiele zum Vergleich von § 362 Nr. 1 - 4 StPO einerseits, Nr. 5 andererseits. Sie decken Inkonsistenzen der Mehrheitsmeinung auf. Insgesamt eine Entscheidung, in der abstrakte Prinzipien mehr zählen, als eine pragmatische - an realistischerweise zu erwartenden Fallgestaltungen orientierte - Sichtweise.
Das Sondervotum zeigt vor allem Eindrucksvoll wie man das Inhaltsleere "effektive Strafrechtspflege" ein weiteres mal heranziehen kann, ohne es auch nur im Ansatz greifbar zu machen. Es ist wohl das austauschbarste Argument, in der strafrechtlichen Rechtsprechung,

Man muss sich den Satz aus dem Sondervotum mal auf der Zunge zergehen lassen: "wenn das Gewicht der Wiederaufnahmegründe und das dahinterstehende Anliegen einer materiell schuldangemessenen Sanktionierung als Ausdruck einer effektiven Strafrechtspflege den grundsätzlichen Bestand rechtskräftiger Entscheidungen ausnahmsweise überwieg."

"Anliegen eines materiellen schuldangemessenen Sanktionierung als Ausdruck einer effektiven Strafrechtspflege". Das heißt, dass eine "effektive Strafrechtspflege" eine "schuldangemessene Sanktionierung" voraussetzen soll. Bitte was? Die Strafrechts!PFLEGE! soll eine Sanktion "voraussetzen"?

Die Sanktion ist ein MITTEL der ("effektiven") strafrechtspflege und sicherlich nicht deren Voraussetzung. Eine Strafrechtspflege könnte theoretisch ganz ohne Sanktion auskommen (und tut sie in vielen Belangen ja auch). Daher ist Sinn und Zweck des Strafrechtspflege, wie schon zum Beginn des Threads aufgeführt, einzig und allein die formalisierte Konfliktverarbeitung. Das heißt die "effektive Strafrechtspflege" ist nichts anderes als das "Untermaß" an Strafverfolgung. Die "effektive Strafrechtspflege" ist also eigentlich nur das Untermaßverbot des staatlichen Schutzauftrages.

Hassemer hat es mal ganz gut zusammenfasst: Es ist keine Gesellschaft bekannt, welche an der Funktionsuntüchtigkeit durch alltägliche Kriminalität zerbrochen ist. Es gibt aber viele Gesellschaften und Strafrechtsordnungen, welche sich durch ein Zuviel an Effektivität gegen Abweichler zu einem terroristischen Unrechtsstaat entwickelt haben.

Daher kann die "effektive Strafrechtspflege" auch nie eine Wiederaufnahme des Verfahrens rechtfertigen. Ziel der Strafrechtspflege ist Konfliktverarbeitung und damit Rechtsfrieden. Eine Strafrechtspflege die eine Wiederaufnahme ermöglicht, verliert immer an Effektivität, weil es den Rechtsfrieden im Einzelfall stört.

Wenn man also wie Langenfeld und Müller meint, dass Art. 103 Abs. 3 GG nicht abwägungsfest ist, dann ist aber ganz sicher nicht die "effektive Strafrechtspflege" das wogegen abgewogen wird, denn der Punkt streitet ganz klar für die Abwägungsfestigkeit. Wenn man Abwägen möchte, dann müsste es gegen andere Rechtsgüter erfolgen. jedes Wiederaufnahmeverfahren stört nämlich die "Effektivität".

