Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Straf-, Strafprozeß- und Ordnungswidrigkeitenrecht sowie Kriminologie

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Ara
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Ara »

OJ1988 hat geschrieben: Donnerstag 24. Juni 2021, 15:59
Ara hat geschrieben: Donnerstag 24. Juni 2021, 15:38
OJ1988 hat geschrieben: Donnerstag 24. Juni 2021, 15:29 Ob dieser Gedanke verfassungsdogmatisch trägt, kann ich ehrlich gesagt nicht (mehr) beurteilen, aber ich sehe zumindest rechtspolitisch keinen zwingenden Grund, weshalb der (grundrechtsgleiche?) Grundsatz "ne bis in idem" nicht auch einmal hinter kollidierendem Verfassungsrecht zurücktreten sollte. Vor diesem Hintergrund erscheint die nun getroffene Abwägung (Begrenzung auf Mord, Verbrechen nach VStGB) nicht gänzlich fernliegend.
Was soll denn das "kollidierende Verfassungsrecht" sein? Es geht um das staatliche Strafverfolgungsinteresse.
Das "staatliche Strafverfolgungsinteresse" ist erstens ein Ausfluss des verfassungsrechtlich verankerten Rechtsstaatsprinzips und zweitens kein Selbstzweck. Das Strafrecht dient letztlich dem Rechtsgüterschutz und damit grundrechtlich geschützten Rechtspositionen.
Also, dass das staatliche Strafverfolgungsinteresse aus dem Rechtsstaatsprinzip stammt, ist wenn überhaupt aus einer Mindermeinung von Puppe abzuleiten, wobei diese der Meinung ist, dass aus dem Staatenbegriff (Volk, Territorium und Staatsgewalt) sich die Pflicht einer effektiven Strafrechtspflege ergibt, da sonst keine Staatsgewalt ausgeübt werden würde. Was aber wenig überzeugt, da keiner zB Somalia die Staatsqualität absprechen würde. Auch ist noch nie in der Geschichte ein Staat an mangelnder Strafrechtspflege untergangen, dafür aber viele an einer zu "effektiven" Strafverfolgung.

Selbst Puppe würde aber vermutlich im Hinblick auf die Entstehung des Begriffs das nicht aus dem Rechtsstaatsprinzip ableiten. Denn das staatliche Strafverfolgungsinteresse wurde vom BVerfG erstmalig im Sozialarbeiter-Beschluss erörtert und wurde dort ausdrücklich GEGEN das Rechtsstaatsprinzip positioniert. Das BVerfG hat diesen Topos entwickelt, um die Justiz zu entlasten und Justizressourcen zu schonen und festgestellt, dass es trotzdem noch mit dem Rechtsstaatsprinzip zu vereinbaren sei. Das "Strafverfolgungsinteresse" ist daher gerade eine Einschränkung des Rechtsstaatsprinzips. Es beschränkt nämlich die Rechte der Bürger, im konkreten Beschluss sogar von Zeugen (also prinzipiell auch Geschädigte).

Dass das (materielle) Strafrecht dem Rechtsgüterschutz dient mag zwar richtig sein (zumindest vertretbar), darum geht es aber nicht. Es geht um die Strafrechtspflege und nicht um das (materielle) Strafrecht. Die Strafrechtspflege ist aber nur ein Mittel und kein Ziel. Wie oben aufgeführt ist nach mE überzeugender Ansicht Sinn und Zweck der Strafrechtspflege die formalisierte Konfliktverarbeitung.

Einen individuellen Anspruch auf Strafverfolgung gibt es (bis auf wenige Ausnahmen) nicht. Erst Recht gibt es aber keinen individuellen Anspruch auf eine Verurteilung oder auf eine Wiederaufnahme. Sofern das Untermaßverbot betroffen ist, hat der Gesetzgeber entsprechend gegenzusteuern. Das ist hier aber nicht betroffen, da wir einerseits weit entfernt sind vom Untermaß und andererseits es hier nicht um präventive Rechtsgutschutz geht sondern um nachträgliche Sanktionierung. Der einzelne Bürger hat auf Sanktionierung aber kein Recht (erkennbar übrigens schon am Gnadenwesen).

