Marktversagen

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Tibor
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Re: Marktversagen

Beitrag von Tibor »

Strich hat geschrieben: Dienstag 31. März 2020, 13:31 Tibor Gretchenfrage zu exakt(!) diesem Problem: Wie hälst dus mit der Homoehe? Wenn das stimmt, was du sagst, dann sperrt m.E. Art 79 Abs. 1 S. 1 GG und Abs. 2 GG eine Auslegung der Verfassung an geänderten gesellschaftlichen Verhältnissen. Karlsruhe schwingt sich dann mit einer an "gesellschaftlichen Änderungen" orientierten Auslegung zum Oligarchen auf. Der mag hier konstitutionell eingekleidet sein (weil man ein bestimmtes Verfahren einhalten muss). Sie verweigern die Mitwirkung der Bevölkerung an der Verfassungsänderung, wenn sie meinen zu erkennen, was alle sowieso wollen. Um in deiner Argumentation zu bleiben: Wie können die 49 % Gegner (jetzt bezogen auf mein Beispiel) der Homoehe wissen, dass sie tatsächlich in der Minderheit waren. Letztlich entscheidet dann aber nicht mehr die Verfassung den Konflikt, sondern die "Erkenntnis" des Herrschers, in diesem Fall das BVerfG bzw. konkreter, die jeweiligen Richter, die entscheiden. M.E. lässt sich das mit de Herrschaft des Rechts auch nicht in Einklang bringen und ich verstehe einfach nicht, wie wir den Geist von Larenz/Canaris nicht loswerden. "Objektive Auslegung" ist das Tor zur Willkür desjenigen, der meint, schlauer als der Gesetzgeber/Verfassungsgeber zu sein.
Nun, das BVerfG ist zumindest teilweise demokratisch legitimiert. Es existiert auch nur so, weil wir gerade eine funktionierende demokratische Legislative haben. Ein totalitäres System wäre gerade darauf angewiesen, weder Legislative noch Verfassungsgericht über der Exekutive zu dulden.

Im konkreten Fall ist die Lösung auch nicht entweder subjektiv-historisch (originalism) oder objektive Auslegung nach einem gedachten Bürgerwillen, sondern sie liegt dazwischen. Natürlich legt das BVerfG nicht nach original meaning aus. Es übte sich aber bisher in sog. judidical self-restraint, um den Verdacht zu vermeiden selbst Politik zu treiben (vgl. BVerfGE 36, 1 und zuletzt die abweichenden Meinungen in BVerfGE 115, 320 oder 125, 260). Ob man sich selbst beschränkt in Karlsruhe ist selbst wieder eine Mehrheitsentscheidung und hängt natürlich von der Überzeugung der einzelnen Richter im Spruchkörper ab. Im konkreten Fall wäre ich gegen eine entsprechende Auslegung von Art. 6 (Ehe = Homoehe). Nach subjektiv historischer Auslegung ist das klar. Nach objektiver Auslegung dürfte es unklar sein, also müsste das Gericht sich in seiner Entscheidung beschränken, wenn die Frage insb. die Bürger in ganz persönlichen Belangen betrifft. Aber auch diese wäre nicht zwingend, denn die Bürger in einer nichtgleichgeschlechtlichen Ehe dürften allenfalls mittelbar von der Öffnung der Ehe zur Homoehe betroffen sein.

