Unentschlossenheit bei der Berufswahl

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Moderator: Verwaltung

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jur_ist_
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Unentschlossenheit bei der Berufswahl

Beitrag von jur_ist_ »

Hi zusammen,

ich habe kürzlich mein zweites Examen bestanden und beschäftige mich aktuell intensiv damit, wie es für mich langfristig beruflich weitergehen soll. Beide Examen habe ich mit einem zweistelligen Prädikat (im Ersten auch im Staatsteil) bestanden.

Sowohl während des Studiums als auch während des Referendariats hat das Strafrecht bisher immer am ehesten mein Interesse geweckt und mein Lebenslauf weist in dieser Hinsicht auch einen gewissen "roten Faden" auf (Schwerpunkt im Studium sowie Stationen bei Polizei, Strafverteidigern, Strafrichter am AG). Ich fand die Zeit beim Strafverteidiger interessant und mir gefiel, dass man zumindest als kleiner Anwalt im normalen Strafrecht viel mit den Schicksalen und Bedürfnissen einzelner Menschen zu tun hat. Ich kann mir gut vorstellen, einen Job zu haben, bei dem ich Menschen helfe bzw. dies zumindest versuche. Gleichwohl glaube ich, dass der Weg des Strafverteidigers nicht der ist, den ich wählen möchte, da diejenige anwaltliche Arbeit im Strafrecht, die mich interessieren würde (gerade kein Wirtschaftsstrafrecht, sondern das klassische Strafrecht mit all seinen Facetten), oftmals sehr schlecht bezahlt zu sein scheint bzw. einen enormen Arbeitseinsatz erfordert, der in keinem Verhältnis zur Vergütung steht und zudem immer das Risiko der Selbständigkeit mit sich bringt, das ich auch ungern eingehen würde. Ich habe mich mit einigen engagierten Strafverteidigern unterhalten, die ihren Job sehr mögen, mir aber eben auch mitgeteilt haben, dass man für diesen Beruf brennen und zum Beispiel bereit sein muss, oftmals große Teile seiner Freizeit für diesen zu opfern (unerwartete Termine, teilweise viel Reisetätigkeit, Erreichbarkeit für den Mandanten, etc).

Lange Zeit habe ich dann mit dem Beruf des Richters in der ordentlichen Gerichtsbarkeit geliebäugelt und bin auch aktuell weiterhin am überlegen, ob ich es zumindest einmal versuchen soll. Während der Stationen fand ich die richterliche Arbeit und insbesondere die Verhandlungen oftmals sehr interessant und ich könnte mir langfristig die Arbeit als Strafrichter am Amtsgericht vorstellen. Gleichwohl habe ich aber - wie für das Ref typisch - nur einen kleinen Einblick erlangen können und je mehr ich mich mit dem Beruf des Richters (insbesondere in NRW) beschäftige, desto mehr beginne ich zu zweifeln, ob ich für diesen gemacht bin. Wenn ich mich mit einer Sache oder einem Fall beschäftige, dann mache ich dies gerne ausführlich und widme diesem meine volle Aufmerksamkeit und Zeit. Die entsprechenden Foren sind nun aber voll von Beiträgen frustrierter Proberichter und auch langjähriger Richter, die von stupider Fließbandarbeit, einer enormer Arbeitsbelastung, Dauerstress und Aktenbergen berichten, die mit der an sich nötigen Konzentration und Befassung nicht ansatzweise zu schaffen wäre. Zahlreiche Reportagen bei Youtube der öffentlich-rechtlichen Sender zeichnen ebenfalls das Bild der überforderten Justiz, die ihre Richter bis an die Grenze der Belastbarkeit bringt. Natürlich ist mir bewusst, dass das alles vom Einzelfall und davon abhängt, an welchem Gericht und in welchem Dezernat man sicht befindet, doch scheint die Wahrscheinlichkeit, sich insbesondere die ersten Jahre als Proberichter im Dauerstress zu befinden, sehr groß zu sein.

