Justiz auf dem armen Auge blind?

Straf-, Strafprozeß- und Ordnungswidrigkeitenrecht sowie Kriminologie

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Justiz auf dem armen Auge blind?

Beitrag von Strich »

https://www.lto.de/recht/hintergruende/ ... er-status/

Es scheint mir ein Buch aus der Reihe der Untergangspropheten zu sein, diesesmal aber nicht von einem Richter, sondern von einem Autor der SZ.

Zu den immer und immer wieder vorgetragenen Argumenten:

1. Pflichtverteidigung für alle:
Was gewinnt der Arme denn bitte mit einem Pflichtverteidiger in irgendeiner Diebstahlskiste? Kriegt er statt 90 Tagessätze am Ende 60 (alles Spekulation) zu je 10 €, spart also 300 € Geldstrafe, darf aber wegen des Tenors zu 2. schön die 800 € Pflichtverteidigerrechnung bezahlen. Was für ein Gewinn für den Rechtsstaat.

2.
Auch vielen Strafurteilen attestiert Steinke eine soziale Schieflage. So werden tendenziell höhere Strafen verhängt, wenn jemand in problematischen Verhältnissen lebt. Der Trinker, der Schnaps klaut, wird härter bestraft als andere Diebe. Bei Armen werde oft auch ein strafverschärfendes gewerbliches Motiv für den Diebstahl unterstellt. Wer als Hartz-IV-Empfänger:in teure Parfüms stiehlt, muss sich schnell vorhalten lassen, dass hier ein Weiterverkauf intendiert war. "Wer arm ist, gilt eher als Berufsverbrecher", schreibt Steinke.
Das Argument (wie das im Buch ausgebreitet ist, weiß ich wie gesagt nicht, deswegen geht meine Stellungnahme hier nicht gegen den Autor sondern gegen einen Strohmann, der dieses Argument vorbächte) kommt mir komisch vor. Ich habe das bei noch keinem Gericht erlebt. Eher das Gegenteil: "Na hammer wieder Schnaps geklaut?" Und Entschuldigung aber wenn ich 10 verschiedene Parfüms bei einem H4 empfänger finde, liegt es nahe, dass die nicht alle für den Eigengebrauch geklaut worden. Das würde man auch bei Ulli Höneß nicht anders sehen.

Auch gilt nicht eher als "Berufsverbrecher" wer arm ist. Allenfalls als Berufsvergeher und wäre das so in dem Buch tatsächlich dargestellt, würde ich das als böswillige Unterstellung sehen. Ob jemand "Berufsverbrecher" ist oder nicht folgt nicht aus dem Lohnzettel sondern """""""""allenfalls""""""""" aus dem BZR. Davon m.E. streng zu trennen ist die Frage, in welchen Gesellschaftsschichten Kriminalität gehäuft vorkommt und wenn ich mich an den Amts- und Landgerichten umschaue sind das faktisch in der überwiegenden Zahl sozial Schwache. Diese Tatsache allein berechtigt weder zu Vorverurteilungen noch bietet sie Anlass zu Reformen (ich kann das bei Bedarf gerne ausführen). Die Tatsache, dass 9 von 10 Gefängnisinsassen männlich sind, lockt auch niemanden hinterm Ofen vor, man könnte mit dieser Tatsache aber das selbe argumentative Spiel betreiben.

3.
Je besser die Sozialprognose, um so größer die Wahrscheinlichkeit, dass die Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird. Wer dagegen arbeitslos und geschieden ist, muss eher ins Gefängnis.
Habe ich auch shcon häufiger gehört. Works as intended. Die Sozialprognose ist bei sozial Schwachen nicht schlecht, weil sie sozial Schwach sind sondern weil sie in der Regel eine schlechte Sozialprognose haben. Man müsste das ganze Merkmal streichen, wollte man hier etwas verändern, weil das Merkmal in dieser Lesart(!) einfach tatbestandlich sozial erfolgreich/sozial nicht erfolgreich erfasst. Tatsächlich spielt es für die Entscheidung auch hier nur eine untergeordnete Rolle, ob jemand in Arbeit ist und wie viel Geld er hat etc. Die meisten Bewährungen werden doch abgelehnt, weil die Leute sich schlicht hängen lassen, ihnen alles egal ist, Absprachen nicht eingehalten werden etc etc etc. Das sind natürlich auch gleichzeitig die Faktoren, die für die schlechte soziale Lage der Betroffenen verantwortlich sind, quelle surprise.