EDIT (jetzt erst die Anmerkung von Famulus gesehen): Und eine ganz andere Frage wäre es, ob ein Verstoß eines "einfachen Homoehegesetzes" dann wegen abweichender Auslegung des Art 6 GG "nichtig" sein müsste. Dies würde nämlich zugleich erfordern, dass man zu dem Auslegungsergebnis kommt, dass der "besondere Schutz der staatlichen Ordnung" auch eine Bevorzugung verlangt. Dazu wurde schon viel geschrieben.
Strich hat geschrieben: Dienstag 31. März 2020, 13:31 Erstens ist das Argument zirkulär, weil wir gerade darüber streiten, ob es einen formalen Freiheitsbegriff gibt: Bei dir "schafft" die Demokratie materielle Freiheit, bei mir nicht, sie begünstigt sie allenfalls. Zweitens: Was ist mit dem Gesetz, das Parlement abzuschaffen? Sagen wir, es wurde einstimmig in deinem Fall beschlossen. Entspricht das dann auch deiner Meinung nach der Freiheit der Bürger?
Erstens: Nein, bei mir schafft die Demokratie nicht Freiheit. Demokratie ist ein Teil der "Gesamtfreiheit". Ohne Demokratie ist ein Teil der bürgerlichen Freiheiten nicht vorhanden.
Zweitens: Die Frage ist längst beantwortet; da sie so einschneidend ist, kann diese Frage nicht durch Abgeordnete in mittelbarer Demokratie entschieden werden (siehe Ungarn gestern), vielmehr verlangt auch unser GG deshalb die Einhaltung (Art. 79 Abs. 3 GG) bis zu dem Fall des Art 146 GG, der wohl nur gegeben ist, wenn das Volk mittels direktdemokratischer Entscheidung sich eine neue Verfassung gibt.
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Joshua
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Re: Marktversagen

Beitrag von Joshua »

Das stimmt nicht ganz, Tibor.

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Re: Marktversagen

Beitrag von Joshua »

PerryManson hat geschrieben: Dienstag 31. März 2020, 09:21
Joshua hat geschrieben: Montag 30. März 2020, 19:06 Wichtige Güter müssen immer in ausreichendendem Maße im Inland hergestellt werden, notfalls auch durch staatseigene Betriebe. Alles andere ist ein Verrat an der Bevölkerung.
So wie in der DDR. Da war alles im Übermaß vorhanden. Und der Virus hätte dank des Antifaschistischen Schutzwalls keine Chance gehabt.
Wenn du der Meinung bist, dass der Markt für Schutzmasken, med. Schutzkleidung und Untersuchungshandschuhe so hervorragend funktioniert, stelle dich doch mal bei dem Krankenhaus in deiner Nähe vor und stimme

im Chor mit der BILD (s. hier https://www.bild.de/politik/kolumnen/ko ... .bild.html)

das ausgeleierte Kapitalismusloblied ab. Du wirst dich sicher sehr beliebt machen bei dem Pflegepersonal, das schon heute Masken entgegen der Bestimmungen und unter Inkaufnahme erhöhter Risiken mehrfach verwendet...

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Blaumann
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Re: Marktversagen

Beitrag von Blaumann »

Nach meiner Erinnerung war das Hauptargument hinsichtlich der behaupteten Verfassungswidrigkeit der Homoehe tatsächlich das Privilegierungsgebot aus Art. 6 Abs. 1 GG. Wenn man andere Lebensformen der Ehe rechtlich gleich stellt, dann verletze man die gewollte Privilegierung der Ehe.

Meines Erachtens bereits vom Wortlaut her ein sehr dünnes Argument. Aus der Verpflichtung zu einem besonderen Schutz kann ich schwerlich ableiten, dass andere nicht gleich behandelt werden dürfen. Nur weil es anderen gleich gut geht, geht es mir nicht schlechter.

Anders herum kann ich im Einzelfall aus der besonderen Schutzpflicht eine Verpflichtung zur Sonderbehandlung ableiten, um einen Nachteil abzuwehren.

Zum Beispiel: "Lieber Dienstherr, da ich verheiratet bin, möchte ich nicht versetzt werden. Nimm stattdessen einen unverheirateten Kollegen."

Wenn der unverheiratete (im Sinne des GG) Kollege dann zufällig in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft lebt, könnte ich tatsächlich eine Kollision von Verfassungsrecht und einfachem Recht haben. Nach der Verfassung sind die Eheleute zu privilegieren, nach einfachem Recht gleich zu behandeln.
Joshua
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Re: Marktversagen

Beitrag von Joshua »

Mal nebenbei angemerkt:

Ich finde es schon erstaunlich, wenn manche hier und in dem Corona-Thread behaupten, es wäre nicht zumutbar, med. Ausrüstung für Pandemien wie diese auf Vorrat zu halten, da dies keiner zahlen wolle.