Mir ist selbstverständlich klar, dass jeder Anfang schwer ist und immer einen größeren Arbeitseinsatz fordert, bis sich Routine einstellt. Ich bin nicht arbeitsscheu und bis zu einem gewissen Maße und für eine gewisse Zeit bereit, im Privaten Abstriche zu machen, um nach einiger Zeit den Beruf zu haben, der mich erfüllt. Doch muss ich andererseits sagen, dass ich nicht bereit bin, mich für einen Beruf vollkommen aufzuopfern und mir durch Dauerstress die Gesundheit und die Freude an der Arbeit nehmen zu lassen. Ein, zwei Bekannte von mir, die mittlerweile als Proberichter in NRW arbeiten, berichten davon, dass sie nun die ersten 1-2 Jahre schon nahezu täglich von etwa 9 bis 19/20 Uhr im Gericht verbracht und oftmals auch am Wochenende noch gearbeitet haben. Und das finde ich erschreckend viel.

Wie sind eure Erfahrungen? Sind insbesondere die ersten Jahre wirklich nur mit Nerven aus Stahl zu überstehen? Wird es als Richter auf Lebenszeit besser? Langfristig möchte ich nicht mehr als maximal 45 Wochen die Stunde arbeiten, da mir die Zeit mit meiner Partnerin, meiner Familie und meinen Freunden wichtiger ist als der Beruf.

Unabhängig von der Frage, ob ich es als Richter versuchen werde oder nicht, möchte ich mich zudem ohnehin mit einem Plan B befassen. Und in der Hinsicht habe ich noch keine konkrete Vorstellung. Meinen Vorstellungen käme vermutliche die Tätigkeit in der Verwaltung sehr nahe, doch möchte ich meinen Beruf eben auch nicht nur deshalb wählen, weil er mir 39 Stunden die Woche und einen entspannten Feierabend am späten Nachmittag garantiert. Ich möchte auch - zumindest zu einem gewissen Grad - Spaß an der Tätigkeit und das Gefühl haben, etwas Sinnvolles zu tun. Von der Arbeit in einem Ministerium oder in der Bezirksregierung etwa habe ich bisher noch keine wirkliche Vorstellung, könnte mir aber denken, dass es dort insbesondere in dem großen Feld des Umwelt- und Naturschutzes Themengebiete geben könnte, mit denen ich mich gerne befassen würde. Auch könnte ich mir vorstellen, für NGOs, Verbände oder ähnliches zu arbeiten, die sich z.B. mit den Schicksalen von Menschen, dem Umwelt- und Naturschutz oder dem Tierschutz beschäftigen. Ich habe mich insoweit mal auf die Suche im Netz begeben, es scheint aber wirklich wenige Stellen in diesem Bereich für Volljuristen zu geben. Ich werde dennoch die Augen aufhalten. Habt ihr Ideen, was für mich vielleicht noch in Frage kommen könnte? Was würdet ihr mir raten?

Ich danke euch!
Theopa
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Re: Unentschlossenheit bei der Berufswahl

Beitrag von Theopa »

Im strafrechtlichen Bereich könnte man noch - eine entsprechende Persönlichkeit vorausgesetzt - über den Justizvollzug bzw. bei deinen Noten auch realistisch über Justizministerien o.ä. nachdenken.
gola20
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Re: Unentschlossenheit bei der Berufswahl

Beitrag von gola20 »

jur_ist_ hat geschrieben: Freitag 29. Oktober 2021, 13:58 Gleichwohl glaube ich, dass der Weg des Strafverteidigers nicht der ist, den ich wählen möchte, da diejenige anwaltliche Arbeit im Strafrecht, die mich interessieren würde (gerade kein Wirtschaftsstrafrecht, sondern das klassische Strafrecht mit all seinen Facetten), oftmals sehr schlecht bezahlt zu sein scheint bzw. einen enormen Arbeitseinsatz erfordert, der in keinem Verhältnis zur Vergütung steht und zudem immer das Risiko der Selbständigkeit mit sich bringt, das ich auch ungern eingehen würde. Ich habe mich mit einigen engagierten Strafverteidigern unterhalten, die ihren Job sehr mögen, mir aber eben auch mitgeteilt haben, dass man für diesen Beruf brennen und zum Beispiel bereit sein muss, oftmals große Teile seiner Freizeit für diesen zu opfern (unerwartete Termine, teilweise viel Reisetätigkeit, Erreichbarkeit für den Mandanten, etc).
Das hast du halt als Anwalt immer. :drinking:
Liz
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Unentschlossenheit bei der Berufswahl