4. Die Geldstrafe ist sozial ungerecht. Naja, wie mans nimmt. Das Problem scheint mir hier nicht bei den Armen zu liegen, sondern bei den Reichen, deren Einkommen sich nur mit ganz erheblichen Aufwand ermitteln lässt.

5. U-Haft trifft Reiche weniger. Kommt auch wieder drauf an: Jan Marsalek dürfte kaum mit einer Außervollzugsetzung rechnen. Sonst scheint mir das ebenfalls wie gedacht zu funktionieren. Aufgabe ist die Sicherstellung des Verfahrens. Wenn Zweifel ausgeräumt sind, dass der Betroffene sich dem Verfahren entzieht, warum sollte man ihn dann in die U-Haft stecken? Man darf auch nicht vergessen, dass mir kein Fall aus der "Reichenszene" bekannt ist, wo ein außer Vollzug gesetzter Haftbefehl wieder in Vollzug gesetzt werden musste, weil derjenige den Auflagen nicht nachgekommen ist.

6. Die Deals der Reichen sind besser, weil die Anwälte die Gerichte sonst zuschütten.
Stimmt, aber so zu tun als wäre das was für Reiche, wäre einfach unseriös. Die "Deals" an den Amtsgerichten bei den Allerweltsdelikten mögen nicht auf 120g Papier daherkommen, dürften aber die Wirtschaftsdeals zahlenmäßig bei weitem in den Schatten stellen.

7. Geldstrafe für H4 auf 7 - 10 € deckeln.
Da gehen die Meinungen ja in der Republik massiv auseinander. Bei mir gibts i.d.R. 20 € mit dem Argument, dass die Wohnkosten nicht in Abzug zu bringen sind, weil sie beim Beschäftigten auch nicht in Abzug gebracht werden. Mir ist schon klar, dass 1 € für einen Armen wesentlich mehr sind, als für einen "Reichen". Das rechtfertigt aber nicht, dem einen die Anrechnung der Wohnkosten als Ausgaben zu gewähren und dem anderen nicht.

8. Ersatzfreiheitsstrafe nach Gespräch mit dem Richter. Na klar. Das Gespräch bei der Verhandlung war ja nicht genug.
Nach schwedischem Vorbild könnte hier herausgefunden werden, ob jemand die Geldstrafe nicht zahlen will oder nicht zahlen kann, weil er oder sie in einer "Sackgasse des Elends" steckt. In letzterem Fall könnte dann nach Alternativen gesucht werden oder Gnade vor Recht ergehen.
. Das lasse ich einfach unkommentiert. Sollte es so im Buch stehen, bedarf es keiner Auseinandersetzung, sollte es da anders gemeint sein, dann auch nicht.

Die sich daran anschließende Kritik von Rath ist m.E. sehr ausgewogen und hat die Justiz viel eher im Blick.

Sollte die Rezension den Inhalt des Buches treffen, spiegelt es m.E. das Weltbild der reichen Linken auf die Armen wieder, dass deren Probleme eher vergrößert, als sie tatsächlich zu bekämpfen. Man hat das Gefühl, dass der Gedanke, der Arme könnte arm sein, weil es Gründe in ihm selbst gibt, die seine Lage bedingen, nicht gedacht wird. Die meisten Leute landen in der Strafjustiz, weil sie antriebslos sind, keine soziale Kontrolle kennen, sich lieber an ihre Regeln halten wollen etc. Sie landen nicht hier, weil sie arm sind, sondern sie sind meist wegen der zuvor aufgezählten Dinge auch arm.
Stehe zu deinen Überzeugungen soweit und solange Logik oder Erfahrung dich nicht widerlegen. Denk daran: Wenn der Kaiser nackt aussieht ist der Kaiser auch nackt ... .
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Re: Justiz auf dem armen Auge blind?