Ich vermute aber, dass sich beim Abfassen des Sondervotums über diese Frage gar keine Gedanken gemacht wurden. Offenbar wurde "effektive Strafrechtspflege" (mal wieder) einfach genommen um zu sagen "sonst ist es ungerecht".
Die von der Klägerin vertretene Auffassung, die Beeinträchtigung des Wohngebrauchs sei durch das Zumauern der Fenster nur unwesentlich beeinträchtigt, ist so unverständlich, dass es nicht weiter kommentiert werden soll. - AG Tiergarten 606 C 598/11
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famulus
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von famulus »

Urs Blank hat geschrieben: Dienstag 31. Oktober 2023, 13:19 Mit Sondervotum Langenfeld/Müller, das ich für überzeugender halte.
+1

Ein Argument ist ja gerade, dass es andere Wiederaufnahmegründe (die die Sphäre außerhalb des Beschuldigten betreffen) gibt und schon vorkonstitutionell gab - dann erscheint es doch inkonsequent, so absolut zu argumentieren. Jedenfalls dann, wenn man nicht mit dem Arsch auch die anderen, "überkommenen" Wiederaufnahmegründe mit einreißen will.
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Flasche leer
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Flasche leer »

Ara hat geschrieben: Dienstag 31. Oktober 2023, 19:41
Urs Blank hat geschrieben: Dienstag 31. Oktober 2023, 13:19 Mit Sondervotum Langenfeld/Müller, das ich für überzeugender halte. Vor allem mit die Blick auf die Beispiele zum Vergleich von § 362 Nr. 1 - 4 StPO einerseits, Nr. 5 andererseits. Sie decken Inkonsistenzen der Mehrheitsmeinung auf. Insgesamt eine Entscheidung, in der abstrakte Prinzipien mehr zählen, als eine pragmatische - an realistischerweise zu erwartenden Fallgestaltungen orientierte - Sichtweise.

Das Sondervotum zeigt vor allem Eindrucksvoll wie man das Inhaltsleere "effektive Strafrechtspflege" ein weiteres mal heranziehen kann, ohne es auch nur im Ansatz greifbar zu machen. Es ist wohl das austauschbarste Argument, in der strafrechtlichen Rechtsprechung,

........

Ich vermute aber, dass sich beim Abfassen des Sondervotums über diese Frage gar keine Gedanken gemacht wurden. Offenbar wurde "effektive Strafrechtspflege" (mal wieder) einfach genommen um zu sagen "sonst ist es ungerecht".

Wirkt etwas so, als könnten eventuell zwei unterschiedliche Verständnismöglichkeiten für den gleichen Begriff einer "effektiven Strafrechtspflege" vorliegen:
Einerseits scheint der Begriff im Post eher darauf bezogen, ein Strafverfahren formal zu einem Ergebnis zu führen.
Jede Wiederaufnahme sollte hier "Effektivität" nach solchem Verständnis entgegenstehen.
In den kritisch erwähnten Sondervorten könnte der Begriff eher auf materielle Richtigkeit und mögliche Strafzwecke bezogen wirken, vielleicht auch unter anderem im Sinne von Schuldausgleich und Wiedergutmachung o.ä.?
Jedes Urteil was materiell als nur zweifelhaft richtig erscheinen sollte, sollte nach solchem Verständnis "effektiver Strafrechtspflege" zuwiderlaufen können?
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Ara »

Flasche leer hat geschrieben: Dienstag 31. Oktober 2023, 21:03
Ara hat geschrieben: Dienstag 31. Oktober 2023, 19:41
Urs Blank hat geschrieben: Dienstag 31. Oktober 2023, 13:19 Mit Sondervotum Langenfeld/Müller, das ich für überzeugender halte. Vor allem mit die Blick auf die Beispiele zum Vergleich von § 362 Nr. 1 - 4 StPO einerseits, Nr. 5 andererseits. Sie decken Inkonsistenzen der Mehrheitsmeinung auf. Insgesamt eine Entscheidung, in der abstrakte Prinzipien mehr zählen, als eine pragmatische - an realistischerweise zu erwartenden Fallgestaltungen orientierte - Sichtweise.

Das Sondervotum zeigt vor allem Eindrucksvoll wie man das Inhaltsleere "effektive Strafrechtspflege" ein weiteres mal heranziehen kann, ohne es auch nur im Ansatz greifbar zu machen. Es ist wohl das austauschbarste Argument, in der strafrechtlichen Rechtsprechung,

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Ich vermute aber, dass sich beim Abfassen des Sondervotums über diese Frage gar keine Gedanken gemacht wurden. Offenbar wurde "effektive Strafrechtspflege" (mal wieder) einfach genommen um zu sagen "sonst ist es ungerecht".