Also das "Strafverfolgungsinteresse" ist weit entfernt vom Verfassungsrang. Es dient allein dem Staat und der Schonung der Justiz und wird gegenüber den Bürger (egal ob Beschuldigter oder Opfer) in Position gebracht.
Die von der Klägerin vertretene Auffassung, die Beeinträchtigung des Wohngebrauchs sei durch das Zumauern der Fenster nur unwesentlich beeinträchtigt, ist so unverständlich, dass es nicht weiter kommentiert werden soll. - AG Tiergarten 606 C 598/11
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Seeker »

Wenn das materielle Strafrecht dem Rechtsgüterschutz dient, dann doch zwingend auch die Strafrechtspflege. Ohne praktische Dutchsetzung entfaltet das materielle Recht keinerlei Schutzfunktion.

Dass der einzelne Bürger uU keinen absoluten (!) Anspruch auf Strafverfolgung in einem konkreten Fall (!) hat, steht dem natürlich nicht entgegen.
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Ara
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Ara »

Seeker hat geschrieben: Donnerstag 24. Juni 2021, 19:42 Wenn das materielle Strafrecht dem Rechtsgüterschutz dient, dann doch zwingend auch die Strafrechtspflege. Ohne praktische Dutchsetzung entfaltet das materielle Recht keinerlei Schutzfunktion.
Dem Rechtsgüterschutz dient die Strafandrohung. Das Strafen dient dagegen nur dieser Drohung Nachdruck zu verleihen. Das ist zum Beispiel Kern von Feuerbachs Strafzwecktheorie der negativen Generalprävention.

In der Gesellschaft kennen wir übrigens auch Strafandrohungen, deren Vollstreckung nie beabsichtigt ist. Man denke nur an die Eltern, die auf der Urlaubsfahrt dem Kind androhen umzukehren. Der Sinn und Zweck dieser Strafandrohung ist allein die Hoffnung, dass die Drohung ausreicht, um sein Ziel zu erreichen.

Im Gegenzug ist auch eine Strafvollstreckung denkbar, die keinerlei Rechtsgüterschutz beinhaltet. Man denke zum Beispiel an ein Verbot das letzte lebende Einhornpaar zu töten. Tötet jemand dieses Einhornpaar und vollstreck ich sodann die Strafe, dient es nicht mehr dem Rechtsgutschutz (Leben der Einhörner), da es nicht mehr existiert. Es dient allein dem Sinn und Zweck, dass man zukünftig meine Androhungen noch ernst nimmt.

Materielles Strafrecht und die Rechtspflege bedingen sich natürlich, aber der größte Teil der Bürger wird bereits durch die reine Strafandrohung abgeschreckt und nicht erst durch die tatsächliche Vollstreckung.
Die von der Klägerin vertretene Auffassung, die Beeinträchtigung des Wohngebrauchs sei durch das Zumauern der Fenster nur unwesentlich beeinträchtigt, ist so unverständlich, dass es nicht weiter kommentiert werden soll. - AG Tiergarten 606 C 598/11
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Seeker »

Das ändert aber ja nichts an dem, was ich gesagt habe: ohne Strafrechtspflege kein Rechtsgüterschutz durch materielles Strafrecht.
Materielles Strafrecht und die Rechtspflege bedingen sich natürlich, aber der größte Teil der Bürger wird bereits durch die reine Strafandrohung abgeschreckt und nicht erst durch die tatsächliche Vollstreckung.
Durch die Strafandrohung vor der Existenz eines Staates, welcher - jedenfalls grundsätzlich - willens und in der Lage ist, ihr Geltung zu verleihen und sie umzusetzen.