Beitrag von thh »

Strich hat geschrieben: Montag 31. Januar 2022, 14:39 2.
Auch vielen Strafurteilen attestiert Steinke eine soziale Schieflage. So werden tendenziell höhere Strafen verhängt, wenn jemand in problematischen Verhältnissen lebt. Der Trinker, der Schnaps klaut, wird härter bestraft als andere Diebe. Bei Armen werde oft auch ein strafverschärfendes gewerbliches Motiv für den Diebstahl unterstellt. Wer als Hartz-IV-Empfänger:in teure Parfüms stiehlt, muss sich schnell vorhalten lassen, dass hier ein Weiterverkauf intendiert war. "Wer arm ist, gilt eher als Berufsverbrecher", schreibt Steinke.
Das Argument (wie das im Buch ausgebreitet ist, weiß ich wie gesagt nicht, deswegen geht meine Stellungnahme hier nicht gegen den Autor sondern gegen einen Strohmann, der dieses Argument vorbächte) kommt mir komisch vor. Ich habe das bei noch keinem Gericht erlebt. Eher das Gegenteil: "Na hammer wieder Schnaps geklaut?" Und Entschuldigung aber wenn ich 10 verschiedene Parfüms bei einem H4 empfänger finde, liegt es nahe, dass die nicht alle für den Eigengebrauch geklaut worden. Das würde man auch bei Ulli Höneß nicht anders sehen.

Auch gilt nicht eher als "Berufsverbrecher" wer arm ist. Allenfalls als Berufsvergeher und wäre das so in dem Buch tatsächlich dargestellt, würde ich das als böswillige Unterstellung sehen. Ob jemand "Berufsverbrecher" ist oder nicht folgt nicht aus dem Lohnzettel sondern """""""""allenfalls""""""""" aus dem BZR. Davon m.E. streng zu trennen ist die Frage, in welchen Gesellschaftsschichten Kriminalität gehäuft vorkommt und wenn ich mich an den Amts- und Landgerichten umschaue sind das faktisch in der überwiegenden Zahl sozial Schwache. Diese Tatsache allein berechtigt weder zu Vorverurteilungen noch bietet sie Anlass zu Reformen (ich kann das bei Bedarf gerne ausführen). Die Tatsache, dass 9 von 10 Gefängnisinsassen männlich sind, lockt auch niemanden hinterm Ofen vor, man könnte mit dieser Tatsache aber das selbe argumentative Spiel betreiben.
Der Herr Journalist ist auch auf Twitter präsent. Seine Argumentation dort geht - unter Verwendung von Ausschnitten aus einem konkreten Strafurteil - so: Seit 150 Jahren wird gewerbsmäßiger Diebstahl härter bestraft. Das sollte ursprünglich Berufsverbrecher treffen. (Wobei ich meine, dass das nichts mit Gewerbsmäßigkeit zu tun hat, sondern mit den früheren Regelungen über die Tatbegehung "im Rückfall", aber egal.) Jetzt werde diese Regelung weit ausgelegt. Wer arm sei, verschaffe sich eben durch Diebstähle eher eine zusätzliche Einnahmequelle von einigem Umfang und einiger Dauer als jemand, der viel Geld habe (und mit den Diebstählen nicht wirklich zusätzliche Einnahmen habe). Als Beispiel wird eine Verurteilung zu 6 Monaten Freiheitsstrafe wegen Diebstahls von drei Rasierern für rund 60,- € genannt, die als "gewerbsmäßig" abgeurteilt wurde, unter anderem, weil der Täter eben sonst keinerlei Einnahmen hatte und von diesen Diebstählen gelebt habe. (Es war natürlich bei weitem nicht der erste Diebstahl und nur eine von mehreren Taten, die am Ende zu einer Gesamtfreiheitsstrafe zusammengeführt wurden.)