Wirkt etwas so, als könnten eventuell zwei unterschiedliche Verständnismöglichkeiten für den gleichen Begriff einer "effektiven Strafrechtspflege" vorliegen:
Einerseits scheint der Begriff im Post eher darauf bezogen, ein Strafverfahren formal zu einem Ergebnis zu führen.
Jede Wiederaufnahme sollte hier "Effektivität" nach solchem Verständnis entgegenstehen.
In den kritisch erwähnten Sondervorten könnte der Begriff eher auf materielle Richtigkeit und mögliche Strafzwecke bezogen wirken, vielleicht auch unter anderem im Sinne von Schuldausgleich und Wiedergutmachung o.ä.?
Jedes Urteil was materiell als nur zweifelhaft richtig erscheinen sollte, sollte nach solchem Verständnis "effektiver Strafrechtspflege" zuwiderlaufen können?
:-k
So scheinen die beiden das in ihrem Sondervotum wohl zu verwenden, hat dann aber relativ wenig mit der bisherigen kritischen Diskussion des Begriffes zu tun. Wenn man sich anschaut wo der Begriff der "effektiven Strafrechtspflege" bisher so verwendet wurde, war das eigentlich immer ein Argument, um die Beschuldigtenrechte einzuschränken und die Ressourcen der Justiz zu schonen. Eine materielle Strafgerechtigkeit war nie Thema. Schon bisher wurde aber kritisiert, dass der Begriff völlig willkürlich verwendet wird. Bestes Beispiel ist die Verständigung im Strafprozess: Der BGH hat gesagt, die "effektive Strafrechtspflege" setzt zwingend voraus, dass die Gerichte sich verständigen dürfen. Das Bundesverfassungsgericht hat anschließend ausgeführt, dass die "effektive Strafrechtspflege" einer Verständigung grundsätzlich entgegen steht und daher nur in engen Grenzen überhaupt zulässig ist. Das heißt das gleiche Argument wurde sowohl für die Begründung der Verständigung als auch für deren Limitierung verwendet, das muss man erstmal argumentativ hinbekommen.

Im Kern haben die in ihrem Sondervotum ja recht, dass die Entscheidung insgesamt relativ inkonsequent ist. Nur deren Begründung überzeugt auch nicht. Möglicherweise ist das Problem, dass die gesamte Wiederaufnahme zu Ungunsten des Beschuldigten ein Problem darstellt, wenn Art. 103 Abs. 3 GG tatsächlich als abwägungsfest angesehen wird. Wenn man dann aber die bisherige Regelung irgendwie Retten möchte, müsse halt solche inkonsequente Spagate gemacht werden. Insgesamt finde ich die ganze Entscheidung sehr ergebnisorientiert, um es mal freundlich auszudrücken.
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Strich »

naja also wenn man das Sondervotum liest, sieht man schon wie sehr sich beide abmühen, die Frage der Verhältnismäßigkeit zu umschiffen. Der Verstoß gegen das Rückwirkungsverot wurde ja einstimmig festgestellt. Das Sondervotum hat doch aber im Ergebnis das Problem, dass sie das Rückwirkungsverbot der Beliebigkeit des Gesetzgebers überlassen. Der definierte nämlich das freisprechende Urteil mit 362 Nr. 5 faktisch zu einem rückwirkungsverbotfreien Gebilde, in das legislativ eingegriffen werden kann. Mit diesem Umstand muss sich das Sondervotum natürlich nicht herumschlagen, obwohl das am Horizont aufzog. Die übrigen, vom Sondervotum ins Feld geführten Umstände "materielle Gerechtigkeit, effektive Strafrechtspflege, Erträglichkeit etc etc etc" sind kaum greifbare Umstände. Den in Rn. 17 des Sondervotums enthaltenen letzten Satz finde ich einfach nur zynisch, weil der Rechtsstaat auch langsam zugrunde gehen kann und das hier m.E. definitiv ein Schritt dazu war. Jetzt können sich natürlich alle wieder beruhigen und sagen, das wäre ja nie so gekommen, aber das glaube ich nicht und damit bin ich nicht allein. Und die generelle Richtung der Gesetzgebung zeigt das auch mit der Verschärfung und Erfindung aller möglichen Straftatbestände. Ich warte ja nur darauf, dass irgendwas [insert random hatecrime] in Gruppenchats unter Strafe gestellt wird. Das Wunsiedelurteil des BVerfG ist noch gar nicht so lange her, da hat auch niemand gedacht, dass es danach noch weitergehen kann (da pack ich mal ne Fundstelle m.w.N. dran MüKoStGB/Schäfer/Anstötz, 4. Aufl. 2021, StGB § 130 Rn. 89). 13 Jahre scheinen fürs Abkochen aller zu reichen, bzw 15 seit in Kraft treten des Gesetzes.
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von famulus »

