Sachverhaltsinterpretation, Beweislastverteilung im ersten Examen

Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht sowie Zivilprozeßrecht

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Benni
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Sachverhaltsinterpretation, Beweislastverteilung im ersten Examen

Beitrag von Benni »

Hallo zusammen,

ich befinde mich bereits im Hauptstudium und habe demzufolge schon eine Reihe von Klausuren und Hausarbeiten erfolgreich hinter mich gebracht. Jetzt aber stellt sich mir eine grundsätzliche Frage, die ich bisher nicht so vor Augen hatte, aber wohl in jeder Klausur/Hausarbeit hätte haben müssen:

Mit welcher Art von Sachverhalt habe ich es eigentlich zu tun? Ist es der Sachverhalt, der sich dem Richter nach Abschluss der Beweisaufnahme stellt, so dass Angaben des Sachverhalts dazu, ob etwas geschehen ist oder nicht geschehen ist als gegeben anzusehen sind und dass alles, wozu sich der Sachverhalt ausschweigt, weder bewiesen noch widerlegt ist, es sich also um ein non-liquet handelt?

Sinngemäß wird es hier so dargestellt:

https://www.juracademy.de/bgb-allgemein ... ernen.html

Oder handelt es sich bis zur ersten juristischen Prüfung immer um einen „vollständigen Sachverhalt“, bei dem alles, was sich nicht aus dem Sachverhalt ergibt, auch als nicht geschehen anzunehmen ist?

So habe ich es an anderer Stelle gelesen und so war ich bisher auch immer verfahren. Aber ich bin nicht mehr überzeugt von dieser Möglichkeit. Denn wenn z.B. das Alter eines Erklärenden im Sachverhalt offen bleibt, kann ja nicht daraus geschlossen werden, die Person sei weder volljährig noch minderjährig.

Andererseits würde man, wenn die erstgenannte Möglichkeit zuträfen, für die Klausuren Kenntnisse über die Beweislastverteilung benötigen.
jona7317
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Re: Sachverhaltsinterpretation, Beweislastverteilung im ersten Examen

Beitrag von jona7317 »

Ja, im ersten Examen gilt, das alles was im Sachverhalt steht, auch für bare Münze zu nehmen ist. Was da nicht steht ist nicht passiert.
Mir ist auch nach einer Menge Übungs- und meinen eigenen Examensklausuren noch nicht untergekommen, dass das je wirklich anders war.

Eine "Quasi-Ausnahme" sind natürlich sämtliche Begründungen und andere Parteienvorträge, das erkennst du aber sofort.
Im öffentlichen Recht kommt es gelegentlich mal vor, dass Hoheisträger Entscheidungen mit erkennbar vorgeschobenen, falschen Vorwänden begründen. Auch sonst gilt, dass du alles was Parteien in direkter oder indirekter Rede vortragen kritisch und auch abweichend bewerten darfst. Regelmäßig sind das aber schon deren rechtliche Wertungen und keine Tatsachen, die gehören streng genommen schon gar nicht zu den Tatsachen des Sachverhalts.
Beispielsweise wenn eine Partei nicht zur Stadthalle zugelassen wird, weil schon jemand anders - erkennbar nur um die Halle für anderen zu blockieren - reserviert hat. Oder die Gemeinde, die unter dem Vorwand ein Gebiet planerisch entwickeln zu wollen eine Veränderungssperre erlässt, es aber nur darauf abgesehen hat, das Vorhaben des Klägers zu verhindern. Dass es sich dabei um einen reinen Vorwand handelt wird im Sachverhalt nicht explizit drin stehen, das musst du selber erkennen und bewerten.
Im Sachverhalt ist da immer ein sehr eindeutiger Wink mit dem Zaunpfahl, wenn du am faktischen Vorbringen von Parteien zweifeln sollst, obwohl dort nichts gegenteiliges steht.

Ansonsten gilt: Was da steht ist auch so passiert, was da nicht steht ist entweder nicht passiert oder, weil es der absolute Regelfall ist (z.B. die Volljährigkeit!), zu unterstellen.
Eine pauschale Einordnung, was zum Selbstverständlichen gehört, kann dir keiner geben - Das ist aber mit gesundem Menschenverstand sehr einfach rauszufinden.