Wenn wir uns allein anschauen, wieviele Produkte unnütz produziert werden, z.B. zig Millionen Smartphones, die von Generation x auf y oft mehr oder weniger nur optisch verändert werden, mit einem Innovatonsgrad gegen Null, von dem Thema Obsoleszenz mal ganz zu schweigen, dazu s. hier:
Grund dafür ist, dass den Geräten häufig von vorherein eine kurze Lebensdauer angedacht wird. Das Fachwort hierfür heißt „Obsoleszenz“ und meint eine geplante, absichtliche Verringerung der Lebensdauer von Produkten. Hinzu kommt, dass Dank technischer Neuerungen fasst jährlich ein „Update“ der Geräte erfolgt, welches jedoch ausschließlich für neuere Modell vorgesehen ist. Das soll Verbraucher zum Kauf eines neuen Geräts animieren.
Quelle: https://start-green.net/aktuelles/nachrichten/wider-der-ressourcenverschwendung/ (Verwaister Link automatisch entfernt)

oder z.T. in Massen entsorgt werden

s. nur hier:
Wie die beiden Medien unter Berufung auf interne Produktlisten, Fotos und Mitarbeiteraussagen berichteten, werden in den deutschen Logistiklagern des Versandhändlers "in großem Umfang" Güter aller Art entsorgt, darunter Kühlschränke, Handys, Matratzen und Möbel. Amazon zerstöre nicht nur unbrauchbare Produkte, sondern auch funktionstüchtige und teilweise neue Artikel. Eine Mitarbeiterin berichtete demnach, dass sie jeden Tag Waren im Wert von mehreren zehntausend Euro vernichtet habe.
Quelle: https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/ ... -1.4009480

ist das Argument, wir könnten es uns nicht leisten, uns unter Vorhaltung auch erheblicher Überkapazitäten bei med. Geräten und Schutzartikeln auf derartige Eventualitäten wie eine Viruspandemie vorzubereiten, kaum haltbar. Wir müssen lediglich einen kleinen Teil umschichten und Verschwendung reduzieren.

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Re: Marktversagen

Beitrag von PerryManson »

Joshua hat geschrieben: Dienstag 31. März 2020, 14:37
Wenn du der Meinung bist, dass der Markt für Schutzmasken, med. Schutzkleidung und Untersuchungshandschuhe so hervorragend funktioniert, stelle dich doch mal bei dem Krankenhaus in deiner Nähe vor
Glaubst du ernsthaft, eine staatliche Plankommission hätte den Mangel an Masken früh erkannt und vorgesorgt? Die privatwirtschaftlichen Hersteller von Schutzkleidung haben das Gesundheitsministerium bereits Anfang Februar gewarnt und kein Gehör gefunden.

https://allgaeu.life/videos_artikel,-bu ... 32276.html (Verwaister Link https://allgaeu.life/videos_artikel,-buchloer-hersteller-von-mundschutzmasken-warnte-schon-vor-wochen-die-regierung-keiner-hoerte-uns-_arid,2332276.html automatisch entfernt)

Ich finde es allgemein erschreckend, wie schnell nunmehr von rechts und links unser freiheitliches System in Frage gestellt wird. Nach dem altbekannten Motto: Das hätte es beim Führer (oder bei Erich) nicht gegeben.
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Re: Marktversagen

Beitrag von Brainiac »

Vieles zum eigentlichen Thread-Thema war schon hiernach gesagt:
arlovski hat geschrieben: Montag 30. März 2020, 19:18 guten abend captain hindsight
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Re: Marktversagen

Beitrag von Freedom »

Liebe Leute also jetzt mal Butter bei die Fische. Ein Eingreifen des Staates in den Markt ist doch nun wahrlich kein Fremdkörper im aktuellen System.