Das mit der Rückwirkung verstehe ich nicht. Unstreitig ist es natürlich ein Problem gewesen, den neuen Wiederaufnahmegrund auch für bereits rechtskräftige Freisprüche möglich zu machen. Inwiefern sollte sich ein Rückwirkungsproblem dann ergeben, wenn er nur für nach der Einführungen des Wiederaufnahmegrunds erfolgende Freisprüche anwendbar ausgestaltet wird?
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Strich »

Weil dann eben "beliebig" in "rechtskräftige" Entscheidungen eingegriffen wird. Freisprechende "Mord"Urteile erwachsen dann zwar irgendwie in formelle Rechtskraft, die Wideraufnahme (durch gerichtliche Entscheidung) nach § 362 Nr. 5 StPO hat dann aber nie Rückwirkung (weil gesetzlich legitimiert. Es wird also das Rückwirkungsverbot für die Zukunft um einen Anwendungsbereich gekürzt, was m.E. ein Eingriff in das Rechtsstaatsprinzip darstellt.

Oder um es noch anders zu sagen: Angenommen der Gesetzgeber macht morgen ein Gesetz, dass sinngemäß lautet, es gibt kein Rückwirkungsverbot mehr. Von allen anderen Problemen mal abgesehen, würdest du dann sagen, dass in abgeschlossene Sachverhalte nach Inkraftreten dieses Gesetzes problemlos eingegriffen werden kann? Oder würdest du die Anwendungsfälle dieses Gesetzes auch nach dem Inkrafttreten an einem verfassungsrechtlich noch verankerten Rückwirkungsverbot messen?

Falls es immer noch nicht klar versuche ich es mal noch konkreter:
Wenn der Gesetzgeber den § 49 Abs. 2 VwVfG zusammenstreicht und ausgleichslos den beliebigen Widerruf von bestandskräftigen, begünstigenden Verwaltungsakten zuließe, wäre die Verwaltung und die Gerichte gleichwohl gehalten, das verfassungsrechtlich verankerte Rückwirkungsverot zu prüfen, auch wenn es einfachgesetzlich abgeschafft wäre.
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Micha79 »

Sehr interessantes Urteil. Ich bin zu wenig Verfassungsrechtler und Strafrechtler, um es im Detail zu begrüßen oder zu kritisieren. Folgendes finde ich interessant:

Das BVerfG stellt heraus, dass der Grundsatz ne bis in idem vorkonstitutionell schon galt und Art. 103 Abs. 3 ihn letztlich in Verfassungsrecht gießt. Insoweit sehe ich bei aller Unterschiedlichkeit eine Parallele zur Heller-Rechtsprechung des SCOTUS zum 2nd amendment (codification of a pre-existing right). Originalism ist in den USA die herrschende Interpretationsmethode, selbst von den liberal justices im Prinzip anerkannt. Seit Bruen werden auch Beschränkungen des 2nd amendment nur daran gemessen, ob eine vergleichbare Beschränkung at the time of the founding bzw. 14th amendment existiert hat und verbreitet war.