Will der Klausurersteller etwas zur Geschäftsfähigkeit hören, wenn er das Alter nicht erwähnt? Nein.
Will der Klausurersteller, dass du die Schuldfähigkeit in Frage stellst, wenn dazu keine Anhaltspunkte vorhanden sind? Nein.
Benni
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Re: Sachverhaltsinterpretation, Beweislastverteilung im ersten Examen

Beitrag von Benni »

Hallo jona,

danke für deine Antwort! Kann sein, dass du Recht hast. Da du schon seit Jahren in Klausuren so verfahren bist, hast du nicht zufällig eine Quelle, die du angeben kannst?

Ich habe hier 5 Falllösungsbücher, die einem die Klausurtechnik beibringen wollen, sich aber nicht äußern zu dieser Frage. :-)

Die Repetitoren von „juracademy“ scheinen es ja gänzlich anders zu sehen als du (Link siehe oben). Ich weiß allerdings auch nicht, welche Juristen dahinter stehen.

Mit deiner Aussage, Volljährigkeit sei die absolute Regel, fremdle ich ein wenig, immerhin gibt es 15 bis 20 % Minderjährige, auch wenn die ganz Kleinen sich wohl weniger geschäftlich betätigen.
gola20
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Re: Sachverhaltsinterpretation, Beweislastverteilung im ersten Examen

Beitrag von gola20 »

Wenn ihr bei fehlender Altersangabe anfangt, die Volljährigkeit zu hinterfragen, dann kriegt der Korrektor einen Wutanfall :drinking:
jona7317
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Re: Sachverhaltsinterpretation, Beweislastverteilung im ersten Examen

Beitrag von jona7317 »

Benni hat geschrieben: Dienstag 11. Oktober 2022, 21:15 Hallo jona,

danke für deine Antwort! Kann sein, dass du Recht hast. Da du schon seit Jahren in Klausuren so verfahren bist, hast du nicht zufällig eine Quelle, die du angeben kannst?

Ich habe hier 5 Falllösungsbücher, die einem die Klausurtechnik beibringen wollen, sich aber nicht äußern zu dieser Frage. :-)

Die Repetitoren von „juracademy“ scheinen es ja gänzlich anders zu sehen als du (Link siehe oben). Ich weiß allerdings auch nicht, welche Juristen dahinter stehen.

Mit deiner Aussage, Volljährigkeit sei die absolute Regel, fremdle ich ein wenig, immerhin gibt es 15 bis 20 % Minderjährige, auch wenn die ganz Kleinen sich wohl weniger geschäftlich betätigen.
Wo weicht denn meine Darstellung grob von dem bei juracademy ab?
Zu den Parteienvorträgen im Ö-Recht - und insoweit weicht das wohl ab - kann ich dir keine Quelle nennen, das wirst du aber in Klausuren selber merken. Schön erkennen kannst du das auch, wenn Sachverhalte beispielsweise formulieren " [...] außerdem behauptet A - was zutrifft - dass B jedenfalls unzulässige Materialien für den Bau verwende."
Das ist keine große Seltenheit und allein dem sollte ein sorgfältiger Klausurbearbeiter entnehmen können, dass man den übrigen Vortrag des A in Frage stellen darf und für eine gute Benotung sogar in Frage stellen und kritisch beurteilen muss !



Zudem trifft die Regel "was nicht drinsteht ist nicht passiert" zwar im Groben zu, aber:

1. Selbstverständliches wird nicht hingeschrieben.
Wenn im Sachverhahlt steht "A hatte das Grundstück von B in einem Vertrag vom 10.02.2019 gekauft", dann steht da nicht jedes mal extra "formgemäßen Vertrag". Wenn der Sachverhalt Dinge voraussetzt, dann darfst du nicht anfangen zu fragen, ob denn alle Voraussetzungen dafür vorlagen. Prüfst du bei der Formulierung etwa ob denn die Form des § 311b I 1 BGB eingehalten wurde, begehst du einen groben Fehler und verfehlst den Schwerpunkt der Klausur völlig.

2. Es gibt ja auch Tatsachen, wie die Minderjährigkeit oder Schuldfähigkeit, die "entweder oder" im Sinne von A oder B sind. Auf diese trifft die Regel von Da oder Nicht da nicht zu, weil es ja eins von beidem positiv sein muss. Wenn dazu keine Angaben sind, musst du vom Regelfall ausgehen.