Mal ein paar abstraktere Erwägungen dazu:
Grundsätzlich ist die Annahme ja, dass die unsichtbare Hand des Marktes, also die Profitgier des Einzelnen, kombiniert mit den komparativen Vorteilen des Handels (Vereinfacht ausgedrückt: Jeder sollte das produzieren, was er am besten kann - was mit sich bringt, dass z.B. viele europäische Unternehmen in Fernost produzieren lassen, da der Produktionsfaktor Arbeit dort schlicht viel günstiger ist) für den größtmöglichen Kuchen und damit die maximale Wohlfahrt für alle führt. Sprich: Es werden insgesamt mehr Güter billiger produziert.

Marktversagen und staatliche Eingriffe sind unserem System aber nicht fremd. Der Staat erlässt etwa Beschränkungen bei sensiblen Bereichen - Drogen, Waffen, Medikamente - und nimmt damit in Kauf, dass nicht die maximale Wohlfahrt erreicht wird.

Könnte man Drogen überall kaufen, könnten Produzenten damit Geld verdienen = Steuereinnahmen und Konsumenten könnten sich an den dadurch gewünschten Effekten bereichern. Der Staat nimmt aber eine Abwägung vor und stellt andere, überwiegende Güter - hier die öffentliche Gesundheit - über die bestmögliche Wohlfahrt.

Bei Medikamenten anders, indem ein Medikament der Zulassung bedarf, mithin der Staat einen Maximalpreis festlegt. Auch damit wird nicht die ideale Wohlfahrt erreicht. Bei Waffen ist das auch offensichtlich, viele Menschen würden gerne Waffen kaufen, wir könnten einen völlig neuen Markt erschließen, es würden mehr Waffen produziert, mehr Waffen gekauft, mehr Steuereinnahmen generiert. Anders als beim Drogen-Beispiel bezweifle ich auch, dass, rein wirtschaftlich, der Schaden durch hin und wieder ein paar Schießereien größer wäre, als der Wohlstandsgewinn durch die neue Industrie.

Nun geht es bei der Forderung, hinreichende Reserven an etwas vorzuhalten um einen etwas anderen Sachverhalt, der sich vielleicht besser mit der deutschen Bahn vergleichen lässt. Womöglich wäre ein privates Unternehmen effektiver, also für die Gesamtwirtschaft besser, würde aber höhere Preise verlangen. Aber wir erlauben uns den Luxus von höherer Ineffizienz, weil uns die Beförderung als öffentliches Gut wichtiger ist.

Ebenso versagt der Markt bei sämtlichen öffentlichen Gütern. Ich kann die Landesverteidigung nicht in private Hand geben und sagen: jeder der sich verteidigen lassen will, soll zahlen. Genau wie ich es nicht kann bei Schulen.

Langer Rede kurzer Sinn, es gibt zahlreiche Bereiche, wo der Staat den Markt eben nicht sich selbst überlässt sondern eingreift. Das könnte er hier genauso, indem er einen Staatsbetrieb gründet, der Masken und Desinfektionsmittel herstellt oder indem er ein Unternehmen damit beauftragt, das erhebliche Sicherheitskapazitäten hat und die Krankenhäuser verpflichtet, von dort einzukaufen (Keine Ahnung, schätze mal EU-Beihilfenrecht wäre ein Problem.)

Es ist also keinesfalls so, dass wir gleich in staatlicher Planwirtschaft landen, wenn wir bestimmte Bereiche nicht dem Markt überlassen. Es ist vielmehr ein weicher Übergang, in dem abgewogen werden muss.
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Re: Marktversagen

Beitrag von Brainiac »

Freedom hat geschrieben: Dienstag 31. März 2020, 15:12Nun geht es bei der Forderung, hinreichende Reserven an etwas vorzuhalten um einen etwas anderen Sachverhalt, der sich vielleicht besser mit der deutschen Bahn vergleichen lässt. Womöglich wäre ein privates Unternehmen effektiver, also für die Gesamtwirtschaft besser, würde aber höhere Preise verlangen.
Das Problem der Bahn-Privatisierung ist doch, dass wegen der benötigten, stark begrenzten und kostenintensiven Infrastruktur (insbes. Schienennetz) ein großer Teil vom Wettbewerb abgehalten wird. DAS kann zu Preisverzerrungen führen. Der Vergleich zu so simplen Produkten wie Atemmasken und Desinfektionsmittel, die fast jeder (ohne weiteres) produzieren kann, passt also vorne und hinten nicht. Und selbst, wenn durch Ressourcenvorhaltung alle Probleme auf ewig zu lösen sein sollten, warum sollten dann nicht Vorschriften ggü den Anwendern (Krankenhäusern) zur Vorratshaltung ausreichen?
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Strich
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Re: Marktversagen

