Encrochat Verwertbarkeit

Straf-, Strafprozeß- und Ordnungswidrigkeitenrecht sowie Kriminologie

Moderator: Verwaltung

Antworten
Benutzeravatar
Strich
Mega Power User
Mega Power User
Beiträge: 2254
Registriert: Samstag 9. Januar 2016, 16:52
Ausbildungslevel: Anderes

Encrochat Verwertbarkeit

Beitrag von Strich »

Lese gerade diesen LTO Artikel:
https://www.lto.de/recht/justiz/j/encro ... verfahren/

Prof. Dr. Sommer taucht auch wieder auf. Vielleicht kassiert er dieses mal eine Missbrauchsgebühr beim BVerfG
Die Encrochat-Daten könnten auch ein Fall für das Bundesverfassungsgericht werden: Sommer hat im Rahmen eines Bremer und eines Hamburger Verfahrens Verfassungsbeschwerde eingelegt.
Interessant ist aber folgende Statistik:
Nach einer Auswertung im Juni 2020 gehen die Franzosen zwar nachträglich davon aus, dass rund 67 Prozent der Nutzer die Geräte für kriminelle Zwecke nutzten.
Damit dürfte die Verwendung von Encrochat für einen Anfangsverdacht reichen, weil:
MüKoStPO/Peters, 1. Aufl. 2016, StPO § 152 Rn. 35 hat geschrieben:Ein den Verfolgungszwang auslösender Anfangsverdacht liegt vor, wenn es nach kriminalistischer Erfahrung möglich erscheint, dass eine verfolgbare Straftat begangen worden ist, mithin die Möglichkeit einer späteren Verurteilung besteht.
Encrochat gleich überwiegend wahrscheinlich für illegale Zwecke genutzt. Ob das dann für den Rest, insbesondere den "bestimmten" Tatsachen, die § 100a StPO erfordert reicht, weiß ich nicht:
BeckOK StPO/Beukelmann, 39. Ed. 1.1.2021, StPO § 152 Rn. 41 hat geschrieben:Der Begriff der „konkreten Tatsachen“ unterscheidet sich von dem der „bestimmten Tatsachen“ bspw. in § 100a S. 2 (vgl. dazu BVerfG NJW 2007, 2752: „Das Tatbestandsmerkmal „bestimmte Tatsachen“ in § 100a S. 2 StPO erfordert, dass die Verdachtsgründe über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen müssen. Bloßes Gerede, nicht überprüfte Gerüchte und Vermutungen reichen nicht.“). Der durch bestimmte Tatsachen begründete Verdacht unterliegt höheren Anforderungen als der bloße Anfangsverdacht (BVerfG NJW 2004, 999 (1012)).
Das verstehe wer will. Bloßes Gerede, nicht überprüfte Gerüchte und Vermutungen reichen schon nicht für einen Anfangsverdacht. Wo also liegt der Unterschied zwischen den bestimmten Tatsachen zum Anfangsverdacht?
Stehe zu deinen Überzeugungen soweit und solange Logik oder Erfahrung dich nicht widerlegen. Denk daran: Wenn der Kaiser nackt aussieht ist der Kaiser auch nackt ... .
- Daria -

www.richtersicht.de

Seit 31.05.2022 Lord Strich
Benutzeravatar
Ara
Urgestein
Urgestein
Beiträge: 8343
Registriert: Donnerstag 11. Juni 2009, 17:48
Ausbildungslevel: Schüler

Re: Encrochat Verwertbarkeit

Beitrag von Ara »

Ein "qualifizierte Anfangsverdacht" muss sich auf eine hinreichende Tatsachenbasis gründen und mehr als nur unerheblich sein (BGH, StV 2017, 434.). Erforderlich ist, dass aufgrund der Lebenserfahrung oder der kriminalistischen Erfahrung fallbezogen aus Zeugenaussagen, Observationen oder anderen sachlichen Beweisanzeichen auf das Vorliegen einer Katalogtat geschlossen werden kann (BVerfGK 11, 119).

Dieser qualifizierte Anfangsverdacht muss konkret für den einzelnen Beschuldigten gelten. Eine Statistik "67% nutzen es illegal" reicht (unabhängig davon, ob eine Katalogtat besteht) dafür gerade nicht automatisch aus. Das ist bei Encrochat schon sehr fraglich.