Das ist hier nicht unwichtig, weil wertungsmäßig 362 Nr. 5 mE nicht "schlimmer" ist als Nr. 1-Nr. 4, vom Geständnis mal abgesehen (was kann der arme Angeklagte dafür, dass der Richter ihn rechtsbeugerisch freigesprochen hat - so könnte man Nr. 3 kritisieren). Aber 103 III kodifizierte das Recht in dem vorkonstitutionellen Umfang; jedenfalls hat der Verfassungsgeber diese StPO-Normen gekannt und der Anschauung bei der Grundgesetzabfassung zugrunde gelegt.

Nicht ganz verstehe ich die Abgrenzung zur Unverjährbarkeit, welche ja zulässig ist. Ich sehe die formalen Argumente, aber wertungsmäßig kann man dadurch durchaus noch schwerer belastet werden. Der Gesetzgeber könnte jetzt mit Verschärfungen bei der Verjährung reagieren; will das BVerfG dann in jedem Fall prüfen, welche Verjährung für welches Delikt gerade noch so passt (habe die Mord-Verjährung-Entscheidung aber gerade nicht gelesen, vielleicht klärt diese alles)?

In Deutschland weniger häufig ist die Verurteilung/der Freispruch durch einen anderen sovereign. Es gibt vereinzelt Landesstrafrecht - würde 103 III auch bei einem Konflikt zwischen Land/Bund gelten wegen desselben Sachverhalts (in den USA bei Staaten untereinander und Staat/Bundesstaat separate sovereign, bei territory hingegen kein separate sovereign)?
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von thh »

Ara hat geschrieben: Dienstag 31. Oktober 2023, 22:58Möglicherweise ist das Problem, dass die gesamte Wiederaufnahme zu Ungunsten des Beschuldigten ein Problem darstellt, wenn Art. 103 Abs. 3 GG tatsächlich als abwägungsfest angesehen wird.
Man könnte auch die Wiederaufnahme insgesamt abschaffen. Rechtskraft ist Rechtskraft, das ist wichtig.
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Flasche leer »

thh hat geschrieben: Donnerstag 2. November 2023, 22:33
Ara hat geschrieben: Dienstag 31. Oktober 2023, 22:58Möglicherweise ist das Problem, dass die gesamte Wiederaufnahme zu Ungunsten des Beschuldigten ein Problem darstellt, wenn Art. 103 Abs. 3 GG tatsächlich als abwägungsfest angesehen wird.
Man könnte auch die Wiederaufnahme insgesamt abschaffen. Rechtskraft ist Rechtskraft, das ist wichtig.
Na dann, munter Beweise fälschen und Recht beugen usw. ;)
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Schnitte »

Micha79 hat geschrieben: Donnerstag 2. November 2023, 16:53 Sehr interessantes Urteil. Ich bin zu wenig
In Deutschland weniger häufig ist die Verurteilung/der Freispruch durch einen anderen sovereign. Es gibt vereinzelt Landesstrafrecht - würde 103 III auch bei einem Konflikt zwischen Land/Bund gelten wegen desselben Sachverhalts (in den USA bei Staaten untereinander und Staat/Bundesstaat separate sovereign, bei territory hingegen kein separate sovereign)?
Wie das in Deutschland ist, weiß ich nicht; in der EU gilt ne bis in idem (Unionsgrundrecht nach GRCh!) grundsätzlich auch grenzüberschreitend bei Verurteilungen in einem anderen Mitgliedstaat („transnationales ne bis in idem“). Allerdings gibt es hier zahlreiche Ausnahmen, Einschränkungen und Bedingungen, die für ein Eingreifen des Grundsatzes gelten müssen. Der EuGH lässt eine „normale“ Abwägung unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten zu.
"Das Vertragsrecht der Bundesrepublik Deutschland und die gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten, die Erfüllung von Verträgen zu erzwingen [...], verstoßen nicht gegen göttliches Recht."

--- Offizialat Freiburg, NJW 1994, 3375
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