Beitrag von Strich »

Ich beschränke mich mal auf Tibor, vielleicht klärt sich der Rest dann.
Ich wollte keine Homoehediskussion lostreten. Mir ist völlig gleich, was der Staat mit seiner Ehe anstellt, man kann die Diskussion bei beliebigen anderen Dingen führen. Das Grundrecht auf Sicherheit und Integrität Datenverarbeitender Systeme fiele mir da spontan noch ein.

Das Argument, das BVerfG sei demokratisch legitimiert, trägt nicht. Es entscheidet über (in den gewählten Beispielsfällen(!)) Grundsatzfragen, die nach seinem eigenen Verständnis (der Wesentlichkeitstheorie) vom unmittelbar legitimierten Gesetzgeber getroffen werden müssen. Und das ist auch richtig.
"Ein totalitäres System wäre gerade darauf angewiesen, weder Legislative noch Verfassungsgericht über der Exekutive zu dulden." Das stimmt als Programmsatz, etwas juristisches kann man dem Argument aber nicht entnehmen, oder?
Tibor hat geschrieben: Dienstag 31. März 2020, 14:19 ...
Im konkreten Fall ist die Lösung auch nicht entweder subjektiv-historisch (originalism) oder objektive Auslegung nach einem gedachten Bürgerwillen, sondern sie liegt dazwischen. Natürlich legt das BVerfG nicht nach original meaning aus. Es übte sich aber bisher in sog. judidical self-restraint, um den Verdacht zu vermeiden selbst Politik zu treiben (vgl. BVerfGE 36, 1 und zuletzt die abweichenden Meinungen in BVerfGE 115, 320 oder 125, 260). Ob man sich selbst beschränkt in Karlsruhe ist selbst wieder eine Mehrheitsentscheidung und hängt natürlich von der Überzeugung der einzelnen Richter im Spruchkörper ab. Im konkreten Fall wäre ich gegen eine entsprechende Auslegung von Art. 6 (Ehe = Homoehe). Nach subjektiv historischer Auslegung ist das klar. Nach objektiver Auslegung dürfte es unklar sein, also müsste das Gericht sich in seiner Entscheidung beschränken, wenn die Frage insb. die Bürger in ganz persönlichen Belangen betrifft. Aber auch diese wäre nicht zwingend, denn die Bürger in einer nichtgleichgeschlechtlichen Ehe dürften allenfalls mittelbar von der Öffnung der Ehe zur Homoehe betroffen sein.
Vielen dank, das reicht mir für deine Sicht der Dinge schon :). Ich verstehe dich also richtig, wenn ich sage, dass eine Beschränkung des Bundesverfassungsgerichts (sei es self restraint oder Vorrang historischer Auslegung) schon notwendig ist, um die Freiheit der Bürger an Mitbestimmung (denn das war unser Ausgangspunkt) zu gewährleisten

