Schwarzfahren entkriminalisieren?

Straf-, Strafprozeß- und Ordnungswidrigkeitenrecht sowie Kriminologie

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thh
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Re: Schwarzfahren entkriminalisieren?

Beitrag von thh »

Theopa hat geschrieben: Dienstag 11. Januar 2022, 15:41In sich stimmig wäre der § 265a StGB in der Praxis erst dann, wenn wir Drehkreuze o.ä. hätten und die Kontrollen der Verstöße nicht direkt nach dem Drehkreuz sondern erst im Fahrzeug erfolgen. Das Überspringen des Drehkreuzes wäre ggf. Hausfriedensbruch aber noch kein § 265a StGB.
Yep. Und Ladendiebstahl sollte man eben nur bestrafen, wenn die Waren nicht einfach so frei in den Gängen herumstehen, sondern sich hinter der Theke des Kaufmanns befinden.
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batman
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Re: Schwarzfahren entkriminalisieren?

Beitrag von batman »

Des ehrenwerten Kaufmanns, bitteschön!
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Re: Schwarzfahren entkriminalisieren?

Beitrag von Theopa »

thh hat geschrieben: Dienstag 11. Januar 2022, 15:57
Theopa hat geschrieben: Dienstag 11. Januar 2022, 15:41In sich stimmig wäre der § 265a StGB in der Praxis erst dann, wenn wir Drehkreuze o.ä. hätten und die Kontrollen der Verstöße nicht direkt nach dem Drehkreuz sondern erst im Fahrzeug erfolgen. Das Überspringen des Drehkreuzes wäre ggf. Hausfriedensbruch aber noch kein § 265a StGB.
Yep. Und Ladendiebstahl sollte man eben nur bestrafen, wenn die Waren nicht einfach so frei in den Gängen herumstehen, sondern sich hinter der Theke des Kaufmanns befinden.
Äpfel und Backsteine. Beim Schwarzfahren ist Tathandlung das Erschleichen, beim Diebstahl die Wegnahme. Im Laden stehen ist keine Wegnahme, wo die Waren liegen und ob diese gesichert sind daher ohne Relevanz.
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Re: Schwarzfahren entkriminalisieren?

Beitrag von Liz »

Im Laden verhält sich der Brötchendieb oft auch bis zur Kasse sozialadäquat und läuft dann nur ohne zu zahlen bzw ohne die fragliche Ware vorzuzeigen vorbei.

Im Unterschied dazu hat man beim Falschparken einen starken und für den Täter empfindlichen Besitzschutzanspruch, weil er mit seinem Fahrzeug einen idR wertvollen oder zumindest benötigten Gegenstand zurücklässt, der zugleich die Feststellung seiner Identität deutlich erleichtert.
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Re: Schwarzfahren entkriminalisieren?

Beitrag von Theopa »

Liz hat geschrieben: Mittwoch 12. Januar 2022, 09:36 Im Laden verhält sich der Brötchendieb oft auch bis zur Kasse sozialadäquat und läuft dann nur ohne zu zahlen bzw ohne die fragliche Ware vorzuzeigen vorbei.

Im Unterschied dazu hat man beim Falschparken einen starken und für den Täter empfindlichen Besitzschutzanspruch, weil er mit seinem Fahrzeug einen idR wertvollen oder zumindest benötigten Gegenstand zurücklässt, der zugleich die Feststellung seiner Identität deutlich erleichtert.
Ich verstehe nicht ganz, wie sich das zu Zugangsbeschränkungen im ÖPNV und der Diskussion um das Erschleichen verhält?

Die Frage, wann die Wegnahme im offenen Supermarkt vorliegt kann man lange und breit diskutieren, das "Ob" dürfte aber sowohl rechtswissenschaftlich als auch für die Allgemeinheit völlig unstreitig sein.

Beim § 265a StGB besteht dagegen bekanntlich das Problem, dass jemand der nach außen offen und deutlich zu erkennen gibt nicht zu bezahlen dem Wortlaut nach nichts "erschleicht". Fragt man Laien werden diese damit Verhaltensweisen wie das Betreten des Konzertgebäudes durch die Hintertür, das Vorbeischmuggeln an der Kasse oder ein anderes heimliches Verhalten verstehen. Während der Diebstahl bzw. die Wegnahme nach jeder Auslegung des Begriffs nach dem allgemeinen Sprachgebrauch sowohl heimlich als auch offen erfolgen kann (jedes Kleinkind versteht, dass man ihm das Schäufelchen auch offen "wegnehmen" kann) ist es nicht wirklich mit dem Wortlaut vereinbar offen und deutlich nach außen kundgegebene Äußerungen als "Erschleichen" zu betrachten. Das sieht man an den durchaus abenteuerlichen Konstruktionen in Entscheidungen, die die Rechtsprechung in Grenzfällen (Schild um den Hals, lautes Rufen, etc.) anstelle des einfachen Hinweises "das ist so nicht strafbar, der Gesetzgeber soll zusehen wie er es besser hinbekommt wenn er es so möchte" nutzt.