Ich würde deshalb auf jeden Fall sagen, dass das Strafverfolgungsinteresse dem Rechtsgüterschutz dient und (schon aus diesem Grund) Verfassungsrang hat. Der Staat ist grundsätzlich (natürlich nicht ausnahmslos) verfassungsrechtlich gehalten oder jedenfalls berechtigt, die Rechtsgüter der Bürger mittels des materiellen Strafrechts und seiner praktischen Durchsetzung zu schützen. Ich bin sicher, dass es dazu auch genügend Quellen gäbe, ich habe aber gerade wenig Lust zu recherchieren.

Abgesehen davon: wenn das staatliche Strafverfolgungsinteresse keine verfassungsrechtliche Grundlage hätte, wären viele strafprozessuale Eingriffsgrundlagen von vornherein verfassungswidrig. Würdest du das ernsthaft behaupten?
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Ara »

@Seeker: Das "Strafverfolgungsinteresse" gibt es erst seit 1972 in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Als Limbach Vorsitzende des BVerfG 1994 und Hassemer 2002 Vorsitzender des zweiten Senats wurde, waren zwei große Kritiker des Topos auf herausragenden Positionen am BVerfG. In dieser Zeit hat das Bundesverfassungsgericht sich diesem Topos gar nicht mehr bedient. Erst seit 2005, als Landau Verfassungsrichter wurde, hatte das Bundesverfassungsgericht das "Strafverfolgungsinteresse" überhaupt wieder aufgegriffen.

Von daher ist es mE sehr gewagt dem Verfassungsrang zuzusprechen. Der BGH hat es mal in den 90ern bezeichnet als "begrifflich unscharfer Verfassungsprinzipien", da aber auch in der gleichen Entscheidung aber wenig überzeugend behauptet "Das Gesamtregelungswerk der Strafprozeßordnung ist Ausdruck der verfassungsmäßigen Ordnung."

Man kann es sicherlich irgendwie so vertreten, das mag ich auch gar nicht abstreiten, es überzeugt aber halt einfach nicht. Das Strafverfolgungsinteresse zieht das BVerfG nicht heran, um den Rechtsstaat aufrecht zu erhalten, sondern um diesen gerade einzuschränken. Ein Rechtsstaat ist nämlich kein Staat, der Strafen durchsetzt (Das tun Unrechtsstaaten nämlich noch viel stärker), sondern ein Rechtsstaat zeichnet sich dadurch aus, dass er die Bürger vor staatlicher Willkür schützt. Gerade der Topos des Strafverfolgungsinteresse wird aber herangezogen, um mehr oder weniger zu gewillkürten Abwägungsergebnissen zu gelangen.

Jedenfalls war Deutschland weder vor 1972 noch zwischen 1994 und 2005 kein "Rechtsstaat" mehr, weil das "Strafverfolgungsinteresse" keine Rolle mehr gespielt hatte. Solange das Untermaßverbot und Übermaßverbot eingehalten wird, kann der Gesetzgeber da relativ frei im Strafrecht schalten und walten. Es ist aber nach richtiger ansicht keine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates.
Die von der Klägerin vertretene Auffassung, die Beeinträchtigung des Wohngebrauchs sei durch das Zumauern der Fenster nur unwesentlich beeinträchtigt, ist so unverständlich, dass es nicht weiter kommentiert werden soll. - AG Tiergarten 606 C 598/11
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von OJ1988 »

Strich hat geschrieben: Donnerstag 24. Juni 2021, 16:01 Nein, denn den gab es schon vor dem GG. Da hat man sich an eine Erweiterung wegen des Grundgesetzes nicht rangetraut.
Und an eine konkrete Normenkontrolle andererseits auch nicht? Wer ist "man"?
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von OJ1988 »

Ara hat geschrieben: Donnerstag 24. Juni 2021, 20:01
Seeker hat geschrieben: Donnerstag 24. Juni 2021, 19:42 Wenn das materielle Strafrecht dem Rechtsgüterschutz dient, dann doch zwingend auch die Strafrechtspflege. Ohne praktische Dutchsetzung entfaltet das materielle Recht keinerlei Schutzfunktion.
Dem Rechtsgüterschutz dient die Strafandrohung. Das Strafen dient dagegen nur dieser Drohung Nachdruck zu verleihen. Das ist zum Beispiel Kern von Feuerbachs Strafzwecktheorie der negativen Generalprävention.