@all: reicht das als Erklärung, wie ich zu dem Beispiel Homoehe kam?
Tibor hat geschrieben: Dienstag 31. März 2020, 14:19 ...
Erstens: Nein, bei mir schafft die Demokratie nicht Freiheit. Demokratie ist ein Teil der "Gesamtfreiheit". Ohne Demokratie ist ein Teil der bürgerlichen Freiheiten nicht vorhanden.
Zweitens: Die Frage ist längst beantwortet; da sie so einschneidend ist, kann diese Frage nicht durch Abgeordnete in mittelbarer Demokratie entschieden werden (siehe Ungarn gestern), vielmehr verlangt auch unser GG deshalb die Einhaltung (Art. 79 Abs. 3 GG) bis zu dem Fall des Art 146 GG, der wohl nur gegeben ist, wenn das Volk mittels direktdemokratischer Entscheidung sich eine neue Verfassung gibt.
Zu Erstens:
Dann verstehe ich deine Position leider nicht :(
Tibor hat geschrieben: Aber „das schlechte Gesetz“ entspricht dann der Freiheit der Bürger. Der Erlass dieses Gesetzes ist genau die Auslebung der Freiheit.
Warum bedeutet das nicht, dass der demokratische Prozoess dem schlechten Gesetz das Gütesiegel "Freiheit" aufstempelt?
Zu Zweitens:
Taschenspielerei. Darum ging es gar nicht, deshalb ist die Frage auch nicht beantwortet.
Dann beschließt eben die Art 146 GG Mehrheit die Abschaffung des Parlamentes.
M.E. ist das ein Akt der Unfreiheit (bzw. sehr wahrscheinlich die darauf folgenden Akte). Deiner Ansicht nach eben ein "schlechtes Gesetz", aber demokratisch, daher ok.
Nach meiner Ansicht (Demokratie ist erstmal "Freiheitsneutral") bewerte ich den konkreten Akt, nicht die Art seines Zustandekommens.
Stehe zu deinen Überzeugungen soweit und solange Logik oder Erfahrung dich nicht widerlegen. Denk daran: Wenn der Kaiser nackt aussieht ist der Kaiser auch nackt ... .
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Marktversagen

Beitrag von scndbesthand »

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Re: Marktversagen

Beitrag von Joshua »

Freedom hat geschrieben: Dienstag 31. März 2020, 15:12 Liebe Leute also jetzt mal Butter bei die Fische. Ein Eingreifen des Staates in den Markt ist doch nun wahrlich kein Fremdkörper im aktuellen System.

Mal ein paar abstraktere Erwägungen dazu:
Grundsätzlich ist die Annahme ja, dass die unsichtbare Hand des Marktes, also die Profitgier des Einzelnen, kombiniert mit den komparativen Vorteilen des Handels (Vereinfacht ausgedrückt: Jeder sollte das produzieren, was er am besten kann - was mit sich bringt, dass z.B. viele europäische Unternehmen in Fernost produzieren lassen, da der Produktionsfaktor Arbeit dort schlicht viel günstiger ist) für den größtmöglichen Kuchen und damit die maximale Wohlfahrt für alle führt. Sprich: Es werden insgesamt mehr Güter billiger produziert.

Marktversagen und staatliche Eingriffe sind unserem System aber nicht fremd. Der Staat erlässt etwa Beschränkungen bei sensiblen Bereichen - Drogen, Waffen, Medikamente - und nimmt damit in Kauf, dass nicht die maximale Wohlfahrt erreicht wird.

Könnte man Drogen überall kaufen, könnten Produzenten damit Geld verdienen = Steuereinnahmen und Konsumenten könnten sich an den dadurch gewünschten Effekten bereichern. Der Staat nimmt aber eine Abwägung vor und stellt andere, überwiegende Güter - hier die öffentliche Gesundheit - über die bestmögliche Wohlfahrt.

Bei Medikamenten anders, indem ein Medikament der Zulassung bedarf, mithin der Staat einen Maximalpreis festlegt. Auch damit wird nicht die ideale Wohlfahrt erreicht. Bei Waffen ist das auch offensichtlich, viele Menschen würden gerne Waffen kaufen, wir könnten einen völlig neuen Markt erschließen, es würden mehr Waffen produziert, mehr Waffen gekauft, mehr Steuereinnahmen generiert. Anders als beim Drogen-Beispiel bezweifle ich auch, dass, rein wirtschaftlich, der Schaden durch hin und wieder ein paar Schießereien größer wäre, als der Wohlstandsgewinn durch die neue Industrie.

Nun geht es bei der Forderung, hinreichende Reserven an etwas vorzuhalten um einen etwas anderen Sachverhalt, der sich vielleicht besser mit der deutschen Bahn vergleichen lässt. Womöglich wäre ein privates Unternehmen effektiver, also für die Gesamtwirtschaft besser, würde aber höhere Preise verlangen. Aber wir erlauben uns den Luxus von höherer Ineffizienz, weil uns die Beförderung als öffentliches Gut wichtiger ist.

