Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Straf-, Strafprozeß- und Ordnungswidrigkeitenrecht sowie Kriminologie

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batman
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Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von batman »

Was sagen denn die Strafrechtler, insbes. auch Strafverteidiger, und Freunde des Grundgesetzes zur geplanten Abschaffung des Strafklagverbrauchs (Änderung des § 362 StPO) beim Mord?

https://dserver.bundestag.de/btd/19/303/1930399.pdf

Wenn Entwufsverfasser behaupten, der bestehende Rechtszustand könne zu "schlechthin unerträglichen" Ergebnisses führen, sollte man m.E. hellhörig werden.
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daimos
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von daimos »

Ich bin kein Strafrechtler, lege aber die Worte von Max Steinbeis ans Herz:

Die Bindungskraft des Rechts unter Vorbehalt veränderter Verhältnisse zu stellen, ist ein Kennzeichen des autoritären Maßnahmenstaats. Da ist auf nichts Verlass. Da hält der Sicherheitsapparat immer die Akten offen. Da kann man immer noch mal was finden. Da soll niemand zur Ruhe kommen.

https://verfassungsblog.de/du-bist-gebunden/
The farther backward you look, the farther forward you can see.
(Winston Churchill)

Im Konjunktiv ist alles möglich.
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thh
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von thh »

daimos hat geschrieben: Dienstag 22. Juni 2021, 22:47 Ich bin kein Strafrechtler, lege aber die Worte von Max Steinbeis ans Herz:

Die Bindungskraft des Rechts unter Vorbehalt veränderter Verhältnisse zu stellen, ist ein Kennzeichen des autoritären Maßnahmenstaats. Da ist auf nichts Verlass. Da hält der Sicherheitsapparat immer die Akten offen. Da kann man immer noch mal was finden. Da soll niemand zur Ruhe kommen.

https://verfassungsblog.de/du-bist-gebunden/
Das ist ungefähr das Niveau, das ich vom Verfassungsblog erwartet hätte, ja.
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Strich
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Strich »

Ich teile das voll und ganz, auch wenn das beim Verfassungsblog schmerzt ^^
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batman
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von batman »

Die Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss ergab ein gemischtes Meinungsbild:
https://www.bundestag.de/dokumente/text ... ren-847544
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Ara
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Ara »

Die Frage knüpft ja an der Frage an, was Sinn und Zweck der Strafrechtspflege ist. Der Topos "Wahrheit und Gerechtigkeit" ist mE relativ leicht als Nebenkerze zu enttarnen. Die Wahrheit wird im Strafverfahren nicht ermittelt. Die StPO ist in großen Teil gerade eine Wahrheitsverhinderungs-Ordnung. Man denke nur an normierte Beweisverwertungsverbote oder der beschränkte Prüfungsumfang im Revisionsverfahren. Gerechtigkeit kann auch kaum das Ziel sein der Strafrechtspflege, da wenn das materielle Strafrecht bereits ungerecht ist, die Strafrechtspflege diese Ungerechtigkeit eher noch zementiert. Ein Beispiel ist zum Beispiel Cannabis. Wenn ab heute Cannabis legalisiert werden würde, dann ist entweder die gestrige Verurteilung oder der morgige Freispruch "ungerecht". Es ist nämlich kaum mit Gerechtigkeit zu erklären, warum die gleiche Handlung an einem Tag verurteilt wird und an einem anderen Tag nicht.

Auch begeben sich die Verfahrensbeteiligten im Strafprozess nicht auf den Weg gemeinsam ein gerechtes Urteil zu schaffen. Bereits die Stellung des Strafverteidigers zeigt, dass der Gesetzgeber des reformierten Strafprozesses der Meinung war, dass nur ein einseitiger und mit eigenen Rechten ausgestatteter Verteidiger überhaupt ein Gleichgewicht im Strafverfahren herstellen kann. Dies lässt erahnen, wie der Gesetzgeber die Arbeit der Staatsgewalt zur Reformzeit beurteilt hat (Auch ein Blick auf den Inquisitionsprozess zeigte das). Gegen Gerechtigkeit sprechen dann übrigens auch so Sachen wie der in-dubio-Grundsatz, welcher erkennbar die breite Gerechtigkeit opfert, um den Unschuldigen zu schützen.