Ist Schwarzfahren weiter strafwürdig? mE jedenfalls so lange, wie es der Diebstahl bzw. Betrug im ein- bis zweistelligen Euro-Wert und ohne konkrete individuelle Schadensauswirkungen (Diebstahl bei Aldi, Betrug ggü. Behörden, etc.) ebenfalls ist. Anderenfalls werden gleichwertige Verhaltensweisen grundlos unterschiedlich behandelt.

Kann es sinnvollerweise strafbar sein? mE nur, wenn und soweit die ÖPNV Betriebe eine Situation schaffen, in der man "erschleichen" muss oder eben ein Tatbestand geschaffen wird der dem Wortlaut nach keine Heimlichkeit erfordert.
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Schwarzfahren entkriminalisieren?

Beitrag von Liz »

Hierbei handelt es sich allerdings um konstruierte Fälle von besonders dreisten Tätern. Es würde auch niemand vertreten, ein Ladendiebstahl sei nicht strafbar, wenn man bei der Wegnahme bzw beim Rauslaufen laut ruft, man wolle übrigens nicht zahlen. Strukturell geht es sowohl beim Schwarzfahren als auch beim Ladendiebstahl um Delikte, bei denen es nur an einem bestimmten Punkt zu einer Abweichung vom sozialadäquaten Verhalten kommt.

Für mich ist das Argument, eine Strafbarkeit sei nur dann gerechtfertigt, wenn die Tat erschwert werde (also Sicherungen des Bahnsteigs; Ticketkontrolle durch den Busfahrer vorm Einsteigen), auch nicht ernsthaft überzeugend. Ob eine Tat besonderes „leicht“ zu begehen ist oder besondere kriminelle Energie erfordert, ist auch sonst kein Kriterium, um die Strafbarkeit zu begründen.
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Re: Schwarzfahren entkriminalisieren?

Beitrag von thh »


Theopa hat geschrieben: Beim § 265a StGB besteht dagegen bekanntlich das Problem, dass jemand der nach außen offen und deutlich zu erkennen gibt nicht zu bezahlen dem Wortlaut nach nichts "erschleicht".
Diese Rechtsfrage hat die Rechtsprechung - m.E. richtig - geklärt.

Bei der Entkriminalisierung handelt es sich um eine rechts*politische* Frage.


Theopa hat geschrieben: Ist Schwarzfahren weiter strafwürdig? mE jedenfalls so lange, wie es der Diebstahl bzw. Betrug im ein- bis zweistelligen Euro-Wert und ohne konkrete individuelle Schadensauswirkungen (Diebstahl bei Aldi, Betrug ggü. Behörden, etc.) ebenfalls ist. Anderenfalls werden gleichwertige Verhaltensweisen grundlos unterschiedlich behandelt.
Dann sind wir uns ja einig.

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Re: Schwarzfahren entkriminalisieren?

Beitrag von Theopa »

Liz hat geschrieben: Mittwoch 12. Januar 2022, 11:55 Hierbei handelt es sich allerdings um konstruierte Fälle von besonders dreisten Tätern. Es würde auch niemand vertreten, ein Ladendiebstahl sei nicht strafbar, wenn man bei der Wegnahme bzw beim Rauslaufen laut ruft, man wolle übrigens nicht zahlen. Strukturell geht es sowohl beim Schwarzfahren als auch beim Ladendiebstahl um Delikte, bei denen es nur an einem bestimmten Punkt zu einer Abweichung vom sozialadäquaten Verhalten kommt.