Beitrag von Liz »

jur_ist_ hat geschrieben:

Mir ist selbstverständlich klar, dass jeder Anfang schwer ist und immer einen größeren Arbeitseinsatz fordert, bis sich Routine einstellt. Ich bin nicht arbeitsscheu und bis zu einem gewissen Maße und für eine gewisse Zeit bereit, im Privaten Abstriche zu machen, um nach einiger Zeit den Beruf zu haben, der mich erfüllt. Doch muss ich andererseits sagen, dass ich nicht bereit bin, mich für einen Beruf vollkommen aufzuopfern und mir durch Dauerstress die Gesundheit und die Freude an der Arbeit nehmen zu lassen. Ein, zwei Bekannte von mir, die mittlerweile als Proberichter in NRW arbeiten, berichten davon, dass sie nun die ersten 1-2 Jahre schon nahezu täglich von etwa 9 bis 19/20 Uhr im Gericht verbracht und oftmals auch am Wochenende noch gearbeitet haben. Und das finde ich erschreckend viel.

Wie sind eure Erfahrungen? Sind insbesondere die ersten Jahre wirklich nur mit Nerven aus Stahl zu überstehen? Wird es als Richter auf Lebenszeit besser? Langfristig möchte ich nicht mehr als maximal 45 Wochen die Stunde arbeiten, da mir die Zeit mit meiner Partnerin, meiner Familie und meinen Freunden wichtiger ist als der Beruf.
Zunächst mal: die Anwesenheitszeit ist nicht zwingend mit der Nettoarbeitszeit gleichzusetzen. Wenn man um 9 Uhr kommt und im Laufe des Tages 1-2 Stunden Pause macht bzw. mit Kollegen quatscht, muss man auch bei einer 40 Stunden-Woche bis 18-19 Uhr arbeiten und als Anfänger und / oder mit einem abgesoffenen Dezernat kommt sicherlich auch mal das ein oder andere Wochenende dazu (was auch abhängig von der eigenen Arbeitsweise bzw. dem Anspruch an das Arbeitsergebnis ist).

Letztlich hängt die reale Arbeitsbelastung in der Justiz einerseits von dem Dezernat und andererseits von der persönlichen Arbeitsweise ab. Bei Ersterem kann man Glück oder Pech haben; an Letzterem kann man arbeiten. Als Lebenszeitrichter ändern sich vor allem zwei Dinge: man hat mehr Erfahrung, dh man muss über manche Dinge nicht mehr groß nachdenken, die einen als Anfänger zig Stunden gekostet haben, und man behält sein Dezernat in aller Regel länger, dh man profitiert davon, wenn man es aufgeräumt hat.
T0bi
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Re: Unentschlossenheit bei der Berufswahl

Beitrag von T0bi »

jur_ist_ hat geschrieben: Freitag 29. Oktober 2021, 13:58 Wenn ich mich mit einer Sache oder einem Fall beschäftige, dann mache ich dies gerne ausführlich und widme diesem meine volle Aufmerksamkeit und Zeit. Die entsprechenden Foren sind nun aber voll von Beiträgen frustrierter Proberichter und auch langjähriger Richter, die von stupider Fließbandarbeit, einer enormer Arbeitsbelastung, Dauerstress und Aktenbergen berichten, die mit der an sich nötigen Konzentration und Befassung nicht ansatzweise zu schaffen wäre.
Ein paar Worte zu diesem Aspekt: Richtig ist, dass man nicht in jeden Fall mehrere Stunden stecken kann. Aber das muss man auch nicht. Man lernt schnell, welchem Fall man juristische Aufmerksamkeit widmen muss und welchem nicht. Gerade gute Juristen können das. Und die (relativ wenigen) Fälle, die anspruchsvoll sind und man als solches identifiziert hat, kann man definitiv - sowohl am Amts- als auch am Landgericht - sachgerecht bearbeiten. Problematisch sind am ehesten Mischdezernate, die überproportional viele anspruchsvolle Fälle mit sich bringen und dann aufgefüllt werden, bis der Pensenschlüssel passt (z.B. in der LG-Kammer 60% Arzthaftung und 40% Fälle aus dem allgemeinen Turnus). Da kann man gerade als Proberichter schon echt ackern. Aber auch das ist zu schaffen. Von diesem Aspekt sollte man sich also nicht abschrecken lassen. Im Gegenteil: Gerade die Autonomie, von Anfang an selbst zu entscheiden, in welchen Fall man Zeit investiert bzw. investieren muss, macht die Tätigkeit m.E. besonders reizvoll. Wenn ich in einer Bagatellsache, die mich juristisch fesselt, das dickste Brett bohren und die Berufung zulassen will, kann ich das tun.
"die Bezeichnung Penner hat nicht...stets beleidigenden...Charakter. So werden etwa im Einzelhandel umgangssprachlich schlecht verkäufliche Artikel...im Gegensatz zum Renner auch als Penner bezeichnet (wikipedia.de)" (BayVGH NZA-RR 2012, 302)
Liz
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Re: Unentschlossenheit bei der Berufswahl