Meines Erachtens kommt daher der Strafrechtspflege allein der Sinn und Zweck zu, dass eine formalisierte Konfliktverarbeitung der schwersten Vergehen in der Gesellschaft erfolgen soll. Ein elementarer Baustein dafür muss aber die Rechtskraft sein. Wenn ich im Jahr 2000 einen Mörder in-dubio freispreche ist der Konflikt damit verarbeitet. Die Gesellschaft akzeptiert das und sagt "naja wir wissen es nicht, aber man konnte es ihm nicht nachweisen". Wenn nun 20 Jahre später neue DNA gefunden wird, gibt es keinen Grund für die Konfliktverarbeitung das Verfahren wieder aufzugreifen. Der Konflikt ist ja seit 20 Jahren bereits verarbeitet. Und wichtig ist auch (Das unterscheidet es auch von den meisten bisherigen Wiederaufnahmegründen): Vor 20 Jahren erfolgte der Freispruch formal korrekt, ohne Manipulation des Verfahrens.

Vor dem Hintergrund ist gar keine Notwendigkeit für die Rechtskraftsdurchbrechung zu erkennen. Die Idee für die Gesetzänderung basiert auf dem laienhaften Irrglaube, dass Gerechtigkeit ein tragendes Element der Strafrechtspflege wäre.
Die von der Klägerin vertretene Auffassung, die Beeinträchtigung des Wohngebrauchs sei durch das Zumauern der Fenster nur unwesentlich beeinträchtigt, ist so unverständlich, dass es nicht weiter kommentiert werden soll. - AG Tiergarten 606 C 598/11
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Strich
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Strich »

Habe den Beitrag im Verfasungsblog jetzt gelesen, wow ist der pathetisch ... Die oben zitierte Stelle ist da uach die einzig brauchbare.

Im Übrigen mögen sich alle die Diskussion genau anschauen. Möglicherweise fällt dem ein oder anderen dann das Argumentationsmuster auf: Es sind ja "nur" unverjährbare Straftaten betroffen usw.
Wenn man sich die Debatte aus den 60ern anschaut, als man die Verjährung von Mord aufgehoben hat, wurde man auch nicht müde zu behaupten, das sei jetzt aber kein Dammbruch. Nicht sehr gut gealtert, die Argumentation und jetzt wird genau diese neue Normalität dazu genutzt Verfassungsggrundsätze weiter aufzuweichen. Sollte das Gesetz kommen, bin ich mir sicher, dass wir spätestens in 20 Jahren die Diskussion haben werden, ob nicht auch Vergewaltigung unverjährbar sein solle und ob nicht auch diese Straftaten dann bis zum Sankt Nimmerleinstag verfolgbar sein sollen.
Ich hatte ja mit dem NSU Prozess und der Menschenwürde jetzt schon meine Probleme (5 Jahre mind. 3 Tage die Woche schleifte man Zschäpe da in den Sitzungssaal). Man stelle sich vor, sie wäre rechtskräftig freigesprochen worden und der Prozess wäre nach ein paar Jahren wieder aufgenommen worden. Ganz erhlich, bei der Aussich, da hätte ich im Erstprozess gestanden unabhängig von der Frage ob ichs war.
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Urs Blank »

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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von OJ1988 »

Ob dieser Gedanke verfassungsdogmatisch trägt, kann ich ehrlich gesagt nicht (mehr) beurteilen, aber ich sehe zumindest rechtspolitisch keinen zwingenden Grund, weshalb der (grundrechtsgleiche?) Grundsatz "ne bis in idem" nicht auch einmal hinter kollidierendem Verfassungsrecht zurücktreten sollte. Vor diesem Hintergrund erscheint die nun getroffene Abwägung (Begrenzung auf Mord, Verbrechen nach VStGB) nicht gänzlich fernliegend.
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Ara
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Ara »