Für mich ist das Argument, eine Strafbarkeit sei nur dann gerechtfertigt, wenn die Tat erschwert werde (also Sicherungen des Bahnsteigs; Ticketkontrolle durch den Busfahrer vorm Einsteigen), auch nicht ernsthaft überzeugend. Ob eine Tat besonderes „leicht“ zu begehen ist oder besondere kriminelle Energie erfordert, ist auch sonst kein Kriterium, um die Strafbarkeit zu begründen.
Genau diese besonders dreisten Täter wären aber ohne Zugangshindernisse auszunehmen, da sie nicht erschleichen und die Inanspruchnahme von kostenpflichtigen Diensten ohne Bezahlung per se nicht strafbar ist. Der dreiste Dieb nimmt weiterhin weg.

Wenn dagegen jemand nur unauffällig ohne Ticket in die U-Bahn schlendert ist es im jeweiligen Einzelfall und nach konkretem Nachweis der jeweiligen Erschleichenshandlung durchaus vertretbar das als "Erschleichen" zu bewerten, ebenso wie beim Dieb die Wegnahme konkret nachzuweisen ist und der reine Nachweis des Besitzes an der nicht bezahlten Ware eigentlich (über die Wahlfeststellung dann im Ergebnis ja zumeist doch) noch nicht genügt. Je nachdem welche Hürden man ansetzt können dabei auch praktisch alle Fälle erfasst sein, bei welchen man das Schwarzfahren nicht von Anfang an sofort und zweifellos erkennt. Differenzieren muss man dennoch.
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Schwarzfahren entkriminalisieren?

Beitrag von Liz »

Zivilrechtlich ist es ein Fall widersprüchlichen Verhaltens, ändert aber nichts an der Zahlungspflicht. Jetzt mag man hinsichtlich der konkreten Fassung des § 265a StGB meinen, der Wortlaut könnte bestimmter sein, allerdings hilft das nicht bei der Beantwortung der rechtspolitischen Frage weiter, ob ein sozialschädliches Verhalten straflos sein soll, weil es so schön einfach ist*, die Idee eines kostenlosen ÖPNV generell für gut befunden wird und / oder zumindest niemand, bei dem Mobilitätswunsch und Zahlungsfähigkeit/-willigkeit (wiederholt) nicht zusammenpassen, die Erfahrungen eines Strafverfahrens machen soll.


*Die Alternative bedeutete indes, dass die Tickets für die redlichen Nutzer des ÖPNV teurer werden und der Zugang komplizierter wird; ich bin eigentlich ganz froh, wenn ich nicht fünfmal am Tag mein Ticket aus der Tasche holen muss, um dann - wie in anderen Ländern üblich - irgendeine Zugangsbeschränkung zu passieren.
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Re: Schwarzfahren entkriminalisieren?

Beitrag von Theopa »

Die rechtspolitische Frage würde ich auch zur Wahrung der Konsequenz mit kleineren Diebstahls- und Betrugshandlungen weiter im Sinne der Strafbarkeit beanworten (s.o.). Ich habe insoweit aber auch kein Problem darüber nachzudenken, dass eine punktuelle Ausweitung (vgl. Parkschein) vielleicht sogar noch deutlich konsequenter wäre. Nötig wäre sie wohl eher weniger.

Das alles ändert nichts daran, dass ein schlecht gewählter Wortlaut im Strafrecht nicht zu Lasten der Täter überdehnt werden darf. Wieso die Formulierungen des StGB scheinbar selbst im offensichtlichsten Fall nicht angepasst werden (wie lange wird nun schon überlegt, den § 211 StGB endlich mal umzuformulieren?) erschließt sich mir ohnehin nicht. Besteht da die Angst, dass die eigenen Juristen die Formulierung nicht gut genug hinbekommen und man versehentlich gewisse Verhaltensweisen straffrei gestaltet?
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Re: Schwarzfahren entkriminalisieren?

Beitrag von Liz »

Nachdem die Rechtsprechung mit den „Problemfällen“ zurechtkommt, besteht für den Gesetzgeber kein unmittelbarer Klarstellungsbedarf. Zumal die Entkriminalisierungsdebatte seit Jahren geführt wird, was es möglicherweise zusätzlich unattraktiv macht, die Norm überhaupt außerhalb einer größeren StGB-Novelle anzufassen.
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Re: Schwarzfahren entkriminalisieren?

Beitrag von Sektnase »

Mit Klarstellungen fängt man keine Stimmen. Dann lieber (faktisch oder rechtlich) unwirksame Gesetze, die zeigen, wie strikt man gegen [beliebige Übeltäter] vorgeht.
In einem Umfeld, in dem mittelschwere Hurensöhnigkeit häufig zum Stellenprofil gehört, muss einen nicht wundern, wenn man Scheiße behandelt wird. -Blaumann
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