Es geht also nicht um den Diebstahl von Schnaps oder Lebensmitteln, sondern um den gezielten Diebstahl hochwertiger Waren (Rasierer, Parfüms, wir kennen ja alle die betreffenden Warengruppen, die betroffen sind), um von deren Verkauf zu leben. Es als "gewerbsmäßig" zu beurteilen, wenn jemand seinen Lebensunterhalt durch Diebstähle verdient, halte ich im Übrigen für zutreffend.
Strich hat geschrieben: Montag 31. Januar 2022, 14:393.
Je besser die Sozialprognose, um so größer die Wahrscheinlichkeit, dass die Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird. Wer dagegen arbeitslos und geschieden ist, muss eher ins Gefängnis.
Habe ich auch shcon häufiger gehört. Works as intended. Die Sozialprognose ist bei sozial Schwachen nicht schlecht, weil sie sozial Schwach sind sondern weil sie in der Regel eine schlechte Sozialprognose haben. Man müsste das ganze Merkmal streichen, wollte man hier etwas verändern, weil das Merkmal in dieser Lesart(!) einfach tatbestandlich sozial erfolgreich/sozial nicht erfolgreich erfasst. Tatsächlich spielt es für die Entscheidung auch hier nur eine untergeordnete Rolle, ob jemand in Arbeit ist und wie viel Geld er hat etc. Die meisten Bewährungen werden doch abgelehnt, weil die Leute sich schlicht hängen lassen, ihnen alles egal ist, Absprachen nicht eingehalten werden etc etc etc. Das sind natürlich auch gleichzeitig die Faktoren, die für die schlechte soziale Lage der Betroffenen verantwortlich sind, quelle surprise.
Es muss ja schon einiges passieren, damit die Vollstreckung der ersten Freiheitsstrafe nicht zur Bewährung ausgesetzt wird - und beim Bewährungsbruch ist weniger die Frage, ob jemand arbeitslos oder geschieden ist, sondern mehr, warum es eine erneute Strafaussetzung zur Bewährung geben sollte, d.h. was sich mittlerweile perspektivisch geändert hat, so dass damit zu rechnen ist, dass es nun plötzlich klappt. Ansonsten ist es natürlich tatsächlich so, dass das Damoklesschwert eines Bewährungswiderrufs eher den beeindruckt, der etwas zu verlieren hat, wenn er noch eine Straftat begeht: Job, Wohnung, Partnerin, Kinder.
Strich hat geschrieben: Montag 31. Januar 2022, 14:394. Die Geldstrafe ist sozial ungerecht. Naja, wie mans nimmt. Das Problem scheint mir hier nicht bei den Armen zu liegen, sondern bei den Reichen, deren Einkommen sich nur mit ganz erheblichen Aufwand ermitteln lässt.
Die Festsetzung der Geldstrafe in Tagessätzen ist so sozial gerecht wie's möglich ist.
Strich hat geschrieben: Montag 31. Januar 2022, 14:395. U-Haft trifft Reiche weniger.
Im Gegenteil. Der Umzug aus dem Männerwohnheim der Caritas in den Strafvollzug unterscheidet sich doch signifikant vom Umzug aus der Villa nach dort.
Strich hat geschrieben: Montag 31. Januar 2022, 14:396. Die Deals der Reichen sind besser, weil die Anwälte die Gerichte sonst zuschütten.
Das scheint mir weniger mit dem Vermögen als vielmehr mit den Kriminalitätsbereichen zusammenzuhängen. Auch der Millionär, der jemanden absticht oder besoffen einen Unfall verursacht, wird sich da kaum rausdealen können; Millionäre begehen nur schlicht seltener Straftaten der Alltagskriminalität. Im Bereich der Wirtschaftskriminalität hingegen sind sie eher vertreten als der wohnsitzlose Trinker.
Strich hat geschrieben: Montag 31. Januar 2022, 14:397. Geldstrafe für H4 auf 7 - 10 € deckeln.
Insgesamt oder als Tagessatzhöhe? Letzteres ist hier seit Jahrzehnten so; standardmäßig gibt es 10,- € Tagessatzhöhe für Empfänger von Transferleistungen, in besonderen Ausnahmefällen auch mal weniger.
Strich hat geschrieben: Montag 31. Januar 2022, 14:398. Ersatzfreiheitsstrafe nach Gespräch mit dem Richter. Na klar. Das Gespräch bei der Verhandlung war ja nicht genug.
Nach schwedischem Vorbild könnte hier herausgefunden werden, ob jemand die Geldstrafe nicht zahlen will oder nicht zahlen kann, weil er oder sie in einer "Sackgasse des Elends" steckt. In letzterem Fall könnte dann nach Alternativen gesucht werden oder Gnade vor Recht ergehen.
. Das lasse ich einfach unkommentiert.
Hihi. - Mir fehlt bei vielen dieser Punkte auch der Vorschlag von Alternativen. "Gnade vor Recht" ist keine.