Es tut mir leid, dir dazu keine einschlägigen Quellen liefern zu können, aber ehrlicherweise: Jeneseits des ersten und ggf. noch zweiten Semesters würde ich keine Zeit mit Lehrbüchern zur generellen Fallbearbeitung verschwenden. Es verwundert mich, dass du im Hauptstudium sitzt und dich fragst, was du denn nun zur Minderjährigkeit schreibst, wenn im Sachverhalt keine Altersangabe steht....
Wenn du das eigentlich weisst und nur verbleibende Restunsicherheiten durch eine Literaturquelle die dir Ja/Nein sagt loswerden willst, kann ich dir nur raten davon abzulassen und deinem gesunden Menschenverstand zu vertrauen. Gute Sachverhaltsinterpretationen zeichnen sich durch lebensnahe (!) nicht lehrbuchnahe Auslegung aus. Das kann man zur genüge in Klausurenkursen und den großen Übungen üben, statt zu versuchen es auf Lehrbuchformeln runterzubrechen.
Ansonsten: Schreib deiner Fachstudienberatung eine Mail mit deinen Fragen, besuch bei so grundlegenden Fragen zur Sachverhaltsarbeit vielleicht auch mal einen der Aufbaukurse, die es an den meisten Unis gibt.
Zu Beginn des Semesters gibt es regelmäßig Veranstaltungen, die genau sowas erläutern. Für Erstis und an manchen Unis auch zu Beginn des Examensvorbereitungskurses, ist keine Schande da nochmal/schon vorbeizuschauen
Benni
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Re: Sachverhaltsinterpretation, Beweislastverteilung im ersten Examen

Beitrag von Benni »

@jona

Juracademy: „Wovon der Sachverhalt berichtet, ist geschehen; wovon der Sachverhalt schweigt, ist nicht geschehen oder nicht nachweisbar.“

Juracademy vertritt demnach die Ansicht, dass Schweigen des Sachverhalts nicht bedeuten muss, etwas sei nicht geschehen, sondern dass es auch bedeuten kann, dass es es zwar geschehen ist, aber nicht bewiesen werden konnte. Schweigen wäre nach dieser Auffassung als non-liquet zu verstehen.

Du dagegen vertrittst die Ansicht, non-liquet komme in juristischen Klausuren nicht vor.

Und das ist auch die einzige (konkrete) Frage, die ich mir überhaupt stelle: Non-liquet ja oder nein.

Von der Minderjährigkeit habe ich nur als Argument gesprochen, ich prüfe das nicht in der Klausur. Das Thema Regel/Ausnahme Thema bei der Minderjährigkeit ist im Übrigen durchaus umstritten. Bei der Beweislastverteilung stellt sich diese Frage nämlich auch.

Und die Klausurbücher hab ich nur vor mir liegen zum nachschlagen der obigen Frage, nicht weil ich keine Klausuren schreiben kann.

Ich fahre aber nächste Woche Mal in die Bib und schlage die Frage dort nochmal nach.
jona7317
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Re: Sachverhaltsinterpretation, Beweislastverteilung im ersten Examen

Beitrag von jona7317 »

Ach, jetzt verstehe ich erst worauf du eigentlich hinauswillst.
Ich glaube ehrlich gesagt das ist einfach eine ungeschickt gewählte, ausschmückende Formulierung auf der Website. Beweislastfragen haben im ersten Examen ausserhalb einiger weniger gesetzlicher Vermutungen, denke z.B. an § 280 I 2 BGB oder die Rechtsprechung zum wucherähnlichen Rechtsgeschäft, die man eben beherrschen muss, meiner Erfahrung nach keine Relevanz.
Vielleicht gibt es irgendwann mal eine prozessuale Zusatzfrage, wo dazu oberflächliches Verständnis abgefragt wird. Aber den Sachverhalt, indem du mangels Angaben die Beweislastverteilung ernsthaft problematisieren musst, gibt es grundsätzlich nicht.
Theopa
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Re: Sachverhaltsinterpretation, Beweislastverteilung im ersten Examen

Beitrag von Theopa »

Benni hat geschrieben: Mittwoch 12. Oktober 2022, 12:46 @jona

Juracademy: „Wovon der Sachverhalt berichtet, ist geschehen; wovon der Sachverhalt schweigt, ist nicht geschehen oder nicht nachweisbar.“

Juracademy vertritt demnach die Ansicht, dass Schweigen des Sachverhalts nicht bedeuten muss, etwas sei nicht geschehen, sondern dass es auch bedeuten kann, dass es es zwar geschehen ist, aber nicht bewiesen werden konnte. Schweigen wäre nach dieser Auffassung als non-liquet zu verstehen.