In der Gesellschaft kennen wir übrigens auch Strafandrohungen, deren Vollstreckung nie beabsichtigt ist. Man denke nur an die Eltern, die auf der Urlaubsfahrt dem Kind androhen umzukehren. Der Sinn und Zweck dieser Strafandrohung ist allein die Hoffnung, dass die Drohung ausreicht, um sein Ziel zu erreichen.

Im Gegenzug ist auch eine Strafvollstreckung denkbar, die keinerlei Rechtsgüterschutz beinhaltet. Man denke zum Beispiel an ein Verbot das letzte lebende Einhornpaar zu töten. Tötet jemand dieses Einhornpaar und vollstreck ich sodann die Strafe, dient es nicht mehr dem Rechtsgutschutz (Leben der Einhörner), da es nicht mehr existiert. Es dient allein dem Sinn und Zweck, dass man zukünftig meine Androhungen noch ernst nimmt.

Materielles Strafrecht und die Rechtspflege bedingen sich natürlich, aber der größte Teil der Bürger wird bereits durch die reine Strafandrohung abgeschreckt und nicht erst durch die tatsächliche Vollstreckung.
Eine Abschreckungswirkung der Strafandrohung ist Theorie, das weißt du als Strafverteidiger vermutlich. Empirisch nachweisen lässt sie sich kaum. Rechtsgüterschutz wird natürlich auch durch die Durchsetzung des Strafanspruchs gewährleistet, schon durch die Arretierung der Täter, die dadurch (zumindest zeitweilig) nicht nochmals in Freiheit Täter werden können.
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von thh »

Ara hat geschrieben: Donnerstag 24. Juni 2021, 20:52Jedenfalls war Deutschland weder vor 1972 noch zwischen 1994 und 2005 kein "Rechtsstaat" mehr, weil das "Strafverfolgungsinteresse" keine Rolle mehr gespielt hatte. Solange das Untermaßverbot und Übermaßverbot eingehalten wird, kann der Gesetzgeber da relativ frei im Strafrecht schalten und walten. Es ist aber nach richtiger ansicht keine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates.
Anderer Ansicht das Bundesverfassungsgericht, das in bestimmten Fällen sogar ein subjektives öffentliches Recht des betroffenen Bürgers anerkennt, ein staatliches Tätigwerden "auch mit den Mitteln des Strafrechts" zu verlangen, also eine Strafverfolgung in einem konkreten Einzelfall, "gerade bei erheblichen Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die Freiheit der Person" (Beschluss vom 15.01.2020 - 2 BvR 1763/16 mit umfangreichen Nachweisen dazu):
Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichten den Staat, sich dort schützend und fördernd vor das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die Freiheit des Einzelnen zu stellen und sie vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten Dritter zu bewahren, wo die Grundrechtsberechtigten selbst nicht dazu in der Lage sind [...]. Hieraus können sich zwar auch subjektive öffentliche Rechte ergeben [...]. Ein Anspruch auf bestimmte, vom Einzelnen einklagbare Maßnahmen ergibt sich daraus jedoch grundsätzlich nicht. Insbesondere kennt die Rechtsordnung in der Regel keinen grundrechtlich radizierten Anspruch auf eine Strafverfolgung Dritter [...].