Wenn "Reiche" bessere Deals bekämen, weil sie sonst drohen, die Strafjustiz lahmzulegen ... soll man diese Möglichkeiten jetzt auch weniger reichen Menschen verschaffen, oder was ist der Plan?

Wenn Geldstrafen "sozial ungerecht" wären, sollte man dann stattdessen lieber Freiheitsstrafen verhängen? Oder gar keine Strafen mehr?
Strich hat geschrieben: Montag 31. Januar 2022, 14:39Sollte die Rezension den Inhalt des Buches treffen, spiegelt es m.E. das Weltbild der reichen Linken auf die Armen wieder, dass deren Probleme eher vergrößert, als sie tatsächlich zu bekämpfen. Man hat das Gefühl, dass der Gedanke, der Arme könnte arm sein, weil es Gründe in ihm selbst gibt, die seine Lage bedingen, nicht gedacht wird. Die meisten Leute landen in der Strafjustiz, weil sie antriebslos sind, keine soziale Kontrolle kennen, sich lieber an ihre Regeln halten wollen etc. Sie landen nicht hier, weil sie arm sind, sondern sie sind meist wegen der zuvor aufgezählten Dinge auch arm.
So ist es.

Nicht immer können sie freilich etwas dafür; oft sind auch die Verhältnisse von Anfang an ungünstig, und/oder es kommen psychische Erkrankungen und Beeinträchtigungen und/oder Suchterkrankungen (oder sich ggs. ungünstig beeinflussende Kombinationen davon) hinzu. Und nicht zuletzt ist es tatsächlich so, dass alles im Leben auf lange Sicht irgendwann einmal Konsequenzen hat. Wenn ich die Schule abbreche, keinen Beruf erlerne und eine Vielzahl von Straftaten begehe, dann bin ich irgendwann 30 oder 40, habe keinen Schulabschluss, keinen Beruf erlernt und ein polizeiliches Führungszeugnis, bei dem jeder Arbeitgeber das Grausen bekommt. Dann etwas aus seinem Leben zu machen, ist schwierig - und die Perspektive für ein gutes Leben (ansprechender Job, Familie, Häuslein im Grünen, zweimal im Jahr in den Urlaub) sieht eher mau aus.
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Re: Justiz auf dem armen Auge blind?

Beitrag von Seeker »

Ich habe mich schon eine Weile nicht mehr mit der StPO befasst - gibt es irgendwelche Sachgründe dafür, in Strafsachen keine PKH für Bedürftige zu gewähren?