Ebenso versagt der Markt bei sämtlichen öffentlichen Gütern. Ich kann die Landesverteidigung nicht in private Hand geben und sagen: jeder der sich verteidigen lassen will, soll zahlen. Genau wie ich es nicht kann bei Schulen.

Langer Rede kurzer Sinn, es gibt zahlreiche Bereiche, wo der Staat den Markt eben nicht sich selbst überlässt sondern eingreift. Das könnte er hier genauso, indem er einen Staatsbetrieb gründet, der Masken und Desinfektionsmittel herstellt oder indem er ein Unternehmen damit beauftragt, das erhebliche Sicherheitskapazitäten hat und die Krankenhäuser verpflichtet, von dort einzukaufen (Keine Ahnung, schätze mal EU-Beihilfenrecht wäre ein Problem.)

Es ist also keinesfalls so, dass wir gleich in staatlicher Planwirtschaft landen, wenn wir bestimmte Bereiche nicht dem Markt überlassen. Es ist vielmehr ein weicher Übergang, in dem abgewogen werden muss.
Exakt.

Ich sehe Märkte mittlerweile genauso wie planwirtschaftliche Elemente als "Tools" in einem volkswirtschaftlichen Gesamtkonzept, wobei eine Zweifelsregelung für eine marktmäßige Lösung greift. Wenn nun die Gesamtkosten eines Produkts stark vom Faktor Arbeit abhängen, ist es logisch, dass die Produktion nicht mehr hier stattdfindet.

Dagegen ist per se auch nichts einzuwenden.

Wenn es aber "lebensnotwendige" (klar: diese Def. ist schwierig!) Güter sind, die so aus unserem Zugriffsbereich verschwinden, muss die Frage gestellt werden, ob man die Versorgung mit planwirtschaftlichen Elementen sichert.

Diese können sehr vielfältig sein:

- Errichten von Lagerbeständen; also Festhalten am Markt, aber zeitliches Umgehen von dessen Angebotsnormen;
- Staatl. Verträge mit ausländ. Produzenten, die garantieren, dass im Krisenfall das Gut geliefert wird (praktisch kaum umsetzbar, wenn echte Not herrscht...);
- Subventionierung von Privatbetrieben, die diese Güter hier herstellen;
- Subventionierung der Angestellten in solchen Betrieben;
- Notfallwirtschaftsgesetze, die ermöglichen Unternehmens hier im Krisenfall zur Produktion des fraglichen Guts zu verpflichten (schwer umsetzbar, wenn das Know-How für dieses Gut längst verloren ist);
- Staatseigene Betriebe.

Wer das DDR nennt, darf das gerne tun. Zum Aufsingen des Kapitallobliedes im nahegelegenen KH wurde ja bereits aufgefordert.

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Re: Marktversagen

Beitrag von Joshua »

PerryManson hat geschrieben: Dienstag 31. März 2020, 14:55
Joshua hat geschrieben: Dienstag 31. März 2020, 14:37
Wenn du der Meinung bist, dass der Markt für Schutzmasken, med. Schutzkleidung und Untersuchungshandschuhe so hervorragend funktioniert, stelle dich doch mal bei dem Krankenhaus in deiner Nähe vor
Glaubst du ernsthaft, eine staatliche Plankommission hätte den Mangel an Masken früh erkannt und vorgesorgt? Die privatwirtschaftlichen Hersteller von Schutzkleidung haben das Gesundheitsministerium bereits Anfang Februar gewarnt und kein Gehör gefunden.

https://allgaeu.life/videos_artikel,-bu ... 32276.html (Verwaister Link https://allgaeu.life/videos_artikel,-buchloer-hersteller-von-mundschutzmasken-warnte-schon-vor-wochen-die-regierung-keiner-hoerte-uns-_arid,2332276.html automatisch entfernt)

Ich finde es allgemein erschreckend, wie schnell nunmehr von rechts und links unser freiheitliches System in Frage gestellt wird. Nach dem altbekannten Motto: Das hätte es beim Führer (oder bei Erich) nicht gegeben.
Gruß an das Hufeisen, i.Ü.: Ohne Worte.