Ein solcher Anspruch kann allerdings gerade bei erheblichen Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die Freiheit der Person in Betracht kommen [...]. In solchen Fällen stellt die wirksame Verfolgung von Gewaltverbrechen und vergleichbaren Straftaten eine Konkretisierung der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG dar [...] und ist damit ein wesentlicher Auftrag des rechtsstaatlichen Gemeinwesens

Ein Anspruch auf effektive Strafverfolgung besteht dort, wo der Einzelne nicht in der Lage ist, erhebliche Straftaten gegen seine höchstpersönlichen Rechtsgüter – insbesondere Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person – abzuwehren, und ein Verzicht auf die effektive Verfolgung solcher Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt führen kann. In solchen Fällen kann, gestützt auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, ein Tätigwerden des Staates und seiner Organe auch mit den Mitteln des Strafrechts verlangt werden
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Ara »

@thh: Das war das "bis auf wenige Ausnahmen". Wie sich aber aus BVerfG, NJW 2015, 150 ergibt (meines Wissens nach die erste Entscheidung wo das begründet wurde) begründet das BVerfG es auch hier mit der Schutzpflicht aus dem Untermaßverbot.

Das BVerfG hat nämlich an der Stelle das Problem mit Art. 2 Abs. 1 EMRK i.V.m. Art. 1 EMRK welches über Art. 6 Abs. 6 EUV Teil des Unionsrecht ist und die Mitgliedsstaaten zur effektiven und gründlichen Untersuchungen von Tötungsdelikten zwingt.

Wir haben aber ja auch sowas wie § 172 StPO. Es ist also ja nicht so, als wäre es uns völlig fremd, dass dem Bürger ein einfachgesetzlicher Anspruch auf Durchführung von Ermittlungsverfahren (dann analog) oder Strafverfahren eingeräumt wird.

Die Frage ist halt, ob es ein verfassungsrechtlich verbürgtes Recht gibt ein rechtskräftig abgeschlossenes Mordverfahren wieder aufzunehmen, weil es neue Beweismittel gibt. Daran fehlt es meines Erachtens. Von daher kann man nicht bei der geplanten Reform argumentieren, dass da Güter mit Verfassungsrang gegeneinander streiten.
Die von der Klägerin vertretene Auffassung, die Beeinträchtigung des Wohngebrauchs sei durch das Zumauern der Fenster nur unwesentlich beeinträchtigt, ist so unverständlich, dass es nicht weiter kommentiert werden soll. - AG Tiergarten 606 C 598/11
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von OJ1988 »

Du verkennst, was es heißt, im Rahmen der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes eine mögliche Rechtfertigung zu prüfen. Maßgeblich ist, ob mit dem Gesetz ein legitimes Ziel verfolgt wird (sei es hier: besserer Rechtsgüterschutz durch Bestrafung von Tätern, die sonst frei rumliefen), das Gesetz dazu geeignet und erforderlich ist (hier besteht eine Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers) und ob der Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützte Rechtsposition (ne bis in idem) durch einen gleich-/ oder höhergewichtigen Vorteil in Gestalt der Verfolgung/Erreichung des legitimen Zwecks aufgewogen wird. Die "Wiederaufnahme des rechtskräftig abgeschlossenen Mordverfahrens" ist in diesem Beispiel das Mittel zum Zweck, nicht der Zweck an sich.
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Strich »

OJ1988 hat geschrieben: Donnerstag 24. Juni 2021, 23:06 Du verkennst, was es heißt, im Rahmen der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes eine mögliche Rechtfertigung zu prüfen. Maßgeblich ist, ob mit dem Gesetz ein legitimes Ziel verfolgt wird (sei es hier: besserer Rechtsgüterschutz durch Bestrafung von Tätern, die sonst frei rumliefen), das Gesetz dazu geeignet und erforderlich ist (hier besteht eine Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers) und ob der Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützte Rechtsposition (ne bis in idem) durch einen gleich-/ oder höhergewichtigen Vorteil in Gestalt der Verfolgung/Erreichung des legitimen Zwecks aufgewogen wird. Die "Wiederaufnahme des rechtskräftig abgeschlossenen Mordverfahrens" ist in diesem Beispiel das Mittel zum Zweck, nicht der Zweck an sich.
Das ist leider nicht richtig. Das hier stellt nur die Prüfung der Verhältnismäßigkeit als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips dar. Die Verhältnismäßigkeit selbst kann aber keine Schranke rechtfertigen.

Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung wird nach dem Eingriff klassischerweise geprüft als Beschränkbarkeit und der anschließenden Grenzen der Beschränkbarkeit (die sogenanten Schranken-Schranken). Erst in letzterem Rahmen spielt die Verhältnismäßigkeit eine Rolle.
Stehe zu deinen Überzeugungen soweit und solange Logik oder Erfahrung dich nicht widerlegen. Denk daran: Wenn der Kaiser nackt aussieht ist der Kaiser auch nackt ... .
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von OJ1988 »

Strich hat geschrieben: Freitag 25. Juni 2021, 12:01
OJ1988 hat geschrieben: Donnerstag 24. Juni 2021, 23:06 Du verkennst, was es heißt, im Rahmen der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes eine mögliche Rechtfertigung zu prüfen. Maßgeblich ist, ob mit dem Gesetz ein legitimes Ziel verfolgt wird (sei es hier: besserer Rechtsgüterschutz durch Bestrafung von Tätern, die sonst frei rumliefen), das Gesetz dazu geeignet und erforderlich ist (hier besteht eine Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers) und ob der Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützte Rechtsposition (ne bis in idem) durch einen gleich-/ oder höhergewichtigen Vorteil in Gestalt der Verfolgung/Erreichung des legitimen Zwecks aufgewogen wird. Die "Wiederaufnahme des rechtskräftig abgeschlossenen Mordverfahrens" ist in diesem Beispiel das Mittel zum Zweck, nicht der Zweck an sich.
Das ist leider nicht richtig. Das hier stellt nur die Prüfung der Verhältnismäßigkeit als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips dar. Die Verhältnismäßigkeit selbst kann aber keine Schranke rechtfertigen.

Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung wird nach dem Eingriff klassischerweise geprüft als Beschränkbarkeit und der anschließenden Grenzen der Beschränkbarkeit (die sogenanten Schranken-Schranken). Erst in letzterem Rahmen spielt die Verhältnismäßigkeit eine Rolle.
Ja, das ist alles bekannt. Sehe nicht, wie meine Aussage deiner widerspricht.
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Strich »

Das die Verhältnismäßigkeit nicht taugt, um die Frage zu untersuchen, ob es ein subjetiv-verfassungsrechtliches Recht auf Einschreiten des Staates gibt ...
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von OJ1988 »

Strich hat geschrieben: Montag 28. Juni 2021, 10:15 Das die Verhältnismäßigkeit nicht taugt, um die Frage zu untersuchen, ob es ein subjetiv-verfassungsrechtliches Recht auf Einschreiten des Staates gibt ...
Das ist richtig, das habe ich aber auch nicht behauptet.
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Re: Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit

Beitrag von Blaumann »

Ara hat geschrieben: Donnerstag 24. Juni 2021, 18:49 Wie oben aufgeführt ist nach mE überzeugender Ansicht Sinn und Zweck der Strafrechtspflege die formalisierte Konfliktverarbeitung.
Unterstellt, es wäre so, wäre das ein Argument für eine Wiederaufnahmemöglichkeit. Der gesellschaftliche Konflikt ist mit dem Fehlurteil eben nicht beigelegt. Siehe der relativ bekannte Fall, wo der Mörder und Vergewaltiger einer jungen Frau fehlerhaft freigesprochen wurde und die Täterschaft später durch DNA-Spuren zweifelsfrei erwiesen wurde. Der Vater der Geschädigten kämpft seit Jahren dafür, dass der Täter verurteilt wird. Mich überrascht ehrlich gesagt, dass der Vater nicht zur Selbstjustiz geschritten ist, statt hinzunehmen, dass der Mörder seiner Tochter frei herumläuft.

Edit: Sehe gerade, dass das der Fall war, der Anlass zur Gesetzesinitiative gegeben hatte: https://de.wikipedia.org/wiki/Frederike ... 3%B6hlmann
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