OJ1988 hat geschrieben: Donnerstag 24. Juni 2021, 15:29 Ob dieser Gedanke verfassungsdogmatisch trägt, kann ich ehrlich gesagt nicht (mehr) beurteilen, aber ich sehe zumindest rechtspolitisch keinen zwingenden Grund, weshalb der (grundrechtsgleiche?) Grundsatz "ne bis in idem" nicht auch einmal hinter kollidierendem Verfassungsrecht zurücktreten sollte. Vor diesem Hintergrund erscheint die nun getroffene Abwägung (Begrenzung auf Mord, Verbrechen nach VStGB) nicht gänzlich fernliegend.
Was soll denn das "kollidierende Verfassungsrecht" sein? Es geht um das staatliche Strafverfolgungsinteresse.
Die von der Klägerin vertretene Auffassung, die Beeinträchtigung des Wohngebrauchs sei durch das Zumauern der Fenster nur unwesentlich beeinträchtigt, ist so unverständlich, dass es nicht weiter kommentiert werden soll. - AG Tiergarten 606 C 598/11
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Hubertus »

OJ1988 hat geschrieben: Donnerstag 24. Juni 2021, 15:29 Ob dieser Gedanke verfassungsdogmatisch trägt, kann ich ehrlich gesagt nicht (mehr) beurteilen, aber ich sehe zumindest rechtspolitisch keinen zwingenden Grund, weshalb der (grundrechtsgleiche?) Grundsatz "ne bis in idem" nicht auch einmal hinter kollidierendem Verfassungsrecht zurücktreten sollte. Vor diesem Hintergrund erscheint die nun getroffene Abwägung (Begrenzung auf Mord, Verbrechen nach VStGB) nicht gänzlich fernliegend.
Ist mit § 362 StPO doch schon der Fall.
Allerdings sind diese Wiederaufnahmegründe ja absolut und nicht nur relativ für bestimmte Delikte, bei welchen der Staat mehr oder weniger Pech hatte, noch nicht über bestimmte Ermittlungsmethoden verfügen zu können.
Wo zieht man denn da die Grenze? Vielleicht sollen irgendwann ja noch andere Delikte hinzukommen.

Aus diesem Grund trifft das Vorhaben in meinen Augen das Doppelbestrafungsverbot in seinem Kern, angesichts gegenteiliger Ansichten von renommierten Strafrechtsprofessoren ist das Vorhaben aber nicht offensichtlich verfassungswidrig, so wie ich anfangs dachte.
Zuletzt geändert von Hubertus am Donnerstag 24. Juni 2021, 16:04, insgesamt 1-mal geändert.
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Strich
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Strich »

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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von OJ1988 »

Ara hat geschrieben: Donnerstag 24. Juni 2021, 15:38
OJ1988 hat geschrieben: Donnerstag 24. Juni 2021, 15:29 Ob dieser Gedanke verfassungsdogmatisch trägt, kann ich ehrlich gesagt nicht (mehr) beurteilen, aber ich sehe zumindest rechtspolitisch keinen zwingenden Grund, weshalb der (grundrechtsgleiche?) Grundsatz "ne bis in idem" nicht auch einmal hinter kollidierendem Verfassungsrecht zurücktreten sollte. Vor diesem Hintergrund erscheint die nun getroffene Abwägung (Begrenzung auf Mord, Verbrechen nach VStGB) nicht gänzlich fernliegend.
Was soll denn das "kollidierende Verfassungsrecht" sein? Es geht um das staatliche Strafverfolgungsinteresse.
Das "staatliche Strafverfolgungsinteresse" ist erstens ein Ausfluss des verfassungsrechtlich verankerten Rechtsstaatsprinzips und zweitens kein Selbstzweck. Das Strafrecht dient letztlich dem Rechtsgüterschutz und damit grundrechtlich geschützten Rechtspositionen.
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von OJ1988 »

Unsinn. § 362 StPO gab es vorher auch schon. Nach dieser Logik hätten die dortigen Tatbestände in der Vergangenheit im 2-Jahrestakt erweitert werden müssen.
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Strich »

Nein, denn den gab es schon vor dem GG. Da hat man sich an eine Erweiterung wegen des Grundgesetzes nicht rangetraut.
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