Vernichtende Rezension

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Joshua
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Re: Vernichtende Rezension

Beitrag von Joshua »

Strich hat geschrieben: Mittwoch 21. Juli 2021, 14:56
Julia hat geschrieben: Mittwoch 21. Juli 2021, 07:45 Das haben andere, besser berufene schon getan. Es gibt mittlerweile zwei Rezensionen, die zum gleichen Ergebnis kommen, wenn auch mit divergierendem Stil. Eine inhaltliche Gegendarstellung ist von Seiten der Strafrechtswissenschaftler bislang nicht ersichtlich (wenngleich ich mir vorstellen kann, dass Freund das vermutlich nicht auf sich sitzen lassen wird).
Zum Inhalt ihrer Habil die neueste Rezension Herzbergs: http://www.zis-online.com/dat/artikel/2021_7-8_1449.pdf
Herzberg ist überwiegend zuzustimmen. Wo er Rostalski aber wohl falsch versteht, ist bei der Frage des Kommunikationsaktes durch die Unrechtsmaxime. Ich vermute zwar, dass Rostalski die kantische Position hierzu schon nicht richtig verstanden hat und sich das bei Herzberg "fortsetzt", aber das kann man alles nicht genau wissen.
Richtig ist wohl nach Kants Grundlagen der Metaphysik der Sitten (bzw der Metaphysik der Sitten, ich schaue die genaue Fundstelle zu Hause gerne bei Bedarf nach), dass der Straftäter mit der Straftat eine Unrechtsmaxime setzt. Rostalski hat das insoweit schon richtig beschrieben. Die Strafe ist nach Kant die Gegenmaxime, die die Unrechtsmaxime aufhebt und so den Rechtszustand wiederherstellt. Der Täter setzt also beim Diebstahl durchaus die Maxime, dass das ausschließliche Herrschaftsrecht des andern für ihn nicht gelte. Wo Rostalski aber wohl falsch liegt, ist, dass das kein tatsächlich kommunikativer Akt ist. Er ist es nur insoweit, als dass bei Aufdeckung die Rechtsmaxime "Eigentum" für alle erkennbar negiert wurde. Nicht richtig ist, dass der Täter diese Kommunikation mit der Gesellschaft gerade bezweckt. Hier setzt Herzbergs berechtigte Kritik an.
1. Du hast immer noch nicht gesagt, ob du das Buch gelesen hast, oder nur sekundäre Lesefrüchte auskostest.

2. Zur Sache:

Kant ist da komplexer und möglicherweise auch widersprüchlich:

In der Metaphysik heißt es einerseits:
Richterliche Strafe [...] muß jederzeit nur darum wider ihn [den Verbrecher] verhängt werden, weil er verbrochen hat."
Das ist ganz der kategorische Imperativ, 2. Form: Keine Verzweckung des Menschen, auch nicht, um bestimmte Strafzwecke zu verwirklichen.

Es heißt aber auch:
Selbst, wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflöste (zum Beispiel das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinanderzugehen und sich in alle Welt zu zerstreuen), müßte der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat; weil es als Teilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann."
Hervorhebung nicht im Original.

Das UND ist hier mE wichtig. Der 1. Teil ist wieder ganz der kategorische Imperativ, 2. Form; der 2. Teil nach dem "und" ist aber mehr, hier wird Kant doch in einem ganz eigenständigen Sinne konsequentialistisch: Wenn das Volk nicht straft, werde es - noch mehr - in die Tat verstrickt, modern: lade eine "Kollektivschuld" durch Unterlassung des Vollzugs auf sich. Der Vollzug der Strafe bezweckt insofern, das Volk von diesem Unterlassensvorwurf zu entbürden.