Du dagegen vertrittst die Ansicht, non-liquet komme in juristischen Klausuren nicht vor.

Und das ist auch die einzige (konkrete) Frage, die ich mir überhaupt stelle: Non-liquet ja oder nein.
Am Ende ist es wohl einfach eine allgemein anerkannte Vorgehensweise den Sachverhalt so zu sehen, ob es nun non liquet oder widerlegt ist kann im ersten Examen faktisch fast keinen Unterschied machen.

ich würde das Ganze aus der Perspektive eines etwaigen gerichtlichen Verfahrens betrachten. Auch wenn das im ersten Examen nicht gefragt ist handelt es sich um eine jedem Volljuristen - wozu fast alle Klausurersteller zählen werden - bekannte und wenigstens unterbewusste angewendete Denkweise.

Zivilrechtliche Sachverhalte: Es gilt der Beibringungsgrundsatz. Was nicht vorgetragen ist existiert schlicht nicht. Wenn nirgends steht, dass die Person minderjährig ist fehlt jeglicher Vortrag zu einer etwaigen Geschäftsunfähigkeit bzw. beschränkten Geschäftsfähigkeit, womit zum Vortrag "A hat eine Willenserklärung abgegeben" keine gegenläufige Einwendung (z.B. "A konnte schon keine wirksame WE abgeben, da...") vorgetragen ist, die man bei der Lösung berücksichtigen könnte.

Ö-Recht/Strafrecht: Es gilt der Amtsermittlungsgrundsatz. Es ist unabhängig von der Realitätsnähe dieser These davon auszugehen, dass das Gericht/die Behörde alle erheblichen Tatsachen vollständig ermittelt und zur Verfügung stehen hat. Was nicht dort steht wurde bei der Amtsermittlung nicht festgestellt , musste mangels Entscheidungserheblichkeit nicht festgestellt werden oder konnte nicht festgestellt werden.
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Re: Sachverhaltsinterpretation, Beweislastverteilung im ersten Examen

Beitrag von Benni »

jona7317 hat geschrieben: Mittwoch 12. Oktober 2022, 13:58 Ach, jetzt verstehe ich erst worauf du eigentlich hinauswillst.
Ich glaube ehrlich gesagt das ist einfach eine ungeschickt gewählte, ausschmückende Formulierung auf der Website. Beweislastfragen haben im ersten Examen ausserhalb einiger weniger gesetzlicher Vermutungen, denke z.B. an § 280 I 2 BGB oder die Rechtsprechung zum wucherähnlichen Rechtsgeschäft, die man eben beherrschen muss, meiner Erfahrung nach keine Relevanz.
Vielleicht gibt es irgendwann mal eine prozessuale Zusatzfrage, wo dazu oberflächliches Verständnis abgefragt wird. Aber den Sachverhalt, indem du mangels Angaben die Beweislastverteilung ernsthaft problematisieren musst, gibt es grundsätzlich nicht.
@jona

Ja, kann natürlich sein, dass da jmd beim Verfassen dieses Absatzes eine Art „Flüchtigkeitsfehler“ gemacht hat.

Fälle mit gesetzlichen Vermutungen, wie du sie ansprichst, hatte ich auch schon. Kann mich aber nicht mehr an die Formulierungen im zugrundeliegenden Sachverhalt erinnern.
Benni
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Re: Sachverhaltsinterpretation, Beweislastverteilung im ersten Examen

Beitrag von Benni »

Theopa hat geschrieben: Mittwoch 12. Oktober 2022, 14:43
Benni hat geschrieben: Mittwoch 12. Oktober 2022, 12:46 @jona

Juracademy: „Wovon der Sachverhalt berichtet, ist geschehen; wovon der Sachverhalt schweigt, ist nicht geschehen oder nicht nachweisbar.“

Juracademy vertritt demnach die Ansicht, dass Schweigen des Sachverhalts nicht bedeuten muss, etwas sei nicht geschehen, sondern dass es auch bedeuten kann, dass es es zwar geschehen ist, aber nicht bewiesen werden konnte. Schweigen wäre nach dieser Auffassung als non-liquet zu verstehen.