Ich weiß, "dass wir das noch nie so gemacht haben", dass es die notwendige Verteidigung gibt, die nach anderen Kriterien funktioniert und dass Freigesprochene keine Kosten tragen müssen. Aber das beantwortet die Frage nicht.
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Re: Justiz auf dem armen Auge blind?

Beitrag von Strich »

Dafür gibt es m.E. keine Sach(!)gründe.
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Re: Justiz auf dem armen Auge blind?

Beitrag von Liz »

Seeker hat geschrieben:Ich habe mich schon eine Weile nicht mehr mit der StPO befasst - gibt es irgendwelche Sachgründe dafür, in Strafsachen keine PKH für Bedürftige zu gewähren?

Ich weiß, "dass wir das noch nie so gemacht haben", dass es die notwendige Verteidigung gibt, die nach anderen Kriterien funktioniert und dass Freigesprochene keine Kosten tragen müssen. Aber das beantwortet die Frage nicht.
Wie will man da die Erfolgsaussichten der Verteidigung sinnvoll beurteilen?

Da scheint mir das Institut der notwendigen Verteidigung sinnvoller zu sein, weil hierdurch dafür gesorgt wird, dass jeder Beschuldigte in bestimmten Fällen erstmal einen Verteidiger bekommt, während die Frage der Kostentragung dann nachrangig geklärt wird. Im Übrigen ist es vor allem eine gesellschaftliche Frage, ob man mittellose Personen, die rechtskräftig wegen einer Straftat verurteilt worden sind, von sämtlichen Kosten des Verfahrens freistellt - letztlich im Sinne einer staatlichen „Vollkaskoversicherung“.
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Re: Justiz auf dem armen Auge blind?

Beitrag von thh »

Seeker hat geschrieben: Montag 31. Januar 2022, 16:23Ich habe mich schon eine Weile nicht mehr mit der StPO befasst - gibt es irgendwelche Sachgründe dafür, in Strafsachen keine PKH für Bedürftige zu gewähren?
Ja.
Liz hat geschrieben: Montag 31. Januar 2022, 20:11Im Übrigen ist es vor allem eine gesellschaftliche Frage, ob man mittellose Personen, die rechtskräftig wegen einer Straftat verurteilt worden sind, von sämtlichen Kosten des Verfahrens freistellt - letztlich im Sinne einer staatlichen „Vollkaskoversicherung“.
Faktisch tut man das ja. Die Verfahrenskosten werden doch regelmäßig, weil uneinbringlich, niedergeschlagen.

Und warum sollte man mittellose Straftäter besserstellen?
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Re: Justiz auf dem armen Auge blind?

Beitrag von Liz »

@thh: natürlich gibt es die Niederschlagung der Kosten, aber das ändert ja nichts daran, dass grds erstmal die Kostentragungspflicht besteht
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Re: Justiz auf dem armen Auge blind?

Beitrag von Seeker »

Ich finde es nur kurios, dass man im ZR selbst bei kleineren, kaum relevanten Verfahren PKH nach kursorischer Prüfung der Erfolgsaussichten gewährt bekommen kann. Was immerhin bedeutet, dass man die GK und eigenen Anwaltskosten nicht tragen muss. Wohingegen einem im Strafrecht theoretisch durchaus nicht unempfindliche Folgen drohen können (Führungszeugnis?), ohne dass ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt.
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Re: Justiz auf dem armen Auge blind?