„In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“
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Ara
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Re: Vernichtende Rezension

Beitrag von Ara »

Sektnase hat geschrieben: Mittwoch 21. Juli 2021, 18:57 Ara, letztens mal habilitiert? ;)
Da will ich nicht drüber reden! :D
Die von der Klägerin vertretene Auffassung, die Beeinträchtigung des Wohngebrauchs sei durch das Zumauern der Fenster nur unwesentlich beeinträchtigt, ist so unverständlich, dass es nicht weiter kommentiert werden soll. - AG Tiergarten 606 C 598/11
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Re: Vernichtende Rezension

Beitrag von Liz »

Ara hat geschrieben:
Seeker hat geschrieben: Mittwoch 21. Juli 2021, 10:41 Es erscheint auch höchst artifiziell, dass für jede einzelne Strafnorm eine (thematisch) exakt identische Verhaltensnorm bestehen soll - gerade, wenn man die Änderungen des StGBs berücksichtigt. Wie muss man sich das vorstellen? Irgendein neu zu schaffendes Delikt ist erst weder Verhaltens- noch Strafnorm (t1), dann wird das Strafgesetz geschaffen (t2) und sofort/ohne juristische Sekunde (?) entsteht eine neue diesbezügliche Verhaltensnorm? Oder bestand die Verhaltensnorm schon zuvor? Dann müsste es aber doch bedeuten, dass es umgekehrt auch Strafnormen ohne Verhaltensnormen gibt?

Und falls Verhaltensnorm und Strafnorm stattdessen stets gleich laufen, dann bleibt die Frage: besteht diese Trennung überhaupt? Oder ist es eine Fiktion ohne Grund oder Mehrwert?
Die Frage ist, ob der Gesetzgeber überhaupt eine Strafnorm schaffen darf, für die es keine Verhaltensnorm/Rechtsgut gibt. Der Gesetzgeber hat ja zum Teil bereits völlig eigene Rechtsgüter geschaffen zB "Sauberkeit des Sports". Das wird relativ umfassend diskutiert, ob dies möglich ist.
Und was ist dann die Lösung derer, die meinen, der Gesetzgeber dürfe keine Strafgesetze ohne vorbestehende Verhaltensnorm schaffen, wenn der Gesetzgeber trotzdem munter Strafgesetze schafft? Wie stellt man überhaupt fest, ob es nicht vielleicht doch schon eine entsprechende Verhaltensnorm gibt?
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Ara
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Re: Vernichtende Rezension

Beitrag von Ara »

Verfassungswidrigkeit. Ich meine verfassungswidriger Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit. Die Feststellung, dass es dafür keine Vehaltensnorm gibt kann dann natürlich schwierig sein, aber wann sind Verfassungsverstöße schon eindeutig?
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Re: Vernichtende Rezension

Beitrag von Liz »

Stelle ich mir ja eher anstrengend vor, vorgesetzliche Verhaltensnormen konstruieren zu müssen, wenn man sich stattdessen auch einfach anhören kann, was sich der Gesetzgeber gedacht hat und dann abwägen kann, ob das wirklich die Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit durch Schaffung einer entsprechenden Strafnorm rechtfertigt.
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Re: Vernichtende Rezension

Beitrag von Seeker »

Ja, das sehe ich ähnlich: welchen Mehrwert bietet der Begriff der Verhaltensnorm gegenüber einer regulären verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung?
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Re: Vernichtende Rezension

Beitrag von OJ1988 »

Seeker hat geschrieben: Donnerstag 22. Juli 2021, 08:29 Ja, das sehe ich ähnlich: welchen Mehrwert bietet der Begriff der Verhaltensnorm gegenüber einer regulären verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung?
Der Topos "Verhaltensnorm/Rechtsgut" kann außerhalb einer harten verfassungsrechtlichen Prüfung als kriminalpolitische Leitlinie herhalten: Schützt ein Straftatbestand ein Rechtsgut? Wenn nein bzw. der Gesetzgeber sich in den Materialien in Rechtsgutslyrik versucht ("Integrität des Sports"), sollte man die Ohren spitzen.
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Re: Vernichtende Rezension

Beitrag von Sektnase »