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Re: Marktversagen

Beitrag von Theopa »

Joshua hat geschrieben: Dienstag 31. März 2020, 19:05 Wenn es aber "lebensnotwendige" (klar: diese Def. ist schwierig!) Güter sind, die so aus unserem Zugriffsbereich verschwinden, muss die Frage gestellt werden, ob man die Versorgung mit planwirtschaftlichen Elementen sichert.

Diese können sehr vielfältig sein:

- Errichten von Lagerbeständen; also Festhalten am Markt, aber zeitliches Umgehen von dessen Angebotsnormen;
- Staatl. Verträge mit ausländ. Produzenten, die garantieren, dass im Krisenfall das Gut geliefert wird (praktisch kaum umsetzbar, wenn echte Not herrscht...);
- Subventionierung von Privatbetrieben, die diese Güter hier herstellen;
- Subventionierung der Angestellten in solchen Betrieben;
- Notfallwirtschaftsgesetze, die ermöglichen Unternehmens hier im Krisenfall zur Produktion des fraglichen Guts zu verpflichten (schwer umsetzbar, wenn das Know-How für dieses Gut längst verloren ist);
Das Problem ist hier eben die Frage, wie weit man dabei gehen bzw. für wie große Zeiträume man planen möchte. Nehmen wir mal nur die Atemschutzmasken, die einfachen für jeden und die professionellen für Krankenhäuser, Pflegekräfte etc.

Gehen wir mal davon aus, dass wir für aktuelle Situationen täglich 100 Millionen zusätzliche "Billigmasken" bräuchte, also für jeden nur knapp mehr als eine. Das wäre schon wenig, wer weiter arbeiten muss wird sicher 3-4 brauchen um Schmierinfektionen durch eine kontaminierte Maske zu verhindern. Nun planen wir für 100 Tage und schon sind wir bei 10 Milliarden Papiermasken. Diese haben meines Wissens vor der Krise so 30 Cent gekostet (nicht ganz sicher, evtl. weniger), womit wir bei 3 Milliarden Euro landen. Nun lassen wir die Dinger zehn Jahre nutzbar sein, womit wir bei 300 Millionen Euro pro Jahr landen, das aber ohne die Kosten für die dezentrale Lagerung und Logistik. Ich würde sagen, dass insgesamt 400-500 Millionen pro Jahr realistisch wären.

Für die Profi-Masken wäre es im Zweifel (trotz wesentlich niedrigerer Stückzahlen) insgesamt noch mehr, da die Kosten pro Stück höher sind und man sie sicher wesentlich kürzer lagern kann um die Sterilität zu gewährleisten.

Nun hätten wir das aber nicht nur ein Jahr, sondern von 1920 bis 2020 jedes Jahr ausgegeben, wobei es faktisch keinen Fall der Nutzung gab. Eventuell hätte man sie zur Zeiten der Schweinegrippe o.Ä. mal teilweise ausgegeben, ohne dass sie wirklich genutzt worden wären. Was denkst du, wie lange hätte man diesen Posten im Haushalt politisch rechtfertigen können, selbst wenn man den Zweiten Weltkrieg mal ausklammert? Spätestens nach Ende des kalten Krieges (biologische Waffen) wäre Schluss gewesen.

Eine heimische Produktion wäre da eher realistisch, auch da wäre der Rechtfertigungsdruck irgendwann aber zu hoch, gespart werden muss immer.


Man könnte ja z.B. auch darüber nachdenken, nur noch Bauwerke zu genehmigen, die erdbebensicher sind. Es gab hier Erdbeben und kann sie wieder geben. Wie würde das aber ankommen?
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immer locker bleiben
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Re: Marktversagen

Beitrag von immer locker bleiben »

Man bekommt so ein bisschen den Eindruck, dass nötiges Material für das Gesundheitssystem aus dem Ausland hier nur noch sicher ankommt, wenn wir es mit einem Bundeswehr-Sonderkommando ab Werkshalle abholen.
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