Suchender_ hat geschrieben: ↑Mittwoch 11. März 2020, 16:16
Der Vergleich ist schief. Idealerweise sollte ein Verfassungsrichter entweder spezifische Verfassungsfachkompetenz mitbringen, dann wird die ggf. fehlende "praktische" Erfahrung - deren Bedeutung i.Ü. sehr überschaubar ist - durch die WissMits sowie Erfahrung am BVerfG kompensiert. Oder er sollte zumindest längere obergerichtliche Erfahrung mitbringen - dann verfügt er über das nötige Handwerkszeug, um sich jedenfalls in die ihm noch recht unbekannte Grundrechtsfachmaterie einzuarbeiten.
Wenn aber einem Verfassungsrichter beides fehlt, ist er m.E. auch fehl am Platz. In seiner Rolle soll er echte Fälle (Vorteil: richterliche Erfahrung ) am Maßstab des GG (Vorteil: GG-Kenntnisse) messen, nicht allgemeine Wohlfühlüberlegungen aus dem Bauch heraus gleich einem Schöffen anstellen.
Die praktische Erfahrung ist alles andere als unwichtig, weil es im verfassungsgerichtlichen Alltagsgeschäft doch sehr oft - wenn auch aus anderer Perspektive - um die Bewältigung von Einzelfällen geht. Eine Kompensation ist sicher möglich. Ich habe auch nichts gegen Staatsrechtslehrer als Verfassungsrichter. Ebensowenig gegen Bundesrichter, die ohnehin zwingend dabei sein müssen.
Dass Personen mit anderer beruflicher Sozialisation zwangsläufig "Wohlfühlüberlegungen aus dem Bauch heraus gleich einem Schöffen anstellen" sollen, kann ich dagegen in keiner Weise nachvollziehen. Damit wird die Vielfalt der Perspektiven, die man gerade in größeren Fällen gewinnbringend einführen kann, fundamental unterschätzt. Ich habe schon versucht, das zu skizzieren: Im Staatsorganisationsrecht, für das im Wesentlichen der Zweite Senat (mit Müller) zuständig ist, geht es um genuin politische Auseinandersetzungen, die besser verstehen kann, wer politische Erfahrung hat. Als erfahrener Richter hatte man mit so etwas in der Regel vorher noch nie zu tun, als Staatsrechtslehrer macht man sich davon leicht unrealistische Vorstellungen. Bei der Konkretisierung von Grundrechten können Erfahrungen aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen von Vorteil sein, um die offene Gesellschaft der Grundrechtsinterpreten im Häberleschen Sinne zu repräsentieren. Das Verständnis der Grundrechte erweitert sich m.E., in je mehr Rollen (etwa als Wissenschaftler, Justiz- oder Verwaltungspraktiker, Bürgerrechtler, Anwalt) man mit ihnen zu tun hatte. Da nicht jeder alles machen kann, ist es sinnvoll und hilfreich, wenn diese unterschiedlichen Perspektiven im Senat vertreten sind.
Alle Verfassungsrichter/innen, von denen ich Statements kenne, betonen darum auch unisono den Wert, den die Vielfalt beruflicher Vorerfahrungen für die Diskussionen am Gericht hat. Die "nur langgediente Berufsrichter oder ÖR-Profs"-Haltung hätte demgegenüber dem Gericht angesehene Richterpersönlichkeiten wie Christine Hohmann-Dennhardt, Winfried Hassemer (Prof, aber kein Öffentlich-Rechtler), Jutta Limbach (Prof, aber keine Öffentlich-Rechtlerin), Ernst Benda, Ernst Gottfried Mahrenholz oder Theodor Ritterspach (Berichterstatter des Lüth-Urteils) vorenthalten.