Und wer schafft diese Normen dann? Kann es der Verfassungsgesetzgeber oder ist der auch gebunden?
In einem Umfeld, in dem mittelschwere Hurensöhnigkeit häufig zum Stellenprofil gehört, muss einen nicht wundern, wenn man Scheiße behandelt wird. -Blaumann
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Strich
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Re: Vernichtende Rezension

Beitrag von Strich »

Finde ich auch alles nebulös. Rostalski scheint ja selbst nicht zu wissen, wo diese vorgesetzlichen Verhaltensnormen herkommen. Man kauft sich halt auch ohne Not die ganze Kritik am Naturrecht mit ein, wenn man solche konstruirt. Außerdem finde ich, dass Herzberg dazu eindrucksvoll unter Verweis auf 175 StGB Stellung bezogen hat.
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Re: Vernichtende Rezension

Beitrag von OJ1988 »

Sektnase hat geschrieben: Donnerstag 22. Juli 2021, 08:55 Und wer schafft diese Normen dann? Kann es der Verfassungsgesetzgeber oder ist der auch gebunden?
Das ist die große Frage, an der die ganze (systemkritische) Rechtsgutslehre von Hassemer und Co. zu knappsen hat. Fest steht jedenfalls: Es kann nicht schlichtweg alles irgendwie "Rechtsgut" sein, wenn man unter dem Begriff mehr verstehen will als bloß ein Synonym für den vom Gesetzgeber verfolgten Zweck einer Strafnorm.

Und nein, der Gesetzgeber ist verfassungsrechtlich zumindest nach der Inzest-Entscheidung des BVerfG nicht an die Vorgabe gebunden, jede Strafnorm müsse auch ein wie auch immer zu formulierendes Rechtsgut schützen.
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Re: Vernichtende Rezension

Beitrag von Strich »

Wieso kann der Gesetzgeber nicht neue Rechts(!)güter schaffen, wo er doch unstreitig Recht schaffen kann?
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Re: Vernichtende Rezension

Beitrag von Liz »

Don Quijote im Elfenbeinturm der Strafrechtswissenschaft: „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.“
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Re: Vernichtende Rezension

Beitrag von OJ1988 »

Strich hat geschrieben: Donnerstag 22. Juli 2021, 11:22 Wieso kann der Gesetzgeber nicht neue Rechts(!)güter schaffen, wo er doch unstreitig Recht schaffen kann?
Der Rechtsgutsbegriff der systemkritischen Rechtsgutslehre bezieht sich auf eine dem positiven Recht vorgelagerte, nenn es meinethalben: "naturrechtliche", Normenwelt. Natürlich kann der Gesetzgeber in die Gesetzesmaterialien reinschreiben, welches angebliche Rechtsgut eine Strafnorm schützt. Ob dieses Rechtsgut dann aber materiale Anforderungen an den Rechtsgutsbegriff standhält, die von der Rechtsgutslehre entwickelt wurden (Hassemer, Amelung, Vormbaum sind hier einige Namen), ist eine andere Frage.
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Re: Vernichtende Rezension

Beitrag von gola20 »

Was war zuerst da: Das Rechtsgut/die Verhaltensnorm oder das Gesetz?
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Re: Vernichtende Rezension

Beitrag von Fyrion »

Ob dieses Rechtsgut dann aber materiale Anforderungen an den Rechtsgutsbegriff standhält, die von der Rechtsgutslehre entwickelt wurden (Hassemer, Amelung, Vormbaum sind hier einige Namen), ist eine andere Frage.
Wofür ist die denn relevant? Das scheint mir ein ziemliches Elfenbeimturmdenken zu sein, wie die Einwände "das geht nicht wegen der Ewigkeitsklausel". Als ob die (oder irgendwas) wirklich "ewig" halten würde und es nicht nur ein Wort ist - wie jedes Gesetz und jede Rechtsnorm, das faktisch jederzeit verschwinden oder geändert werden kann. Es sind nur Menschengesetze, keine Naturgesetze.
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