Du dagegen vertrittst die Ansicht, non-liquet komme in juristischen Klausuren nicht vor.

Und das ist auch die einzige (konkrete) Frage, die ich mir überhaupt stelle: Non-liquet ja oder nein.
Am Ende ist es wohl einfach eine allgemein anerkannte Vorgehensweise den Sachverhalt so zu sehen, ob es nun non liquet oder widerlegt ist kann im ersten Examen faktisch fast keinen Unterschied machen.

ich würde das Ganze aus der Perspektive eines etwaigen gerichtlichen Verfahrens betrachten. Auch wenn das im ersten Examen nicht gefragt ist handelt es sich um eine jedem Volljuristen - wozu fast alle Klausurersteller zählen werden - bekannte und wenigstens unterbewusste angewendete Denkweise.

Zivilrechtliche Sachverhalte: Es gilt der Beibringungsgrundsatz. Was nicht vorgetragen ist existiert schlicht nicht. Wenn nirgends steht, dass die Person minderjährig ist fehlt jeglicher Vortrag zu einer etwaigen Geschäftsunfähigkeit bzw. beschränkten Geschäftsfähigkeit, womit zum Vortrag "A hat eine Willenserklärung abgegeben" keine gegenläufige Einwendung (z.B. "A konnte schon keine wirksame WE abgeben, da...") vorgetragen ist, die man bei der Lösung berücksichtigen könnte.

Ö-Recht/Strafrecht: Es gilt der Amtsermittlungsgrundsatz. Es ist unabhängig von der Realitätsnähe dieser These davon auszugehen, dass das Gericht/die Behörde alle erheblichen Tatsachen vollständig ermittelt und zur Verfügung stehen hat. Was nicht dort steht wurde bei der Amtsermittlung nicht festgestellt , musste mangels Entscheidungserheblichkeit nicht festgestellt werden oder konnte nicht festgestellt werden.
Hallo Theopa,

danke für deine Antwort!

Leider habe ich deinen ersten Satz nicht ganz verstanden, stimmst du dem Zitat von Juracademy zu oder Jona?
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Re: Sachverhaltsinterpretation, Beweislastverteilung im ersten Examen

Beitrag von Theopa »

Benni hat geschrieben: Mittwoch 12. Oktober 2022, 19:16 Hallo Theopa,

danke für deine Antwort!

Leider habe ich deinen ersten Satz nicht ganz verstanden, stimmst du dem Zitat von Juracademy zu oder Jona?
Meine Meinung ist, dass es auf diese Frage keine eindeutige Antwort gibt.

Im Zivilrecht würde ich jeden nicht explizit als umstritten gekennzeichneten Sachverhalt nach den Grundsätzen des Zivilverfahrens als die "einzige Wahrheit", also gerade nicht als non liquet ansehen, hier würde ich Juracademy widersprechen.

Im Ö-Recht/Strafrecht kann beides zutreffen. Wenn im Strafrecht keine Tatsachen vorgetragen werden, die eine Schuldunfähigkeit begründen hat es in diesem fiktiven Sachverhalt entweder keine Anhaltspunkte gegeben, die eine Ermittlung in diese Richtung erfordert hätten oder es gab Ermittlungen, die keinerlei Erkenntnisse erbracht haben oder die Schuldfähigkeit wurde vielleicht sogar positiv durch ein Sachverständigengutachten belegt. Das kann dir jedoch völlig egal sein, da die für die Prüfung der Strafbarkeit der Grundsatz "Schuld indiziert -> Keine anderen Anhaltspunkte" genügt.
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Re: Sachverhaltsinterpretation, Beweislastverteilung im ersten Examen

Beitrag von Urs Blank »

Nur zum Strafrecht: Bisweilen findet man universitäre Klausursachverhalte, die - gemessen an den Anforderungen, die für die Tatsachenfeststellungen erstinstanzlicher Urteile gelten - unzureichend sind, weil sie so erhebliche Lücken enthalten, dass eine Rechtsprüfung im Grunde nicht möglich ist. Einfacher gesagt: Wäre die Klausuraufgabe der Sachverhalt eines landgerichtlichen Strafurteils, würde der BGH es aufheben.