Beitrag von Urs Blank »

thh hat geschrieben: Montag 31. Januar 2022, 15:59 Der Herr Journalist ist auch auf Twitter präsent. Seine Argumentation dort geht - unter Verwendung von Ausschnitten aus einem konkreten Strafurteil - so: Seit 150 Jahren wird gewerbsmäßiger Diebstahl härter bestraft. Das sollte ursprünglich Berufsverbrecher treffen. (Wobei ich meine, dass das nichts mit Gewerbsmäßigkeit zu tun hat, sondern mit den früheren Regelungen über die Tatbegehung "im Rückfall", aber egal.) Jetzt werde diese Regelung weit ausgelegt. Wer arm sei, verschaffe sich eben durch Diebstähle eher eine zusätzliche Einnahmequelle von einigem Umfang und einiger Dauer als jemand, der viel Geld habe (und mit den Diebstählen nicht wirklich zusätzliche Einnahmen habe). Als Beispiel wird eine Verurteilung zu 6 Monaten Freiheitsstrafe wegen Diebstahls von drei Rasierern für rund 60,- € genannt, die als "gewerbsmäßig" abgeurteilt wurde, unter anderem, weil der Täter eben sonst keinerlei Einnahmen hatte und von diesen Diebstählen gelebt habe. (Es war natürlich bei weitem nicht der erste Diebstahl und nur eine von mehreren Taten, die am Ende zu einer Gesamtfreiheitsstrafe zusammengeführt wurden.)

Es geht also nicht um den Diebstahl von Schnaps oder Lebensmitteln, sondern um den gezielten Diebstahl hochwertiger Waren (Rasierer, Parfüms, wir kennen ja alle die betreffenden Warengruppen, die betroffen sind), um von deren Verkauf zu leben. Es als "gewerbsmäßig" zu beurteilen, wenn jemand seinen Lebensunterhalt durch Diebstähle verdient, halte ich im Übrigen für zutreffend.
Steinkes Schaffen ist m. E. differenziert zu sehen. Gut lesbar finde ich insbesondere seine Fritz-Bauer-Biographie (im Gegensatz etwa zu der etwas drögen früheren Biographie von Irmtraud Wojak). Und auch seine rechtspolitischen Artikel in der SZ treffen oft einen Punkt.

Was allerdings bei seiner Eigenwerbung für das hier diskutierte Buch (bislang habe ich es nicht gelesen) unangenehm auffällt: Er verkürzt Sachverhalte und spitzt über Gebühr zu. Etwa wenn er die Strafe von Uli Hoeneß mit der einer betrügerischen Sozialhilfeempfängerin vergleicht oder sich über das von -thh genannte Strafurteil echauffiert. Die Höhe des Schadens, die Steinke im letzteren Fall besonders herausstellt, ist eben nur ein - wenn auch gewichtiger - Strafzumessungsgrund. Dem Leser wird das Gesamtbild vorenthalten. Das erzeugt Aufmerksamkeit und Empörung, ist einer sachlichen Debatte aber abträglich.
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Re: Justiz auf dem armen Auge blind?

Beitrag von Strich »

Es gibt schon einen Unterschied zwischen PKH und notwendiger Verteidigung. Bei der PKH trage ich nach 4 Jahren Mittellosigkeit keine Kosten mehr. Nach Verurteilung trage ich die Kostn des Verfahrens aber theoretisch 30 Jahre?

@thh welche Sachgründe sprechen dagegen? m.E. gibt es auch irgendeine europäische Regelung zur PKH für Beschuldigte ...
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Re: Justiz auf dem armen Auge blind?

Beitrag von Sektnase »

Ein Zivilrechtsstreit kann eben jedem passieren, wer vor dem Strafrichter landet, der "wird schon was verbrochen haben".
In einem Umfeld, in dem mittelschwere Hurensöhnigkeit häufig zum Stellenprofil gehört, muss einen nicht wundern, wenn man Scheiße behandelt wird. -Blaumann
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Re: Justiz auf dem armen Auge blind?

Beitrag von Liz »

Sektnase hat geschrieben:Ein Zivilrechtsstreit kann eben jedem passieren, wer vor dem Strafrichter landet, der "wird schon was verbrochen haben".
Es gibt aber auch nicht für jeden Zivilrechtsstreit PKH - und auch nicht zwingend unter Beiordnung eines Anwalts.
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