Also, dass das staatliche Strafverfolgungsinteresse aus dem Rechtsstaatsprinzip stammt, ist wenn überhaupt aus einer Mindermeinung von Puppe abzuleiten, wobei diese der Meinung ist, dass aus dem Staatenbegriff (Volk, Territorium und Staatsgewalt) sich die Pflicht einer effektiven Strafrechtspflege ergibt, da sonst keine Staatsgewalt ausgeübt werden würde. Was aber wenig überzeugt, da keiner zB Somalia die Staatsqualität absprechen würde. Auch ist noch nie in der Geschichte ein Staat an mangelnder Strafrechtspflege untergangen, dafür aber viele an einer zu "effektiven" Strafverfolgung.OJ1988 hat geschrieben: ↑Donnerstag 24. Juni 2021, 15:59Das "staatliche Strafverfolgungsinteresse" ist erstens ein Ausfluss des verfassungsrechtlich verankerten Rechtsstaatsprinzips und zweitens kein Selbstzweck. Das Strafrecht dient letztlich dem Rechtsgüterschutz und damit grundrechtlich geschützten Rechtspositionen.Ara hat geschrieben: ↑Donnerstag 24. Juni 2021, 15:38Was soll denn das "kollidierende Verfassungsrecht" sein? Es geht um das staatliche Strafverfolgungsinteresse.OJ1988 hat geschrieben: ↑Donnerstag 24. Juni 2021, 15:29 Ob dieser Gedanke verfassungsdogmatisch trägt, kann ich ehrlich gesagt nicht (mehr) beurteilen, aber ich sehe zumindest rechtspolitisch keinen zwingenden Grund, weshalb der (grundrechtsgleiche?) Grundsatz "ne bis in idem" nicht auch einmal hinter kollidierendem Verfassungsrecht zurücktreten sollte. Vor diesem Hintergrund erscheint die nun getroffene Abwägung (Begrenzung auf Mord, Verbrechen nach VStGB) nicht gänzlich fernliegend.
Selbst Puppe würde aber vermutlich im Hinblick auf die Entstehung des Begriffs das nicht aus dem Rechtsstaatsprinzip ableiten. Denn das staatliche Strafverfolgungsinteresse wurde vom BVerfG erstmalig im Sozialarbeiter-Beschluss erörtert und wurde dort ausdrücklich GEGEN das Rechtsstaatsprinzip positioniert. Das BVerfG hat diesen Topos entwickelt, um die Justiz zu entlasten und Justizressourcen zu schonen und festgestellt, dass es trotzdem noch mit dem Rechtsstaatsprinzip zu vereinbaren sei. Das "Strafverfolgungsinteresse" ist daher gerade eine Einschränkung des Rechtsstaatsprinzips. Es beschränkt nämlich die Rechte der Bürger, im konkreten Beschluss sogar von Zeugen (also prinzipiell auch Geschädigte).
Dass das (materielle) Strafrecht dem Rechtsgüterschutz dient mag zwar richtig sein (zumindest vertretbar), darum geht es aber nicht. Es geht um die Strafrechtspflege und nicht um das (materielle) Strafrecht. Die Strafrechtspflege ist aber nur ein Mittel und kein Ziel. Wie oben aufgeführt ist nach mE überzeugender Ansicht Sinn und Zweck der Strafrechtspflege die formalisierte Konfliktverarbeitung.
Einen individuellen Anspruch auf Strafverfolgung gibt es (bis auf wenige Ausnahmen) nicht. Erst Recht gibt es aber keinen individuellen Anspruch auf eine Verurteilung oder auf eine Wiederaufnahme. Sofern das Untermaßverbot betroffen ist, hat der Gesetzgeber entsprechend gegenzusteuern. Das ist hier aber nicht betroffen, da wir einerseits weit entfernt sind vom Untermaß und andererseits es hier nicht um präventive Rechtsgutschutz geht sondern um nachträgliche Sanktionierung. Der einzelne Bürger hat auf Sanktionierung aber kein Recht (erkennbar übrigens schon am Gnadenwesen).
Also das "Strafverfolgungsinteresse" ist weit entfernt vom Verfassungsrang. Es dient allein dem Staat und der Schonung der Justiz und wird gegenüber den Bürger (egal ob Beschuldigter oder Opfer) in Position gebracht.