Dies ist sehr oft im Bereich des subjektiven Tatbestands der Fall, wenn konkrete Sachverhaltsangaben zum Vorstellungsbild des Täters (jedenfalls nach h. Rspr. ja ein vom Tatgericht festzustellendes psychologisches Faktum) fehlen. Der Klausurbearbeiter ist dann gezwungen, aus objektiven Sachverhaltsangaben Rückschlüsse zu ziehen, also eine Art Pseudo-Beweiswürdigung (die aber in der Klausur nicht so genannt wird) vorzunehmen. Gibt es solche verwertbaren Angaben nicht, bleibt nur, die Lücke durch eigene Spekulationen zu füllen.

Ein besonders bizarres Beispiel: Krell/Eibach/Wölfel, JuS 2019, 628. Die dortige Aufgabe ist (im ersten Abschnitt) dem bekannten (später zweimal vom BGH entschiedenen) Fall des Berliner Rasers nachgebildet. Im Sachverhalt keine Silbe dazu, was der Täter A. sich vorstellte. In der Musterlösung sodann unreflektiert weitreichende Vermutungen zu dieser Frage. Dies ist einerseits unfair gegenüber den Prüflingen, verfehlt andererseits aber auch die eigentliche Problematik des Falls, nämlich die Vorsatzfeststellung bei psychologisierendem oder normativem Vorsatzbegriff.
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Re: Sachverhaltsinterpretation, Beweislastverteilung im ersten Examen

Beitrag von Benni »

Urs Blank hat geschrieben: Samstag 15. Oktober 2022, 22:07 Nur zum Strafrecht: Bisweilen findet man universitäre Klausursachverhalte, die - gemessen an den Anforderungen, die für die Tatsachenfeststellungen erstinstanzlicher Urteile gelten - unzureichend sind, weil sie so erhebliche Lücken enthalten, dass eine Rechtsprüfung im Grunde nicht möglich ist. Einfacher gesagt: Wäre die Klausuraufgabe der Sachverhalt eines landgerichtlichen Strafurteils, würde der BGH es aufheben.

Dies ist sehr oft im Bereich des subjektiven Tatbestands der Fall, wenn konkrete Sachverhaltsangaben zum Vorstellungsbild des Täters (jedenfalls nach h. Rspr. ja ein vom Tatgericht festzustellendes psychologisches Faktum) fehlen. Der Klausurbearbeiter ist dann gezwungen, aus objektiven Sachverhaltsangaben Rückschlüsse zu ziehen, also eine Art Pseudo-Beweiswürdigung (die aber in der Klausur nicht so genannt wird) vorzunehmen. Gibt es solche verwertbaren Angaben nicht, bleibt nur, die Lücke durch eigene Spekulationen zu füllen.

Ein besonders bizarres Beispiel: Krell/Eibach/Wölfel, JuS 2019, 628. Die dortige Aufgabe ist (im ersten Abschnitt) dem bekannten (später zweimal vom BGH entschiedenen) Fall des Berliner Rasers nachgebildet. Im Sachverhalt keine Silbe dazu, was der Täter A. sich vorstellte. In der Musterlösung sodann unreflektiert weitreichende Vermutungen zu dieser Frage. Dies ist einerseits unfair gegenüber den Prüflingen, verfehlt andererseits aber auch die eigentliche Problematik des Falls, nämlich die Vorsatzfeststellung bei psychologisierendem oder normativem Vorsatzbegriff.
@Urs

Bei dem, was du beschreibst, dürfte es sich um eine Überschreitung der Grenzen der Auslegung handeln, also um Sachverhaltsquetsche.

Das ist zwar nicht das Thema, um das es mir in diesem Thread eigentlich ging, aber ich finde du sprichst da einen wichtigen und interessanten Punkt an. Denn wenn Lehrmaterial, seien es Fallbücher oder universitäre Klausuren, einem bei der Sachverhaltsauslegung das falsche Maß beibringen, kann einem das in den Examensklausuren böse auf die Füße fallen.

Vielleicht sollte man sich daher bei Klausuren möglichst an den Musterlösungen von Autoren orientieren, die auch eine Tätigkeit als Korrektor im 1. Examen ausüben. Andere Musterlösungen kann man natürlich auch verwenden, aber vielleicht ist etwas Skepsis angebracht.
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