Aber es gibt ja zwei weitere Probleme. Das Aufspielen der Trojanersoftware und deren Verwendung auf deutschem Territorium verletzt die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland. In Art. 32 des Übereinkommen über Computerkriminalität des Europarates haben sich die Vertragsstaaten verpflichtet die Genehmigung des jeweils betroffenen Landes einzuholen. Nun könnte man sagen, dass diese Souveränitätsverletzung durch die nachträgliche Verwendung des Staates geheilt wird, aber im Rahmen des Rechtshilfeverfahrens hätte Deutschland diese Art der Überwachung gar nicht erlauben dürfen. Das heißt das Konstrukt ähnlich des "hypothetischen Ersatzeingriffes" funktioniert hier nicht. Das zweite Problem ist: Frankreich gibt nicht bekannt, wie sie überhaupt genau die Software aufgespielt hat. Es ist daher den deutschen Gerichten nicht möglich zu überprüfen, ob es unter Verstöße von Menschenrechten begangen wurde.

Interessant ist, dass viele Kammern so schlau waren und offen gelassen haben, ob die Encrochat-Daten verwertbar sind und sich lediglich darauf beriefen, dass es zumindest kein Fernwirkungsverbot gibt. Eine Kammer am Landgericht Hamburg schießt da aktuell aber quer und verwertet tatsächlich unmittelbar die Daten (aus den Verfahren die ich kenne übrigens völlig unnötigerweise).

Es sind also doch schon einige Fragen offen, wo eine Klärung durch das Bundesverfassungsgericht interessant wird. Vor allem wird spannend, wie das Bundesverfassungsgericht es findet, dass Umstände geheimgehalten werden, bei denen möglicherweise gegen Menschenrechte verstoßen wurde. Ich war zuerst auch skeptisch bezüglich der Beweisverwertungsverbote, aber erst nach und nach kam ja raus, dass der französische Staat tatsächlich aktiv auf deutschem Grund und Boden deutsche Staatsbürger auf eine Art und Weise ausspioniert hat, wie es nach der StPO (und möglicherweise auch nach dem GG) nicht möglich wäre.
Die von der Klägerin vertretene Auffassung, die Beeinträchtigung des Wohngebrauchs sei durch das Zumauern der Fenster nur unwesentlich beeinträchtigt, ist so unverständlich, dass es nicht weiter kommentiert werden soll. - AG Tiergarten 606 C 598/11
Benutzeravatar
Ara
Urgestein
Urgestein
Beiträge: 8343
Registriert: Donnerstag 11. Juni 2009, 17:48
Ausbildungslevel: Schüler

Re: Encrochat Verwertbarkeit

Beitrag von Ara »

Das KG Berlin hat, wie zu erwarten, die Sache eröffnet und an eine andere Kammer zurückverwiesen: https://blog.burhoff.de/2021/09/63718/
Die von der Klägerin vertretene Auffassung, die Beeinträchtigung des Wohngebrauchs sei durch das Zumauern der Fenster nur unwesentlich beeinträchtigt, ist so unverständlich, dass es nicht weiter kommentiert werden soll. - AG Tiergarten 606 C 598/11
Benutzeravatar
Strich
Mega Power User
Mega Power User
Beiträge: 2254
Registriert: Samstag 9. Januar 2016, 16:52
Ausbildungslevel: Anderes

Re: Encrochat Verwertbarkeit

Beitrag von Strich »

Ahh danke für den Hinweis.
Stehe zu deinen Überzeugungen soweit und solange Logik oder Erfahrung dich nicht widerlegen. Denk daran: Wenn der Kaiser nackt aussieht ist der Kaiser auch nackt ... .
- Daria -

www.richtersicht.de

Seit 31.05.2022 Lord Strich
Benutzeravatar
Urs Blank
Mega Power User
Mega Power User
Beiträge: 1741
Registriert: Samstag 31. Januar 2009, 12:38
Ausbildungslevel: Anderes

Re: Encrochat Verwertbarkeit

Beitrag von Urs Blank »

Überzeugend.
"Cats exit the room in a hurry when oysters are opened."
Antworten