Beitrag von Liz »

T0bi hat geschrieben: Mittwoch 3. November 2021, 21:05 Problematisch sind am ehesten Mischdezernate, die überproportional viele anspruchsvolle Fälle mit sich bringen und dann aufgefüllt werden, bis der Pensenschlüssel passt (z.B. in der LG-Kammer 60% Arzthaftung und 40% Fälle aus dem allgemeinen Turnus). Da kann man gerade als Proberichter schon echt ackern.
Das Problem an solchen Dezernaten ist doch häufig, dass die anspruchsvollen Verfahren meist auch langlebig sind, dh im Zweifelsfall haben schon zwei Kollegen vor einem Zeit in das Verfahren gesteckt, ohne es zu Ende zu bringen bzw. es schon abschließend entscheidungsreif zu machen. Da muss man sich als Proberichter schon gut überlegen, welche Verfahren man tatsächlich zielführend fördern kann und welche man ggf lieber gleich für den Nachfolger terminiert.
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Re: Unentschlossenheit bei der Berufswahl

Beitrag von lawlaw »

Ist es denn realistisch, nach einer gewissen Zeit (zumindest als Richter auf Lebenszeit) etwa auf 40 Stunden die Woche und freie Wochenenden zu kommen?
Theopa
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Re: Unentschlossenheit bei der Berufswahl

Beitrag von Theopa »

lawlaw hat geschrieben: Freitag 11. Februar 2022, 09:40 Ist es denn realistisch, nach einer gewissen Zeit (zumindest als Richter auf Lebenszeit) etwa auf 40 Stunden die Woche und freie Wochenenden zu kommen?
Natürlich. Ich würde sogar sagen, dass das der absolute Normalfall sein wird.

Es mag immer die besonders abgesoffenen Dezernate in Kombination mit einem Perfektionisten oder jemandem mit Karriereambitionen geben, ab einer gewissen Erfahrung dürfte über die Vollzeit hinausgehende Mehrarbeit aber ohne jede Pflichtverletzung vermeidbar sein. Nicht umsonst gilt die Justiz als familienfreundlicher Arbeitgeber.
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thh
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Re: Unentschlossenheit bei der Berufswahl

Beitrag von thh »

lawlaw hat geschrieben: Freitag 11. Februar 2022, 09:40Ist es denn realistisch, nach einer gewissen Zeit (zumindest als Richter auf Lebenszeit) etwa auf 40 Stunden die Woche und freie Wochenenden zu kommen?
Aber natürlich. Es mag immer Ausnahmekonstellationen geben (ungewöhnlich hohe Eingänge, unbesetzte Stellen oder Stelleninhaber, die "mitgezogen" werden müssen, Perfektionsmus, Entscheidungsschwäche), aber der Regelfall hat man nach einer Eingewöhnungszeit geregelte Arbeitszeiten. Bei häufigen Wechseln mag das anders aussehen, weil da immer die Gefahr besteht, ein schwieriges Referat übernehmen zu müssen, und es kann immer Zeiten vorübergehend hoher (aber eben auch niedriger) Arbeitsbelastung geben - das sind aber Ausnahmefälle. Regelmäßig kommt man plus/minus mit der Regelarbeitszeit (hier allerdings 41 Wochenstunden) gut hin.
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